Ich würde gern glauben, daß ich verliebt bin. In jemanden, den ich nicht kenne und der in meinen Plänen nicht vorgesehen war. All diese Monate der Selbstkontrolle, diese Weigerung, mich zu verlieben, haben genau das Gegenteil bewirkt: Ich bin auf den ersten Menschen geflogen, der mir eine andere Art von Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Wie gut, daß ich mir seine Telefonnummer nicht geben ließ, daß ich nicht weiß, wo er wohnt, daß ich nicht versucht habe, ihn zu halten!
Aber selbst wenn ich ihn bereits verloren hätte, so habe ich wenigstens einen glücklichen Tag in meinem Leben dazugewonnen. Und so, wie es um die Welt bestellt ist, grenzt ein glücklicher Tag schon an ein Wunder.
Als sie an jenem Abend ins ›Copacabana‹ trat, war er da und wartete auf sie. Er war der einzige Freier. Milan, der das Leben dieser Brasilianerin mit einer gewissen Neugier verfolgte, sah, daß das Mädchen die Schlacht verloren hatte.
»Darf ich dich zu einem Drink einladen?«
»Ich muß arbeiten. Ich darf meinen Job nicht verlieren.«
»Ich bin als Freier hier.«
Dieser Mann, der am Nachmittag im Cafe so selbstsicher gewirkt, der den Stift so sicher geführt hatte, der wichtige Persönlichkeiten traf, eine Agentin in Barcelona hatte und bestimmt viel Geld verdiente – jetzt zeigte er seine Verletzlichkeit. Er war in einen Bereich eingedrungen, in den er nicht hätte eindringen dürfen, er hatte ein anderes Schlachtfeld gewählt als das romantische Cafe am Jakobsweg. Der Zauber des Nachmittags war verflogen. »Nun, nimmst du meine Einladung an?«
»Ein andermal. Ich hab heute noch Kundschaft.« Milan hörte das Ende des Satzes; er hatte sich geirrt, das Mädchen war doch nicht der Liebe in die Falle gegangen. Allerdings fragte er sich am Ende dieser Nacht, in der wenig los war, wieso Maria die Begleitung eines Alten, eines Buchhalters und eines Versicherungsvertreters vorgezogen hatte… Nun, es ging ihn nichts an, mit wem sie ins Bett ging, und solange Maria brav ihre Kommission zahlte, sollte es ihm recht sein.
›Ich denke an ihn, weil ich mit ihm reden konnte.‹
Lächerlich! Dachte sie auch an die Bibliothekarin? Nein. Dachte sie an Nyah, die Philippinin, die einzige ihrer Kolleginnen im ›Copacabana‹, mit der sie sich ein wenig austauschen konnte? Nein, sie dachte nicht an sie. Und doch war Nyah jemand, in deren Gesellschaft sie sich wohl fühlte.
Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die spätsommerliche Hitze zu lenken, die gerade herrschte, und auf den Supermarkt, zu dem sie es tags zuvor nicht mehr geschafft hatte. Sie schrieb ihrem Vater einen langen Brief und beschrieb ihm genauestens das Stück Land, das sie gern kaufen wollte und das ihren Eltern bestimmt gefallen würde. Sie nannte kein Datum für ihre Rückkehr, ließ aber durchblicken, daß sie bald kommen wollte. Sie schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein, wachte wieder auf. Fand heraus, daß die Bücher über Landwirtschaft für die Schweiz taugen mochten, sich aber auf brasilianische Verhältnisse nicht übertragen ließen.
