Noch bevor sie ihn mit einer höflichen Ausrede wieder wegschicken konnte, begann er zu sprechen. Er sagte, er sei Schriftsteller. Er sei zu einer Podiumsdiskussion eingeladen gewesen, und nun würde er wegen der Lawine sein Flugzeug verpassen. Ob sie ihm helfen könne, ein Hotel zu suchen, wenn sie in Genf angekommen seien?
Sie schaute ihn an: Wie konnte jemand, der in einem ungemütlichen Bahnhof stundenlang auf eine Zugverbindung wartete und außerdem wußte, daß er sein Flugzeug verpaßte, so gut gelaunt sein?
Der Mann redete mit ihr, als wären sie alte Freunde. Er erzählte von seinen Reisen, von seiner Schriftstellerei und, zu ihrem Entsetzen, von den vielen Frauen, die er ge liebt hatte und denen er in seinem Leben begegnet war. Sie selbst nickte nur, während er unbeirrt weiterredete. Hin und wieder unterbrach er sich, bat sie, doch auch einmal von sich zu erzählen, doch sie antwortete nur: >Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, an mir ist nichts Besonderes.<
Plötzlich ertappte sie sich dabei, wie sie wünschte, der Zug möge niemals kommen. Das Gespräch war hochinteressant, sie erfuhr Dinge, über die sie bislang nur in Romanen gelesen hatte. Und da sie den Schriftsteller nie wiedersehen würde, faßte sie sich ein Herz und begann ihn über Themen auszufragen, die sie interessierten. Sie durchlebte damals in ihrer Ehe gerade eine schwierige Phase, ihr Ehemann wollte sie immer um sich haben, und sie wollte wissen, wie sie ihn glücklich machen könnte. Der Schriftsteller machte einige interessante Vorschläge, schien aber nicht gern über ihren Mann reden zu wollen.
»Sie sind eine sehr interessante Frau«, sagte er. Das hatte seit vielen Jahren niemand mehr zu ihr gesagt.
Sie wußte nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Er bemerkte ihre Verwirrung, wechselte das Thema und begann von Wüsten, Bergen, versunkenen Städten und verschleierten Frauen mit nacktem Bauch zu erzählen, von Kriegern, Piraten und weisen alten Männern.
Der Zug kam. Sie setzten sich nebeneinander, und plötzlich war sie nicht mehr die verheiratete Frau mit einer Villa am See, drei Kindern, die sie großziehen mußte, sondern eine Abenteuerin, die zum ersten Mal in Genf ankam. Sie schaute auf die Berge, den Fluß und fühlte sich glücklich neben einem Mann, der sie erobern wollte (alle Männer wollen nur das eine) und alles daransetzte, um sie zu beeindrucken. Sie dachte daran, wie viele Männer sie möglicherweise hatten erobern wollen und daß sie ihnen nie die geringste Chance gegeben hatte. Aber an diesem Morgen war die Welt wie verwandelt gewesen, und sie war ein junges, achtunddreißigjähriges Mädchen, das staunend zuließ, daß ein Mann sie verführte.
Da tauchte im vorzeitigen Herbst ihres Lebens, als sie nichts Neues mehr erwartete, dieser Mann auf einem Bahnsteig auf und trat, ohne anzuklopfen, in ihr Leben. Sie stiegen in Genf aus, und sie fand ein Hotel für ihn (ein einfaches, denn er wollte noch am Abend abreisen und keine weitere Nacht in der sündhaft teuren Schweiz verbringen). Er bat sie, mit ihm hinaufzugehen und nachzusehen, ob das Zimmer in Ordnung sei, und sie wußte, was gemeint war, ging aber trotzdem mit. Sie schlossen die Tür, küßten sich heftig und voller Begehren, er riß ihr die Kleider vom Leib, und – mein Gott! – er kannte den weiblichen Körper, weil er das Leiden und die Frustrationen vieler Frauen kannte.
Sie liebten sich den ganzen Nachmittag, und erst als es dunkel wurde, verflog der Zauber, und sie sprach den Satz aus, den sie am liebsten sofort wieder zurückge nommen hätte: »Ich muß nach Hause. Mein Mann wartet auf mich.«
Er zündete eine Zigarette an. Sie schwiegen minutenlang, und keiner von beiden sagte adieu. Heidi erhob sich und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinaus, denn sie wußte, jeder Satz würde der falsche sein. Sie würde den Schriftsteller niemals wiedersehen. Ihm hatte sie es zu verdanken, daß sie ein paar Stunden lang nicht mehr die treue Ehefrau, Hausfrau, liebevolle Mutter, vorbildliche Beamtin, beständige Freundin, sondern einfach nur Frau gewesen war. Ihr Mann, der sehr wohl merkte, daß etwas vorgefallen war, fand, sie sei plötzlich soviel fröhlicher oder auch trauriger, er könne es nicht beschreiben. Doch ein paar Tage später war alles wieder wie vorher.
