»Das ist ein Wochengehalt als Vorschuß. Eine Woche, verstehst du? Den Rest erhältst du ohne Abzug, ich bekomme nur bei der ersten Zahlung etwas.«
Bis zu jenem Augenblick war die Reise, der Gedanke, weit wegzufahren, nur ein Traum gewesen – und Träume sind sehr bequem, sofern wir nicht gezwungen sind, sie in die Tat umzusetzen. So gehen wir keine Risiken ein, vermeiden Frustrationen, schwierige Momente, und wenn wir alt sind, können wir immer den anderen die Schuld in die Schuhe schieben – vorzugsweise unseren Eltern, unseren Ehemännern oder unseren Kindern – dafür, daß wir unsere Träume nicht wahr gemacht haben.
Und nun war plötzlich die Chance da, auf die sie so sehr gewartet hatte, von der sie aber gewollt hätte, daß sie nie kam! Wie sollte sie sich den Herausforderungen und Gefahren eines Lebens stellen, das sie nicht kannte? Wie all das aufgeben, woran sie gewöhnt war? Warum hatte die Heilige Jungfrau sie vor eine derart schwierige Entscheidung gestellt?
Maria tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie es sich jederzeit anders überlegen könnte, daß alles nur ein unverbindlicher Spaß war – noch etwas, was sie später zu Hause erzählen könnte. Nun war sie mehr als tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, hatte dreihundertfünfzig Dollar in der Tasche, und wenn sie morgen beschließen sollte, ihre Koffer zu packen und zu fliehen, würde keiner sie jemals wiederfinden.
Den Nachmittag nach dem Besuch im Konsulat verbrachte Maria allein am Strand, wo sie am Meer entlang spazierenging, den Kindern beim Spielen zusah und die Volleyballspieler, die Bettler, die Trinker und die Verkäufer von typisch brasilianischem Kunsthandwerk (made in China) beobachtete, Jogger und Fitneßfreaks, die sich durch Gymnastik jung halten wollten, ausländische Touristen, Mütter mit Kinderwagen und Rentner, die ganz hinten am Strand Karten spielten. Sie war nach Rio de Janeiro gekommen, hatte in einem erstklassigen Restaurant gegessen, einen Auslä nder kennengelernt, war in einem Konsulat gewesen, verfügte über einen empresario und hatte obendrein ein neues Kleid und ein neues Paar Schuhe geschenkt bekommen, die sich zu Hause niemand, wirklich niemand kaufen konnte.
Und jetzt?
Sie schaute aufs Meer, in die Richtung, in der sie aufgrund ihrer Geographiekenntnisse Afrika vermutete, Afrika mit seinen Löwen und seinen Urwäldern voller Gorillas. Wenn sie sich jedoch nicht immer geradeaus nach Osten, sondern auch ein wenig in Richtung Norden bewegte, würde sie in einem märchenhaften Reich namens Europa landen, wo es einen Eiffelturm, EuroDisney und den Schiefen Turm von Pisa gab. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte wie jede Brasilianerin Samba tanzen gelernt, noch bevor sie Mama sagen konnte; es stand ihr frei, zurückzukommen, wenn es ihr nicht gefiel. Sie hatte inzwischen gelernt, daß man Gelegenheiten beim Schöpfe packen mußte.
Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, >nein< zu Dingen zu sagen, zu denen sie gern >ja< gesagt hätte, war entschlossen gewesen, nur Situationen zu durchleben, in denen sie die Kontrolle hatte – wie bei Abenteuern mit Männern, zum Beispiel. Jetzt stand sie vor dem Unbekannten, das so unbekannt war, wie dieses Meer einst für die Seefahrer gewesen war, die es überquert hatten – das hatte sie im Geschichtsunterricht gelernt. Sie konnte immer noch nein sagen, aber würde sie es dann nicht für den Rest ihres Lebens bereuen, so wie damals mit ihrer allerersten Liebe, ihrem Schulkameraden, der für immer verschwand? Warum sollte sie diesmal nicht ein Ja wagen?
Aus einem sehr einfachen Grund: Sie war ein Mädchen aus der Provinz, ohne jegliche Lebenserfahrung. Sie hatte zwar eine gute Schule besucht, kannte sich mit Telenovelas bestens aus und wußte, daß sie schön war. Doch das allein genügte nicht, um sich in der Welt zu behaupten.
Sie sah eine Gruppe von Leuten, die lachend auf die Wellen guckten und nicht wagten, ins Wasser zu gehen. Vor zwei Tagen war es ihr ganz gleich ergangen, aber jetzt hatte sie keine Angst mehr, ging ins Wasser, wann immer sie dazu Lust hatte, als wäre sie hier geboren. Würde es ihr in Europa nicht genauso gehen?
