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»Nun, wenn alles, was du in deinem Leben erlebt hast, dich zu diesem Schritt bewogen hat, bin ich der letzte, der dich daran hindern will; aber er hat nichts mit dem wahren Leben zu tun…«

»Welcher Schritt?«

»Schmerz und Lust. Sadismus und Masochismus. Nenne es, wie du willst. Aber wenn du überzeugt bist, daß dies dein Weg ist, werde ich leiden, mich an das Begehren erinnern, an unsere Begegnungen, an den Spaziergang auf dem Jakobsweg, an dein Licht. Ich werde deinen Kugelschreiber in Ehren halten, und jedesmal, wenn ich den Kamin anzünde, werde ich mich an dich erinnern. Aber ich werde dich nicht mehr besuchen.«

Maria bekam Angst, fand, daß der Augenblick gekommen war, einen Rückzieher zu machen, die Wahrheit zu sagen, aufzuhören, so zu tun, als wisse sie mehr als er.

»Was ich vor kurzem, oder vielmehr gestern, erlebt habe, hatte ich bisher noch nie erlebt. Und es erschreckt mich, daß ich an der äußersten Grenze der Entwürdigung mich selbst gefunden habe.«

Ihre Zähne klapperten, ob vor Schmerz oder vor Kälte, vermochte sie nicht zu sagen, und ihre Füße brannten höllisch.

»Zu meiner Ausstellung in einer Region namens Kumano kam ein Holzfäller«, fuhr Ralf unbeirrt fort. »Ihm gefielen meine Bilder nicht, aber er konnte sie deuten und begriff, was ich erlebte und fühlte. Am nächsten Tag kam er zu mir ins Hotel und fragte, ob ich zufrieden sei; wenn ja, könnte ich ruhig so weitermachen. Sonst würde er mich einladen, ihn ein paar Tage zu begleiten. Er hat mich auf Steinen gehen lassen, so wie ich dich. Er hat mich Kälte spüren lassen. Hat mich dazu gebracht, die Schönheit des Schmerzes zu begreifen, nur daß dies ein von der Natur und nicht vom Menschen verursachter Schmerz war. Er sagte, es sei eine Übung des Shugendo, einer jahrhundertealten Religion.

Er sagte auch, daß er den Schmerz nicht fürchte. Um seine Seele zu beherrschen, müsse man auch seinen Körper beherrschen lernen. Und er sagte mir, daß ich den Schmerz falsch benutze und dies sehr schädlich sei. Dieser ungebildete Holzfäller glaubte mich besser zu kennen als ich mich selbst, und das ärgerte mich. Zugleich aber machte es mich stolz, zu sehen, daß meine Bilder so genau ausdrückten, was ich fühlte.«

Maria spürte, wie sich ein ganz besonders spitzer Stein in ihre Fußsohle bohrte, aber die Kälte war stärker als der Schmerz, ihre klammen Glieder waren gefühllos, und sie vermochte Ralfs Worten nicht recht zu folgen. Warum wollten die Männer in Gottes schöner Welt ihr bloß immer nur den Schmerz zeigen? Den heiligen Schmerz, den lustvollen Schmerz, den Schmerz mit oder ohne Erklärungen, immer nur Schmerz, Schmerz, Schmerz…

Sie stieß mit dem verletzten Fuß an einen anderen Stein; sie unterdrückte einen Schrei und ging weiter. Anfangs hatte sie versucht, ihre Selbstbeherrschung, ihre Integrität, all das zu bewahren, was er >Licht< nannte. Aber jetzt bewegte sie sich langsam, während ihre Gedanken im Kreis gingen, so daß ihr davon ganz übel wurde. Sie war drauf und dran stehenzubleiben, nichts davon ergab einen Sinn, und dennoch blieb sie nicht stehen.

Sie blieb aus Selbstachtung nicht stehen; sie hätte so lange weiter barfuß gehen können, wie es notwendig war, es würde nicht ein ganzes Leben lang dauern. Und plötzlich dachte sie: Was ist, wenn ich morgen nicht im >Copacabana< erscheine, wegen einer ernsthaften Fußverletzung oder Grippe und Fieber, weil ich nicht warm genug angezogen war? Sie dachte an die Freier, die auf sie warteten, an Milan, der ihr so sehr vertraute, an das Geld, das sie nicht verdienen würde, an die Farm, an ihre Eltern, die so stolz auf sie waren. Aber vor Schmerz konnte sie nicht weiter nachdenken, und so setzte sie nur brav einen Fuß vor den anderen und wünschte sich sehnlich, Ralf möge endlich ihre Mühen anerkennen und ihr sagen, es sei genug, sie könne ihre Schuhe wieder anziehen.