>Schade, daß ich dem Mädchen das nicht erzählt habe<, sagte sie sich. >Doch sie hätte es sicher nicht verstanden, denn sie lebt noch in einer Welt, in der die Menschen einander treu sind und Liebesschwüre auf ewig gelten.<
Aus Marias Tagebuch:
Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er an diesem Abend die Tür aufmachte und mich mit meinen beiden Koffern dastehen sah.
»Keine Angst«, sagte ich sofort, »ich will nicht hier einziehen. Laß uns essen gehen.«
Er hat mir kommentarlos geholfen, das Gepäck hineinzutragen. Er hat weder >Hallo< noch >Wie schön, daß du da bist< gesagt. Er hat mich einfach gepackt, mich geküßt, angefangen, mich zu streicheln, meine Brüste, mein Geschlecht, am ganzen Körper, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet und als wüßte er, daß dies vielleicht die letzte Gelegenheit sei.
Er hat mir den Mantel ausgezogen, das Kleid, mich nackt ausgezogen, und dort in der Eingangshalle, in der kalten Zugluft, haben wir uns ohne irgendein Ritual oder Vorspiel zum ersten Mal richtig geliebt. Ich überlegte noch, ihm zu sagen, er solle aufhören, wir sollten es uns bequemer machen, wir hätten doch alle Zeit, um unsere Sinnlichkeit zu erforschen. Aber zugleich wollte ich ihn in mir haben, weil er der Mann war, den ich niemals besessen hatte und wohl nie besitzen würde und gerade deshalb mit all meiner Kraft lieben konnte. Zumindest eine Nacht wollte ich das haben, was ich nie zuvor gehabt hatte und wahrscheinlich nie wieder haben würde.
Er legte mich auf den Boden, drang in mich ein, noch bevor ich ganz naß war, aber der Schmerz störte mich nicht, im Gegenteil, mir gefiel es so, denn er sollte merken, daß ich sein war und er mich nicht vorher fragen mußte. Jetzt war nicht der Augenblick, ihm irgend etwas beizubringen oder ihm zu zeigen, daß ich sensibler, sinnlicher war als andere Frauen. Jetzt ging es nur darum, ja zu sagen, daß er willkommen war, daß ich darauf gewartet hatte und freudig akzeptierte, daß er alle zwischen uns abgemachten Regeln mißachtete. Jetzt sollten nur unsere Triebe uns leiten, der männliche und der weibliche. Wir hatten die konventionellste aller Stellungen eingenommen – ich unten und er oben –, und ich spielte ihm nichts vor, stöhnte nicht. Ich sah ihn nur an, um mich später an jede einzelne Sekunde erinnern zu können. Ich wollte sehen, wie sein Gesicht sich veränderte, ich wollte spüren, wie seine Hände mein Haar packten, sein Mund mich biß, mich küßte. Kein Vorspiel, keine Zärtlichkeiten, keine Raffinessen, nur er in mir und ich in seiner Seele.
Er beschleunigte den Rhythmus und verlangsamte ihn wieder, hielt zwischendurch inne, um mich anzusehen, aber er fragte nicht, ob es mir gefiel, weil er wußte, daß unsere Seelen in diesem Augenblick nur so miteinander kommunizieren konnten. Der Rhythmus wurde schneller, und ich wußte, daß die elf Minuten gleich zu Ende sein würden. Ich wünschte, sie würden nie aufhören, weil es so gut war – ach, mein Gott, so gut, sich hinzugeben und nicht zu besitzen! Irgendwann verschwamm alles vor meinen Augen, und ich spürte, daß wir in eine andere Dimension eintraten: Ich war die Große Mutter, das Universum, die geliebte Frau, die heilige Hure dieser alten Rituale, die er mir kürzlich bei einem Glas Wein am Kamin erklärt hatte. Ich fühlte, daß er kam, und seine Arme umfingen mich mit aller Kraft, seine Bewegungen wurden intensiver, und dann schrie er – er stöhnte nicht, biß sich nicht auf die Lippen, er schrie! Brüllte! Brüllte wie ein Tier! Mochten doch die Nachbarn die Polizei rufen, wenn es sie störte, mir war es egal. Und dann erfüllte mich eine ungeheure Freude: so war es von Anbeginn gewesen, als der erste Mann der ersten Frau begegnet war und sie sich das erste Mal geliebt hatten.