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Das Mädchen, das gerade gegangen war, hatte alles verstanden. Er fühlte, daß seine Seele ihrer Seele nah war. Doch er war nicht bereit, sich zu verlieben, denn er liebte seine Frau. Aber ihm gefiel der Gedanke, daß er frei war, von einer neuen Beziehung zu träumen.

Er mußte sie nur noch das Schwierigste erleben lassen: sich in die Venus im Pelz zu verwandeln, in die Dominatrix, die Meisterin, die imstande war, erbarmungslos zu demütigen und zu züchtigen. Bestand sie auch diese Probe, so war er bereit, sein Herz zu öffnen und sie hereinzulassen.

Trunken von Wodka und von Lust notierte Maria in ihr Tagebuch:

Als ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich alles. Als ich aufhörte, die zu sein, die ich war, habe ich mich selbst gefunden.

Als ich die Demütigung und die totale Unterwerfung erfahren habe, war ich frei. Ich weiß nicht, ob ich krank bin oder ob alles nur ein Traum war oder nur einmal im Leben geschieht. Ich weiß nur, daß es für mich nicht lebensnotwendig ist, aber ich würde ihn gern noch einmal treffen, das Erlebnis wiederholen, noch weiter gehen, ah ich bisher gegangen bin.

Ich bin ein bißchen erschrocken, wie weh es tat, aber der Schmerz war weniger stark als die Demütigung – er war nur ein Vorwand. In dem Augenblick, in dem ich den ersten Orgasmus hatte – den keiner der vielen Männer in den letzten Monaten in mir erwecken konnte –, fühlte ich mich (paradoxerweise?) Gott näher. Ich erinnerte mich an das, was Terence über den schwarzen Tod gesagt hatte und über die Flagellanten, die ihren Schmerz zur Rettung der Menschheit darbrachten und darin Lust fanden. Ich selbst wollte weder die Menschheit noch ihn retten; ich war einfach nur dort.

Bei der körperlichen Liebe liegt die Kunst in der Kontrolle und im Kontrollverlust.

Diesmal war es kein Rollenspiel. Sie waren tatsächlich zum Bahnhof gegangen. Maria hatte Ralf darum gebeten, weil es dort ihre Lieblingspizza gab. Es konnte nicht schaden, etwas kapriziös zu sein. Ralf hätte einen Tag früher wieder auftauchen sollen, als sie noch eine Frau war, die die Liebe, ein Kaminfeuer, Wein und Begehren suchte. Aber das Leben hatte anders entschieden, und heute war sie schon deshalb den ganzen Tag ohne ihre Übung ausgekommen, sich auf die Geräusche und die Gegenwart zu konzentrieren, weil sie keinen Augenblick an Ralf gedacht und dafür Dinge herausgefunden hatte, die sie viel mehr interessierten.

Was sollte sie mit dem Mann anfangen, der neben ihr saß und eine Pizza verspeiste, die er vielleicht nicht einmal mochte, nur damit Maria ihn anschließend nach Hause begleitete? Als er in den Nachtclub kam und sie zu einem Drink einlud, hatte Maria mit dem Gedanken gespielt, ihm zu sagen, daß sie kein Interesse mehr habe, daß er sich jemand andern suchen solle; andererseits mußte sie unbedingt mit jemandem über die vergangene Nacht reden.

Sie hatte versucht, mit der einen oder anderen Kollegin ins Gespräch zu kommen, die auch >spezielle Freier< bediente, aber keine ließ sich dazu herab, denn die meisten empfanden die gewitzte Maria als potentielle Bedrohung. Von allen Männern, die sie kannte, würde vermutlich nur Ralf Hart sie verstehen, zumal er laut Milan auch ein >spezieller Freier< war. Aber nun blickte er sie mit vor Liebe leuchtenden Augen an, und das machte alles noch schwieriger. Vielleicht war es besser, gar nichts zu sagen. »Was weißt du über Schmerz, Leid und viel Lust?« Sie hatte sich mal wieder nicht beherrschen können.

Ralf sagte: »Ich weiß alles darüber. Aber es interessiert mich nicht.« Die Antwort war schnell gekommen, und Maria war schockiert. Wußten also alle etwas darüber, nur sie nicht? Großer Gott, was war das bloß für eine Welt?

