Anders als meine Kunden glauben, kann man Sex nicht zu beliebigen Zeiten praktizieren. Jeder hat dafür eine innere Uhr, deren Zeiger auf die innere Uhr seines Partners abgestimmt sein müssen. Das klappt nicht immer. Wer liebt, braucht den Sex nicht, um sich gut zu fühlen. Zwei Menschen, die sich liebhaben, müssen ihre Zeiger geduldig und beharrlich in vielfältigen Rollenspielen aufeinander abstimmen, bis sie begreifen, daß Liebe sehr viel mehr ist als eine Begegnung zweier Körper; es ist eine »Umarmung« von Körper und Seele zugleich.
Alles ist wichtig. Ein Mensch, der sein Leben intensiv lebt, genießt die ganze Zeit, auch ohne Sex. Und wenn er Sex hat, dann geschieht das aus dem Überfluß heraus. Wie bei einem Glas Wein, das so lange gefüllt wird, bis es irgendwann zwangsläufig überläuft. Genauso unausweichlich ist die körperliche Vereinigung, weil der Mensch in diesem Augenblick den Ruf des Lebens annimmt, weil er dann – und nur dann fähig ist, loszulassen, die Kontrolle aufzugeben.
PS: Habe gerade gelesen, was ich da geschrieben habe. Himmel, klingt das intellektuell!
Kurz nachdem sie dies geschrieben hatte und sich auf eine weitere Nacht als >zärtliche Mutter< oder >naive Unschuld< vorbereitete, ging die Tür des >Copacabana< auf, und Terence kam herein.
Milan hinter der Bar wirkte zufrieden: das Mädchen hatte seine Erwartungen nicht enttäuscht. Maria mußte sofort an Terence' Worte denken, die so rätselhaft auf sie gewirkt hatten: »Schmerz, Leid und viel Lust.«
»Ich bin extra aus London herübergeflogen, um dich zu sehen. Ich habe viel an dich gedacht.«
Sie lächelte, versucht e dabei, ihr Lächeln nicht ermutigend wirken zu lassen. Wieder hielt er sich nicht an das Ritual, lud sie weder zu einem Drink noch zum Tanzen ein, setzte sich einfach nur an ihren Tisch.
»Wenn ein Lehrer seiner Schülerin etwas Neues zeigt, entdeckt der Lehrer dabei auch etwas Neues.«
»Ich weiß, wovon du redest«, entgegnete Maria, die an Ralf Hart denken mußte und die bedauerte, daß nicht Ralf, sondern Terence dasaß und sie seine Wünsche respektieren und alles tun mußte, um ihn zufriedenzustellen.
»Willst du weitermachen?«
Tausend Franken. Ein verborgenes Universum. Ein Chef, der sie ansah. Die Gewißheit, daß sie aufhören könnte, wann sie wollte. Das festgelegte Datum ihrer Rückkehr nach Brasilien.
Ein anderer Mann, auf dessen Besuch sie vergebens wartete.
»Hast du's eilig?« fragte Maria.
Er verneinte. Was sie wolle?
»Ich möchte meinen Drink, meinen Tanz, Respekt.«
Er zögerte minutenlang, aber das gehörte zum Rollenspiel, zum Beherrschen und zum Beherrschtwerden. Er spendierte ihr einen Drink, tanzte mit ihr, ließ ein Taxi kommen, gab ihr unterwegs das Geld. Sie hielten vor demselben Hotel. Sie traten ein, er grüßte den italienischen Portier genauso wie in der Nacht, als sie sich kennengelernt hatten. Terence bewohnte auch wieder dieselbe Suite mit Blick auf den Fluß wie beim ersten Mal.
Terence nahm ein Feuerzeug, und erst da bemerkte Maria, daß Dutzende von Kerzen im Raum verteilt waren. Er begann sie anzuzünden.
»Was willst du wissen? Warum ich so bin? Warum du die Nacht offenbar großartig gefunden hast, die wir zusammen verbracht haben? Willst du wissen, ob du auch so bist?«
»Ein brasilianischer Aberglaube besagt, daß man nie mehr als drei Kerzen mit demselben Streichholz anzünden darf. Du hast dagegen verstoßen.«
Er überhörte die Bemerkung.
»Du bist wie ich. Du bist nicht wegen der tausend Franken hier, sondern aus einem Gefühl von Schuld, Abhängigkeit, mangelnder Selbstsicherheit heraus und wegen deiner Komplexe. Es ist weder gut noch schlecht, es liegt in der Natur des Menschen.«
Er nahm die Fernbedienung des Fernsehers, wechselte mehrmals den Kanal, bis er bei einer Nachrichtensendung stehenblieb, in der Flüchtlinge versuchten, einem Krieg zu entkommen.