Doch Ralf wirkte unbeteiligt, weit weg, als könne er sie nur so von der Versuchung befreien, die am Ende tiefere Spuren hinterlassen würde als die Handschellen. Obwohl sie wußte, daß er ihr helfen wollte, und obwohl sie sich bemühte, weiterzugehen und ihm das Licht ihrer Willenskraft zu zeigen, ließ der Schmerz weder profane noch edle Gedanken zu – er war nur Schmerz, nahm allen Raum ein, machte ihr angst und zwang sie, ihre Grenzen wahrzunehmen.

Doch sie tat einen Schritt vorwärts. Und noch einen.

Der Schmerz nahm jetzt ihre Seele in Besitz und schwächte sie, denn es ist eine Sache, in einem Fünfsternehotel nackt, mit Wodka, Kaviar und einer Peitsche zwischen den Beinen etwas Theater zu machen, aber etwas ganz anderes war es, barfuß durch die Kälte über spitze Steine zu gehen. Maria fühlte sich verloren, brachte kein Wort heraus. Ihre Welt bestand nur noch aus kleinen spitzen Steinen, die den Weg zwischen den Bäumen markierten.

Doch in dem Augenblick, als sie aufgeben wollte, erfüllte sie ein merkwürdiges Gefühclass="underline" Sie war an ihre Grenzen gelangt, und dahinter lag ein leerer Raum, in dem sie über sich zu schweben schien und nichts mehr spürte. War dies das Gefühl, das die Büßer empfanden? Am anderen Ende des Schmerzes entdeckte sie eine Tür zu einer neuen Bewußtseinsebene, in der es nur noch unerbittlich waltende Natur gab – und sie selbst, die unbesiegbar voranschritt. Alles um sie herum verschwamm zu einem Traum: der schlechtbeleuchtete Park, der dunkle See, der schweigende Mann, das eine oder andere Pärchen, das achtlos an ihnen vorbeiging und nicht merkte, daß Maria auf bloßen Füßen mühsam dahinhumpelte. War es die Kälte oder der Schmerz? Plötzlich spürte sie ihren Körper nicht mehr, gelangte in einen Zustand, in dem es weder Wünsche noch Angst gab, nur einen – wie sollte sie es nennen? – geheimnisvollen >Frieden<. Die Schmerz-Grenze war nicht ihre Grenze; sie konnte sie überschreiten.

Sie dachte an alle Menschen, die unfreiwillig litten, und da war sie, die sich willentlich Schmerz zufügte – aber das war ihr nicht mehr wichtig, sie hatte die Barriere des Körpers durchbrochen, und jetzt blieb ihr nur noch die Seele, das >Licht<, eine Art Leere – die jemand einst das Paradies genannt hatte. Es gibt gewisse Arten von Schmerz, die man nur vergessen kann, wenn man über sich schwebt.

Als nächstes konnte sie sich nur daran erinnern, daß Ralf sie in den Arm nahm, sein Jackett auszog und es ihr über die Schultern legte. Sie mußte in Ohnmacht gefallen sein; doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war zufrieden, hatte keine Angst mehr – hatte gesiegt. Sie hatte sich vor diesem Mann nicht erniedrigt.

Die Minuten wurden zu Stunden, sie mußte in seinen Armen eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war es noch dunkel, und sie befand sich in einem Zimmer mit einem Fernsehapparat in einer Ecke und sonst gar nichts. Weiß, leer.

Ralf kam mit einer heißen Schokolade.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Du bist da angekommen, wo du hinkommen wolltest.«

»Ich möchte keine Schokolade, ich möchte Wein. Und ich möchte zu unserem Platz vor dem Kamin, zu den überall verstreuten Büchern.«

Unwillkürlich hatte sie >unser Platz< gesagt. Sie sah auf ihre Füße: Außer einer kleinen Schramme hatte sie nur rote Druckstellen, die in wenigen Stunden nicht mehr zu sehen wären. Mühsam stieg sie die Treppe hinunter; sie ging in ihre Ecke, zum Teppich vor dem Kamin – und stellte fest, wie wohl sie sich dort fühlte, als wäre es ihr angestammter Platz hier im Haus.

»Dieser Holzfäller hat mir gesagt, daß, wenn man seinem Körper das Äußerste abverlangt, der Geist dann eine merkwürdige spirituelle Kraft entwickelt, die mit dem >Licht< zu tun hat, das ich in dir gesehen habe. Was hast du gefühlt?«

»Daß der Schmerz der Freund der Frauen ist.«

»Darin liegt die Gefahr.«

»Daß der Schmerz eine Grenze hat.«

»Darin liegt die Rettung. Vergiß das nicht.«