»Ich habe meine Dämonen und meine Schattenseiten kennengelernt«, fuhr Ralf fort. »Ich bin bis zum Grund gegangen, habe alles ausprobiert, nicht nur in diesem Bereich, in vielen and eren Bereichen auch. Dennoch bin ich in der Nacht, in der wir uns zuletzt gesehen haben, über meine Grenzen des Begehrens – nicht des Schmerzes hinausgegangen. Ich bin in die Tiefe meiner Seele hinabgetaucht und weiß, daß ich noch viel vom Leben erwarte.« Er hätte am liebsten gesagt: »Und ein Teil davon bist du, bitte geh diesen Weg nicht weiter.« Aber er traute sich nicht. Statt dessen rief er ein Taxi und bat den Fahrer, sie an den See zu fahren, wo sie eine Ewigkeit zuvor, an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, spazierengegangen waren. Maria wunderte sich über die Bitte, sagte aber nichts, denn obwohl ihr Verstand noch benebelt war von den Ereignissen der vergangenen Nacht, spürte sie instinktiv, daß viel auf dem Spiel stand.

Erst unten an der Seepromenade erwachte sie aus ihrer Benommenheit. Es war noch Sommer, aber nachts schon empfindlich kalt.

»Was wollen wir hier?« fragte sie, als sie aus dem Taxi stiegen. »Der Wind ist frisch, ich werde mich erkälten.«

»Ich habe über das nachgedacht, was du am Bahnhof gesagt hast. Leid und Lust. Zieh deine Schuhe aus.«

Darum hatte sie schon einmal einer ihrer Freier gebeten und schon beim Anblick ihrer Füße eine Erektion bekommen. Sollte das Abenteuer sie nicht in Ruhe lassen?

»Ich werde mich erkälten.«

»Tu, was ich dir sage«, beharrte er. »Du wirst dich nicht erkälten, weil wir nicht lange bleiben werden. Vertrau mir, wie ich dir vertraue.«

Maria hätte es nicht begründen können, aber irgendwie spürte sie, daß er ihr helfen wollte; vielleicht, dachte sie, hatte er Dinge erlebt, die er ihr ersparen wollte. Aber Maria mochte sich nicht helfen lassen; sie war mit ihrer neuen Welt zufrieden, in der, wie sie herausgefunden hatte, der Schmerz kein Problem mehr war. Doch dann dachte sie an Brasilien, daran, daß es unmöglich sein würde, dort einen Partner zu finden, mit dem sie dieses neue Universum teilen könnte. Sie zog die Schuhe aus. Der Boden war mit spitzen Kieselsteinchen bedeckt, die ihre Strümpfe zerrissen – egal, sie konnte sich neue kaufen.

»Zieh die Jacke aus!«

Sie hätte nein sagen können, aber letzte Nacht hatte sie herausgefunden, welche Freude es bedeutete, zu allem ja zu sagen, was ihr begegnete. Sie zog die Jacke aus, ihr Körper war noch warm und reagierte nicht gleich, ließ sie erst nach und nach frösteln.

»Laß uns gehen. Und laß uns dabei miteinander reden.«

»Das geht nicht; der Boden ist zu steinig.«

»Gerade deswegen; ich möchte, daß du diese Steine spürst, möchte, daß sie dir weh tun, weil du offensichtlich – genauso wie ich – Schmerz in Verbindung mit Lust erlebt hast, eine Erfahrung, die ich dir aus der Seele reißen muß.« Maria hätte am liebsten gesagt: >Laß nur. Mir gefällt's.< Doch sie ging langsam, und die spitzen Steinchen brannten unter ihren kalten Fußsohlen.

»Eine meiner Ausstellungen hat mich genau zu dem Zeitpunkt nach Japan geführt, als ich in das verwickelt war, was du >Leid, Demütigung und viel Lust< genannt hast. Damals glaubte ich, es gebe keinen Weg zurück, daß ich nur immer tiefer hineingeraten und von meinem Leben nichts übrigbleiben würde außer dem Wunsch, zu züchtigen und gezüchtigt zu werden. Wir sind schließlich Menschen, wir entwickeln früh Schuldgefühle, haben Angst, wenn das Glück machbar wird, und haben den Drang, die anderen zu bestrafen, weil wir uns ständig ohnmächtig, ungerecht behandelt und unglücklich fühlen. Für seine Sünden bezahlen und die Sünder bestrafen können – ist das nicht köstlich? Ja, das ist wunderbar.«

Maria ging weiter, Schmerzen und Kälte machten es ihr schwer, genau auf seine Worte zu achten. »Du hast Spuren an den Handgelenken.« Die Handschellen. Sie hatte mehrere Armbänder angelegt, um die Spuren zu verbergen. Doch was man kennt, sieht man.