»Siehst du das? Oder hast du auch schon diese anderen Programme gesehen, in denen Menschen ihre persönlichen Probleme vor aller Welt ausbreiten? Bist du schon mal zum Kiosk gegangen und hast die Schlagzeilen gelesen? Die Welt weidet sich am Leid und am Schmerz. Sadismus des Zuschauers und zugleich Masochismus, weil wir, obwohl wir nicht müssen, uns mit dem Leid der anderen konfrontieren und identifizieren.«
Er goß zwei Gläser Champagner ein, stellte den Fernseher ab und zündete, unbekümmert von Marias Aberglauben, noch mehr Kerzen an.
»Ich sage es noch einmaclass="underline" Es liegt in der Natur des Menschen. Seit wir aus dem Paradies vertrieben worden sind, erfahren wir Leid oder sehen zu, wie andere leiden. Das läßt sich nun mal nicht ändern.«
Draußen donnerte es, ein heftiges Gewitter zog herauf.
»Ich bringe es einfach nicht fertig, mir vorzustellen, daß du mein Meister bist und ich deine Sklavin. Es kommt mir so lächerlich vor. Wir haben diese Rollenspiele nicht nötig, das Leben fügt uns schon genug Leid zu«, sagte Maria.
Terence hatte inzwischen alle Kerzen angezündet, nahm eine, stellte sie mitten auf den Tisch, brachte Kaviar, schenkte Champagner nach. Maria trank hastig, dachte an die tausend Franken, die schon in ihrer Tasche steckten, an das Unbekannte, das sie faszinierte und ihr gleichzeitig angst machte, überlegte, wie sie ihre Angst in den Griff bekommen könnte. Sie wußte, daß mit diesem Mann keine Nacht wie die andere sein würde, fürchtete sich aber nicht.
»Setz dich!«
Die Stimme war bald sanft, bald fordernd und herrisch. Maria gehorchte, und es überlief sie heiß; dieser Befehl war ihr vertraut, sie fühlte sich sicherer.
>Rollenspiel. Ich muß in die Rolle schlüpfen.<
Es tat gut, Befehle zu erhalten. Sie brauchte nicht nachzudenken, nur zu gehorchen. Sie bat um mehr Champagner, er brachte ihr Wodka; der stieg schneller zu Kopf, enthemmte rascher.
Er öffnete die Flasche, Maria trank praktisch allein, während es draußen blitzte und donnerte, als wollte auch der Himmel seine gewalttätige Seite zeigen.
Irgendwann holte Terence einen kleinen Koffer aus dem Schrank und stellte ihn aufs Bett.
»Beweg dich nicht!«
Maria rührte sich nicht. Er öffnete den Koffer und holte Lederriemen und ein Paar Handschellen aus verchromtem Metall heraus.
»Mach die Beine breit!«
Sie gehorchte. Wehrlos, unterwürfig, weil sie es so wollte. Sie merkte, daß er ihr zwischen die Beine schaute, ihren schwarzen Slip sehen konnte, den Strumpfhalter, die Strümpfe, die Schenkel, daß er sich ihre Scham, ihr Geschlecht vorstellte.
»Steh auf!«
Sie sprang auf. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten, sie merkte, daß sie betrunkener war, als sie erwartet hatte.
»Schau mich nicht an! Senk den Kopf, verneige dich vor deinem Meister!«
Noch bevor sie den Kopf senken konnte, nahm sie wahr, wie eine feine Peitsche aus dem Koffer geholt wurde und in der Luft knallte – als hätte sie ein Eigenleben.
»Trink. Halte den Kopf gesenkt, aber trink!«
Sie trank noch mehr Wodka. Das war kein Spiel, kein Theater mehr, sondern Realität: sie hatte nichts mehr im Griff. Sie fühlte sich als Objekt, als Werkzeug, und paradoxerweise gab ihr diese Unterwerfung ein Gefühl vollkommener Freiheit. Sie war nicht mehr die Meisterin, diejenige, die lehrt, tröstet, Bekenntnisse anhört, die Begehren erweckt; sie war nur noch das Mädchen aus der brasilianischen Provinz, das sich vor dem übermächtigen Mann verneigte.
»Zieh dich aus!«
Ein knapper Befehl, der kein Begehren ausdrückte und gerade deshalb erotisch wirkte. Den Kopf ehrerbietig auf die Brust gesenkt, knöpfte Maria ihr Kleid auf und ließ es zu Boden gleiten.
»Du machst alles verkehrt, hörst du?«
Wieder knallte die Peitsche in der Luft.
»Du mußt bestraft werden. Ein großes Mädchen wie du, wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen? Du solltest vor mir knien!«