Sie ging in die Bibliothek, um das Handbuch über Landwirtschaft zurückzubringen. Sie hatte nichts verstanden, aber dieses Buch hatte sie immer in den Augenblicken, in denen sie glaubte, die Kontrolle über sich und ihr Schicksal zu verlieren, an ihr Lebensziel erinnert. Es war ihr stiller Begleiter gewesen – ein gelber, schmuckloser Umschlag, ein paar Grafiken –, ein Leuchtturm in den dunklen Nächten der letzten Wochen.
>Immer schmiede ich Pläne für die Zukunft! Und dann werde ich doch jedes Mal aufs neue von der Gegenwart überrumpelt!< sagte sie zu sich selbst. Zuerst hatte sie sich in der Verzweiflung, dann in der Unabhängigkeit gefunden, dann in der Liebe, später im Schmerz und nun erneut in der Liebe hoffentlich blieb es dabei!
Doch während einige ihrer Arbeitskolleginnen über die Vorzüge bestimmter Männer und über das Glück redeten, das sie im Bett erlebten, hatte sie selbst in all diesen Monaten nicht herausgefunden, was denn nun das Beste oder Schlechteste am Sex war. Sie hatte ihr Problem nicht gelöst: Sie gelangte durch Penetration nicht zum Orgasmus, und der Geschlechtsakt war für sie zu etwas so Banalem verkommen, daß sie in dieser >Umarmung des Wiederfindens< (wie Ralf es nannte) vielleicht nie das Feuer und das Glück finden würde, das sie suchte.
Oder brauchte es vielleicht auch Liebe, damit man Lust im Bett empfand, wie es in sehr vielen Romanen zu lesen stand?
Die sonst so ernste Bibliothekarin (die sie als ihre einzige Freundin betrachtete, obwohl sie es ihr niemals gesagt hatte) war an diesem Tag ungewöhnlich fröhlich und gut gelaunt. Als Maria kam, hatte sie gerade Mittagspause und lud sie ein, ein Sandwich mit ihr zu teilen. Maria dankte und sagte, sie habe schon gegessen.
»Sie haben lange für das Buch gebraucht.«
»Ich habe nichts verstanden.«
»Wissen Sie noch, worum sie mich anfangs gebeten haben?«
Nein, Maria erinnerte sich nicht, doch als sie das maliziöse Lächeln der Frau sah, konnte sie sich vorstellen, um welches Thema es gegangen war. Sex.
»Wissen Sie, nachdem Sie gekommen waren und Bücher über Sex gesucht hatten, habe ich unsere Bestände zu diesem Thema durchgesehen. Viel war nicht vorhanden, und da wir auch zur Bildung unserer Jugend beitragen sollen, habe ich einige Bücher bestellt. Das ist eine bessere Aufklärung, als wenn die jungen Leute beispielsweise zu Prostituierten gehen.«
Die Bibliothekarin wies auf einen Stapel Bücher in einer Ecke, alle ordentlich in graues Papier eingeschlagen.
»Ich hatte noch keine Zeit, sie einzuordnen, aber ich habe immer mal wieder einen Blick hineingeworfen und war entsetzt über das, was ich gefunden habe.«
Maria konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt kommen würde: unbequeme Stellungen, Sadomasochismus und derlei Dinge. Sie sollte besser gehen. Aber unter welchem Vorwand? Sie wußte nicht mehr, ob sie gesagt hatte, daß sie in einer Bank oder in einer Boutique arbeitete. Lügen war so anstrengend.
»Sie wären bestimmt auch entsetzt. Wußten Sie beispielsweise, daß die Klitoris erst kürzlich entdeckt wurde?«
Kürzlich wohl kaum. Ralf Harts Hände schienen sich trotz der Dunkelheit auf dem Terrain gut auszukennen.
»Sie wurde offiziell 1559 anerkannt, nachdem der Arzt Realdo Columbo ein Buch mit dem Titel De re anatomica veröffentlicht hatte, in dem er sie als >ein hübsches, nützliches Ding< beschreibt. Stellen Sie sich das mal vor.« Beide lachten.
»Zwei Jahre darauf, 1561, nahm ein anderer Arzt, Gabriele Fallopio, die Entdeckung für sich in Anspruch. Also wirklich! Da diskutieren zwei Männer – Italiener natürlich, die verstehen etwas davon – darüber, wer offiziell die Klitoris in die Weltgeschichte eingebracht hat.«
So interessant das alles war: Maria wollte nichts mehr hören, zumal sie spürte, wie ihr Geschlecht naß wurde allein bei dem Gedanken an die Berührung, die Augenbinde, die Hände, die über ihren Körper wanderten. Nein, sie war nicht tot für den Sex, dieser Mann hatte sie irgendwie erlöst. Wie gut es war, lebendig zu sein!