Sie betete still für sich, bat die Jungfrau Maria wieder um Rat, und bald schon fühlte sie sich eins mit ihrem Entschluß, den Weg weiterzuge hen, denn sie wußte sich beschützt. Zurückkommen konnte sie immer noch, doch die Chance, weit wegzugehen, kam vielleicht nicht wieder. Es lohnte sich, das Risiko einzugehen. Es sei denn, der Traum würde in einer achtundvierzigstündigen Fahrt mit einem Bus ohne Aircondition dahinschmelzen. Es sei denn, der Schweizer überlegte es sich anders.
Sie war so aufgeregt, daß sie, als er sie erneut zum Abendessen einlud, versuchte, sinnlich zu sein, und seine Hand nahm, doch der Mann zog seine sofort zurück, und Maria begriff – mit einer gewissen Furcht und mit einer gewissen Erleichterung –, daß er es wirklich ernst meinte. »Samba-Star«, sagte der Mann. »Samba-Star schön brasilianisch! Reise nächste Woche!«
Alles war wunderbar, aber an »Reise nächste Woche« war absolut nicht zu denken. Maria erklärte, daß sie keine Entscheidung fällen könne, ohne ihre Eltern zu fragen. Der Schweizer zeigte wütend auf eine Kopie des unterzeichneten Vertrags, und zum ersten Mal wurde ihr mulmig.
»Vertrag!« sagte er. Obwohl sie entschlossen war zu reisen, wollte sie sich noch einmal mit Mailson beraten, schließlich wurde er ja dafür bezahlt, daß er sie beriet.
Mailson schien allerdings jetzt mehr damit beschäftigt, eine deutsche Touristin zu verführen, die gerade im Hotel angekommen war und in der Überzeugung »oben ohne« am Strand saß, daß Brasilien das freizügigste Land der Welt sei (ohne zu bemerken, daß sie die einzige Person mit nackten Brüsten war und daß alle peinlich berührt herüberguckten). Maria konnte seine Aufmerksamkeit nur schwer auf sich lenken.
»Und wenn ich es mir nun anders überlege?« fragte sie. »Ich weiß nicht, was im Vertrag steht, aber vielleicht läßt er dich festnehmen.«
»Er wird mich niemals finden!«
»Auch wahr. Also mach dir keine Sorgen.« Der Schweizer jedoch, der bereits fünfhundert Dollar, ein Paar Schuhe, ein Kleid, zwei Abendessen und die Notarskosten im Konsulat investiert hatte, war allmählich beunruhigt. Daher beschloß er, da Maria darauf bestand, mit ihrer Familie zu sprechen, zwei Flugtickets zu kaufen und sie zu ihrem Geburtsort zu begleiten. Mit Lächeln hier und Lächeln da begann sie allmählich zu begreifen, daß mit Verführung, Gefühlen und Verträgen nicht zu spaßen war.
Alle im Städtchen waren überrascht und stolz, als die schöne Maria in Begleitung eines Ausländers ankam, der sie in Europa zu einem großen Star machen wollte. Alle Nachbarn wußten es bereits, und die Freundinnen aus der Schule fragten: »Aber wie ist das passiert?«
Um das Bildnis der Jungfrau herum waren ein paar Worte eingraviert: »O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir uns an dich wenden. Amen.«
»Sag diesen Satz unbedingt mindestens einmal am Tag. Und…«
Er zögerte, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück.
»…wenn du eines Tages zurückkehrst, sollst du wissen, daß ich auf dich warten werde. Ich habe die Gelegenheit verstreichen lassen, dir etwas ganz Einfaches zu sagen: Ich liebe dich. Vielleicht ist es zu spät, aber wissen solltest du es trotzdem…«
»Eine Gelegenheit verstreichen lassen« – sie hatte sehr früh gelernt, was das hieß. »Ich liebe dich« hingegen war ein Satz, den sie in ihrem zweiundzwanzigjährigen Leben häufig gehört hatte, aber er klang hohl in ihren Ohren weil niemals etwas Ernstes, Tiefes daraus geworden war, keine dauerhafte Beziehung. Maria dankte ihm für seine Worte und merkte sie sich gut (was wußte sie schon, was das Leben ihr noch vorbehielt, und es konnte nicht schaden, eine Notlösung in petto zu haben). Sie gab ihm einen keuschen Kuß auf die Wange und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, davon.