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Eine Hand wandert wieder zur Brust hinauf, wie gut das ist, wie sehr sie sich wünscht, sich in seine Arme zu schmiegen! Aber nein, sie entdecken ihre Körper, haben Zeit, brauchen viel Zeit. Sie könnten sich jetzt lieben, und das wäre nur natürlich und bestimmt schön, aber sie muß sich beherrschen, darf den Zauber dieser Entdeckungsreise nicht zerstören. Sie erinnert sich an den Wein, den sie in der ersten Nacht getrunken hatten, langsam, genießerisch, wie er sie gewärmt hatte, sie die Welt anders sehen ließ, enthemmte.

Sie will diesen Mann genießen wie einen guten Wein und dadurch all den schlechten Wem vergessen, den man in sich hineinkippt, der aber nur betrunken macht und einen mit Kopfschmerzen und einem Gefühl von seelischer Leere zurückläßt.

Sie hält inne, verschränkt sanft ihre Finger mit seinen, hört ihn stöhnen und möchte auch stöhnen, beherrscht sich aber, spürt die Hitze an ihrem ganzen Körper und an seinem genauso. Wenn der Orgasmus ausbleibt, verteilt sich die Energie, geht ins Hirn, läßt einen an nichts anderes denken als daran, bis zum Ende zu gehen. Doch sie will genau dies: aufhören, mittendrin aufhören, die Lust durch den Körper fließen lassen, Geist und Begehren wieder erneuern, wieder Jungfrau sein.

Sie nimmt die Binde von den Augen und löst auch seine. Beide sind nackt, sehen einander einfach nur an, ohne zu lächeln. >Ich bin die Liebe, ich bin die Musik<, denkt sie. >Laß uns tanzen.<

Aber sie sagt es nicht laut. Sie reden über Triviales: Wann treffen wir uns wieder, sie schlägt einen Termin vor, vielleicht in zwei Tagen. Er sagt, er würde sie gern zu einer Vernissage mitnehmen, sie zögert. Das würde bedeuten, seine Welt kennenzulernen, seine Freunde. Und was würden die sagen? Was würden sie denken?

Sie lehnt ab. Aber er merkt, daß sie gern eingewilligt hätte, und er versucht sie zu überreden, mit den verrücktesten Begründungen, die aber Teil des Tanzes sind, den sie jetzt tanzen, und am Ende gibt sie nach, weil es genau das war, was sie wollte. Er schlägt als Treffpunkt das Cafe vor, in dem sie sich kennenlernten. Sie sagt nein, die Brasilianer seien abergläubisch, sie dürften sich nicht zweimal am selben Ort treffen, weil sich der Kreis sonst schließen und alles zu Ende sein könnte.

Er sagt, er sei glücklich, daß sie den Kreis nicht schließen wolle. Sie entscheiden sich für eine Kirche, von der aus man auf die Stadt sehen kann und die am Jakobsweg liegt und Teil dieser geheimnisvollen Wallfahrt ist, die beide machen, seit sie einander begegnet sind.

Aus Marias Tagebuch, am Tag, bevor sie ihr Rückflugticket nach Brasilien kauft:

Es war einmal ein Vogel. Er besaß ein Paar vollkommener Flügel und glänzende, bunte, wunderbare Federn und war dazu geschaffen, frei am Himmel zu fliegen, denen zur Freude, die ihn sahen.

Eines Tages sah eine Frau diesen Vogel und verliebte sich in ihn. Sie schaute mit vor Staunen offenem Mund seinem Flug zu, ihr Herz schlug schneller, ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Er bat sie, ihn zu begleiten, und beide schwebten in vollkommener Harmonie am Himmel. Und sie bewunderte, verehrte, feierte den Vogel.

Aber dann dachte sie: Vielleicht möchte er ferne Gebirge kennenlernen! Und die Frau bekam Angst. Fürchtete, daß sie so etwas mit einem anderen Vogel nie wieder erleben könnte. Und sie wurde neidisch auf den Vogel, der aus eigener Kraft fliegen konnte.

Und sie fühlte sich allein.

Und dachte: >Ich werde dem Vogel eine Falle stellen. Wenn er zurückkommt, wird er nie wieder wegfliegen können.<

Der Vogel, der auch verliebt war, kam am nächsten Tag zurück, ging in die Falle und wurde in einen Käfig gesteckt.