Die Bibliothekarin redete weiter: »Aber sogar, nachdem sie >entdeckt< worden war, wurde die Klitoris nicht geachtet. Die Verstümmelungen, von denen die Zeitungen berichten und durch die bestimmte Stämme in Afrika noch heute ihren Frauen das Recht auf Lust absprechen, sind nichts Neues. Auch in Europa wurde im neunzehnten Jahrhundert bei vielen Frauen die Klitoris operativ entfernt, weil man glaubte, in diesem kleinen, unbedeutenden Teil der weiblichen Anatomie liege die Quelle von Hysterie, Epilepsie, Promiskuität, Unfruchtbarkeit.«
Maria streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden, aber die Bibliothekarin redete unbeirrt weiter.
»Noch schlimmer ist, daß der liebe Doktor Freud, der Entdecker der Psychoanalyse, gesagt hat, der weibliche Orgasmus müsse sich bei einer normalen Frau von der Klitoris zur Vagina bewegen. Seine getreuesten Schüler gingen später sogar so weit zu behaupten, es sei ein Zeichen von Infantilität, wenn die sexuelle Lust auf die Klitoris beschränkt bliebe, oder schlimmer noch, ein Zeichen von Bisexualität. Dabei wissen wir doch alle, wie schwierig es ist, nur durch Penetration zum Orgasmus zu kommen. Es ist schön, von einem Mann genommen zu werden, aber die Lust steckt in diesem kleinen Körnchen, das ein Italiener entdeckt hat!«
Dann hatte Freud ihr Problem also bereits diagnostiziert und ihre Sexualität als infantil beschrieben, denn Marias Orgasmus hatte sich nicht in die Vagina begeben. Oder sollte etwa Freud sich geirrt haben?
»Und der G-Punkt, was meinen Sie dazu?«
»Wissen Sie, wo der sitzt?«
Die Frau errötete, hustete, druckste herum: »Gleich, wenn Sie hereinkommen, im ersten Stock, Fenster ganz hinten.«
Genialer Vergleich! Die Vagina als Gebäude! Vielleicht hatte sie ja diese Erklärung in einem dieser reichbebilderten Aufklärungsbücher für junge Mädchen gefunden. Das Bild: Ein Mann klopft an, tritt ein, entdeckt in dem Mädchenkörper ein ganzes Universum.
Sie selbst hatte beim Masturbieren immer diesen G-Punkt der Klitoris vorgezogen, da er bei ihr ein eigenartig beklemmendes Gefühl, eine Mischung aus Lust und Qual hervorrief. Sie ging immer direkt in den ersten Stock, zum Fenster ganz hinten!
Als ihr klar wurde, daß die Frau nicht aufhören würde zu reden – vielleicht weil sie in Maria eine Seelenverwandte vermutete, der sie ihr verpaßtes Sexualleben erzählen könnte –, winkte sie ihr wortlos zu und ging hinaus.
Maria hatte keine Lust, ins >Copacabana< zurückzukehren, und dennoch fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, ihre Arbeit zu Ende zu führen. Sie konnte nicht sagen, warum – schließlich hatte sie genug angespart. An diesem Nachmittag konnte sie noch ein paar Einkäufe machen, mit dem Geschäftsführer der Bank reden, der ihr Kunde war und ihr versprochen hatte, sie in Bankdingen zu beraten. Sie könnte einen Kaffee trinken, ein paar Habseligkeiten per Post nach Hause schicken, die nicht mehr in ihre Koffer paßten. Sie fühlte sich bedrückt und wußte nicht, warum, vielleicht, weil die Abreise in zwei Wochen nun definitiv feststand. Sie mußte diese Zeit herumbringen, die Stadt mit anderen Augen sehen, sich darüber freuen, daß sie dies alles erlebt hatte.
Sie kam an eine Kreuzung, die sie schon hundertmal überquert hatte und von der aus sie den See sehen konnte, die Wassersäule und vorn an der Uferpromenade die Blumenuhr, eines der Wahrzeichen der Stadt, und diese Uhr ließ nicht zu, daß sie log, weil…
Plötzlich stand die Zeit still, die Welt.
Was hatte es bloß mit dieser Geschichte einer wiedererlangten Jungfräulichkeit auf sich, die sie seit dem Aufwachen heute früh beschäftigte?
Die Welt war wie eingefroren, die Uhrzeiger gingen nicht weiter. Maria stand vor etwas Ernstem und sehr Wichtigem in ihrem Leben. Sie durfte nicht vergessen, es nicht machen wie mit ihren nächtlichen Träumen, die sie immer aufschreiben wollte und an die sie sich nie erinnerte…