Sie hob das Geld bis auf den letzten Rappen ab, steckte alles in ein eigens dafür gekauftes Täschchen, das sie sich unter der Kleidung um die Taille schnallte.
Dann ging sie ins Re isebüro, um ihr Ticket abzuholen. Sie betete, daß sie den Mut haben möge, ihr Vorhaben zu Ende zu führen: Ihre Maschine würde morgen in Paris zwischenlanden, wo sie umsteigen mußte. Das machte nichts – wichtig war, daß sie möglichst weit weg war, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Sie ging zur Mont-Blanc-Brücke, kaufte sich trotz des kalten Wetters ein Eis. Plötzlich sah sie Genf mit anderen Augen, nicht wie jemand, der dort wohnte, sondern als wäre sie eben erst angekommen und machte nun einen ersten Rundgang durch die Museen, historischen Gebäude und die Bars und Restaurants, die gerade in Mode waren. Merkwürdig, wie man solche Rundgänge immer aufschiebt, wenn man in einer Stadt lebt, bis man wegzieht und dann ist es zu spät.
Sie sagte sich, daß sie zufrieden sein sollte, weil sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie sagte sich, daß sie eigentlich auch traurig sein müßte, weil sie eine Stadt verließ, in der es ihr so gutgegangen war. Doch sie war weder zufrieden noch richtig traurig. Sie vergoß ein paar Tränen, und es beschlich sie wieder die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, obwohl sie doch intelligent war und alle Voraussetzungen erfüllte, um Erfolg zu haben.
Sie drückte sich die Daumen, daß sie es diesmal richtig machte.
Die Kirche war vollkommen leer, als sie eintrat, und sie konnte ungestört die schönen Glasfenster betrachten, durch die gleißendes, von den Stürmen der vergangenen Nacht gereinigtes Tageslicht hereinfiel. Vor ihr auf dem Altar stand ein nacktes Kreuz: kein Folterinstrument mit dem gekreuzigten Christus, sondern ein Symbol der Auferstehung. Dies war ein Kreuz, das seinen Schrecken verloren hatte. Unwillkürlich mußte sie an die Peitsche in der Gewitternacht denken und fragte sich entsetzt: >Mein Gott, wie komme ich bloß darauf?<
Sie war auch erleichtert, keine Bilder von Heiligen mit Wundmalen zu entdecken. Es war einfach ein Ort, an dem sich Menschen zusammenfanden, um gemeinsam ein Mysterium anzubeten.
Sie ging zum Tabernakel, in dem der Körper Jesu verwahrt wurde, an den sie noch glauben konnte, obwohl sie lange nicht an ihn gedacht hatte. Sie kniete nieder und gelobte Gott, der Heiligen Jungfrau, Jesus und allen Heiligen, daß sie es sich nicht anders überlegen und auf jeden Fall abreisen würde, was immer der heutige Tag bringen möge denn sie kannte die Fallstricke der Liebe zu gut und wußte, wie wankend sie den Willen einer Frau machen konnten.
Kurz darauf spürte sie, wie eine Hand ihre Schulter berührte, und neigte den Kopf zur Seite, bis sie die Hand an der Wange spürte.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte sie mit fester Stimme. »Sehr gut. Laß uns einen Kaffee trinken gehen.«
Hand in Hand gingen sie hinaus, wie ein Liebespaar, das sich nach langer Trennungszeit wiedersieht. Sie küßten sich ungeniert vor allen Leuten, die sie zum Teil empört anstarrten, lächelten über das Unbehagen, das sie hervorriefen, und die geheimen Wünsche, die sie mit ihrem ungehörigen Benehmen weckten. Sie wußten, daß sie genau das taten, was die andern selbst gern getan hätten. Allein das war skandalös.
Sie gingen in ein beliebiges Cafe, das an diesem Nachmittag nur deshalb anders war, weil sie beide dort waren und weil sie sich liebten. Sie redeten über Genf, die Schwierigkeiten der französischen Sprache, die Kirchenfenster, die Schädlichkeit des Rauchens – beide rauchten und hatten nicht die geringste Absicht, das Laster aufzugeben.
Sie bestand darauf, den Kaffee zu bezahlen, und er nahm die Einladung an. Sie gingen zur Vernissage, sie lernte seine Welt kennen, die Künstler, die Reichen, die reicher als reich, und die Millionäre, die arm wirkten; Leute, die sich für Dinge interessierten, von denen sie keine Ahnung hatte. Ralf sagte, er wolle abends ins >Copacabana< kommen, um sie zu treffen. Sie bat ihn, es nicht zu tun, da sie die Nacht frei habe und ihn gern zum Abendessen einladen würde.