Die Frau schaute täglich nach dem Vogel. Er war ihre ganze Leidenschaft, und sie zeigte ihn ihren Freundinnen, die meinten: »Du hast vielleicht ein Glück.« Dennoch vollzog sich eine merkwürdige Veränderung: Seit sie den Vogel besaß und ihn nicht mehr zu erobern brauchte, begann sie das Interesse an ihm zu verlieren. Der Vogel, der nicht mehr fliegen konnte, was den Sinn seines Lebens ausmachte, wurde schwach, glanzlos, häßlich. Die Frau beachtete ihn nicht mehr, fütterte ihn nur noch und reinigte seinen Käfig.

Eines Tages starb der Vogel. Die Frau war tieftraurig und konnte ihn nicht vergessen. Aber sie erinnerte sich dabei nicht an den Käfig, nur an den Tag, an dem sie den Vogel zum ersten Mal gesehen hatte, wie er fröhlich zwischen den Wolken dahinflog.

Hätte sie genauer in sich hineingeschaut, so hätte sie bemerkt, daß das, was sie am Vogel so sehr begeisterte, seine Freiheit war, sein kräftiger Flügelschlag, nicht sein Körper.

Ohne den Vogel verlor auch für die Frau das Leben seinen Sinn, und der Tod klopfte an ihre Tür. – »Wozu bist du gekommen?« fragte sie den Tod. – »Damit du wieder mit dem Vogel zusammen am Himmel fliegen kannst«, gab der Tod zur Antwort. »Wenn du ihn hättest fliegen und immer wiederkommen lassen, hättest du ihn geliebt und noch mehr bewundert; aber nun brauchst du mich, um ihn wiederzusehen.«

Maria begann den Tag mit etwas, was sie im Geiste schon monatelang durchgespielt hatte: Sie ging in ein Reisebüro und reservierte ein Rückflugticket nach Brasilien für in zwei Wochen, genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender angekreuzt hatte.

Von nun an würde Genf das Gesicht eines Mannes tragen, den sie geliebt und der sie wiedergeliebt hatte. Die Rue de Berne dagegen würde nur eine Straße sein, benannt nach der Hauptstadt der Schweiz. Sie würde sich an ihr Zimmer erinnern, an den See, daran, wie sie Französisch gelernt hatte, an all die Verrücktheiten, die ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen macht (sie hatte am Tag zuvor Geburtstag gehabt), bis sie begreift, daß es eine Grenze gibt.

Sie würde den Vogel nicht einsperren, ihm aber auch nicht vorschlagen, sie nach Brasilien zu begleiten; er verkörperte das einzig wirklich Reine, das ihr je begegnet war. Ein solcher Vogel mußte frei fliegen können und von der Sehnsucht nach einer Zeit zehren, in der er mit seiner Gefährtin zusammen geflogen ist. Aber sie war ein solcher Vogel; Ralf Hart an ihrer Seite zu haben würde bedeuten, immer an die Zeit im >Copacabana< erinnert zu werden. Und das war ihre Vergangenheit, nicht ihre Zukunft.

Sie beschloß, sich erst am Tag ihrer Abreise zu verabschieden, sonst müßte sie zu oft daran denken, daß sie bald nicht mehr hier sein würde. Also betrog sie ihr Herz und ging an jenem Morgen durch Genf, als wäre sie immer durch diese Straßen, auf den Altstadthügel, über den Jakobsweg, die Mont-Blanc-Brücke, in die Cafes gegangen, in denen sie inzwischen Stammgast war. Sie schaute dem Flug der Möwen zu, den Gemüse- und Obsthändlern, die ihre Marktstände abbauten, den Angestellten, die zum Mittagessen aus ihren Büros strömten; genießerisch biß sie in einen schönen Apfel, blickte auf den Regenbogen in der Wassersäule, die mitten aus dem See aufstieg, beobachtete die verstohlenen, fröhlichen Blicke der Leute, die an ihr vorbeikamen, Blicke voller Begehren, leere Blicke – einfach Blicke. Sie hatte fast ein Jahr lang in einer Stadt gelebt, wie es viele gab auf der Welt und die ohne ihre besondere Architektur und die unverhältnismäßig zahlreichen Bankenschilder ebensogut in Brasilien hätte liegen können. Es gab einen Jahrmarkt. Es gab feilschende Hausfrauen und Schüler, die unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand Vater krank, Mutter pflegebedürftig – die Schule schwänzten und nun Arm in Arm mit ihrer Liebsten auf der Seepromenade spazierengingen. Es gab Leute, die sich heimisch fühlten, und solche, die sich fremd fühlten. Es gab Skandalblätter und ernsthafte Zeitschriften für Geschäftsleute (die man allerdings nur bei der Lektüre der Skandalblätter antraf).