Er nahm die Einladung an, sie verabredeten sich bei ihm zu Hause, um dann in einem netten Restaurant an dem kleinen Dorfplatz von Cologny zu Abend zu essen.
Dann fiel Maria ihre einzige Freundin ein, und sie beschloß, in die Bibliothek zu gehen, um sich von ihr zu verabschieden.
Sie blieb eine ganze Weile im Verkehr stecken, weil eine Kurdendemonstration die Innenstadt lahmlegte. Es machte ihr nichts aus, schließlich hatte sie jetzt alle Zeit der Welt.
Kurz vor Feierabend kam sie in der Bibliothek an. Die Bibliothekarin freute sich, sie zu sehen.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich immer gleich so persönlich werde. Ich habe keine Freundin, mit der ich diese intimen Dinge sonst besprechen könnte«, sagte sie.
Diese Frau hatte keine Freundin? Ausgerechnet sie, die so lange schon in Genf lebte, tagsüber so unterschiedliche Menschen traf, sollte niemanden haben, mit dem sie reden konnte? Da hatte sie ja endlich jemanden getroffen, dem es ging wie ihr – oder, besser gesagt, jemanden, dem es ging wie allen Menschen.
»Ich habe über das nachgedacht, was ich über die Klitoris gelesen habe…«
>Nein! Konnte es nicht etwas anderes sein?<
»Und darüber, daß ich selten einen Orgasmus gehabt habe, wenn ich mit meinem Mann schlief, obwohl ich es mit ihm immer sehr genoß. Finden Sie das normal?«
»Finden Sie normal, daß die Kurden jeden Tag demonstrieren? Daß verliebte Frauen vor ihrem Märchenprinzen fliehen? Daß Menschen von Farmen träumen, anstatt an Liebe zu denken? Daß Männer und Frauen ihre Zeit verkaufen, ohne sie wieder zurückkaufen zu können? Und doch ist es so. Wie ich das finde, interessiert niemand, denn es ist ja normal. Alles, was gegen die Natur ist, gegen unsere innersten Wünsche. All das ist in unseren Augen normal, obwohl es in Gottes Augen eine Verirrung ist. Wir suchen unsere Hölle, haben Jahrtausende gebraucht, um sie zu schaffen, und nach vielen Mühen können wir jetzt auf die allerschlechteste Art leben.«
Maria starrte die Bibliothekarin an. Zum ersten Mal traute sie sich, sie nach ihrem Vornamen zu fragen; bis jetzt hatten sie sich immer gegenseitig mit Madame angesprochen. Die Bibliothekarin hieß Heidi, war dreißig Jahre verheiratet gewesen, und diese Frau – Maria konnte es nicht fassen – hatte sich all diese Jahre kein einziges Mal gefragt, ob es normal war, während des Geschlechtsverkehrs mit ihrem Mann keinen Orgasmus zu haben.
»Ich weiß nicht, ob ich das alles hätte lesen sollen!« meinte die Bibliothekarin. »Vielleicht wäre es besser gewesen, das alles nicht zu wissen und weiterhin zu glauben, daß ein treuer Ehemann, eine Wohnung mit Seeblick und eine Anstellung beim Staat alles ist, wovon eine Frau träumen kann. Erst seit Sie hier aufgetaucht sind und seit ich die ersten Bücher über Sex gelesen habe, mache ich mir so viele Gedanken über mein Leben und darüber, was ich daraus gemacht habe. Geht es etwa allen so?«
»Und ob es allen so geht!« Maria fühlte sich plötzlich sehr welterfahren.
»Darf ich Ihnen noch etwas dazu sagen?«
Maria nickte.
Die Bibliothekarin fuhr fort: »Sie sind natürlich noch zu jung, um diese Dinge zu verstehen, aber gerade deshalb möchte ich etwas von mir erzählen, damit Sie nicht die gleichen Fehler machen wie ich. Wieso hat mein Mann nie auf die Klitoris geachtet? Er war der Meinung, daß der Orgasmus in der Vagina stattfindet, und ich habe mir Mühe, wirklich große Mühe gegeben, so erregt zu tun, wie er es von mir erwartete. Natürlich empfand ich Lust, aber eine ganz andere Lust. Nur wenn die Reibung am oberen Teil… Sie verstehen, was ich meine?«