Am Nachmittag ließ der Druck im Vulkan etwas nach, das Erdbeben verebbte ein wenig. Sie entspannte sich. Die Leidenschaft war schon ein paarmal so über sie hereingebrochen und immer am nächsten Tag wieder abgeklungen. Ihre Welt war nicht aus den Fugen geraten. Sie hatte Eltern, die sie liebten; da war ein Mann, der auf sie wartete und ihr jetzt häufig schrieb und von dem Stoffladen berichtete, der hervorragend lief. Selbst wenn sie heute die Abendmaschine zurück nach Brasilien nähme, hätte sie genug Geld, um zumindest eine kleine Farm zu kaufen. Sie hatte das Schlimmste hinter sich, die Sprachbarriere, die Einsamkeit, den Tag, als sie mit dem Araber im Restaurant gesessen und ihre Seele dazu gebracht hatte, nicht gegen das aufzubegehren, was ihr Körper tat. Sie wußte sehr genau, was ihr Traum war, und wollte alles dafür geben, und in diesem Traum waren Männer nicht vorgesehen. Zumindest keine, die nicht ihre Muttersprache sprachen und nicht in ihrer Heimat lebten.
Maria mußte sich eingestehen, daß sie das Erdbeben zum Teil selbst verursacht hatte. Warum hatte sie nicht gesagt: ›Ich bin allein, fühle mich genauso elend wie du, gestern hast du mein, Licht' gesehen, und seit meiner Ankunft hier war das das erste Schöne und Ernsthafte, was ein Mann zu mir gesagt hat‹?
Das Radio spielte ein altes Chanson: ›Meine Liebe stirbt, ehe sie beginnt‹. Ja, genau das war bei ihr der Fall, das war ihr Schicksal.
Aus Marias Tagebuch, zwei Tage nachdem wieder Normalität eingekehrt war.
Die Leidenschaft bewirkt, daß man nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr normal arbeiten kann, sie raubt einem den Seelenfrieden. Sie reißt alles mit, was sich ihr in den Weg stellt, und das macht vielen angst.
Niemand möchte seine Welt in Unordnung bringen. Deshalb schaffen es viele, diese Bedrohung unter Kontrolle zu halten. Deshalb versuchen viele, ihre Welt wie ein Haus von allen Seiten abzustützen, obwohl dessen Balken längst morsch sind.
Das sind die Ingenieure des Überfälligen.
Andere wieder handeln genau umgekehrt: Sie geben sich blind hin, ohne nachzudenken, und hoffen, in der Leidenschaft die Lösung all ihrer Probleme zu finden. Sie übertragen dem anderen die alleinige Verantwortung für ihr Glück und die alleinige Schuld an ihrem Unglück. Entweder sind sie permanent euphorisch, weil etwas Wunderbares mit ihnen passiert ist, oder permanent deprimiert, weil etwas Unerwartetes alles zerstört hat.
Was ist weniger zerstörerisch: sich von der Leidenschaft fernzuhalten oder sich ihr blind hinzugeben? Ich weiß es nicht.
Drei Tage später kam Ralf Hart wieder ins ›Copacabana‹, und er kam fast zu spät, weil Maria sich bereits mit einem anderen Freier unterhielt. Als sie ihn sah, verabschiedete sie sich sofort höflich von dem anderen mit der Begründung, sie könne jetzt nicht tanzen, da sie jemanden erwarte.
Erst da gestand sie sich ein, daß sie all diese Tage auf ihn gewartet hatte. Und in diesem Augenblick akzeptierte sie alles, was das Schicksal ihr beschert hatte.
Sie machte sich keine Vorwürfe; im Gegenteil, sie freute sich, weil sie sich diesen Luxus leisten konnte, da sie Genf bald verlassen würde; sie wußte, daß diese Liebe unerfüllbar war, und gerade weil sie nichts erwartete, würde sie alles bekommen, was dieser Lebensabschnitt ihr noch geben konnte.
Ralf fragte, ob sie einen Drink wolle, und Maria bestellte einen Fruchtcocktail. Milan, der so tat, als würde er Gläser spülen, sah zu Maria herüber und verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte sie veranlaßt, ihre Meinung zu ändern? Er hoffte, sie würde nicht nur vor dem Getränk sitzen bleiben – und war erleichtert, als der Freier sie zum Tanzen aufforderte. Sie hielten sich an das Ritual. Es gab keinen Grund zur Sorge.
Maria spürte Ralfs Hand an ihrer Taille, seine Wange an ihrer Wange, sie hörte die laute Musik, die gottlob jede Unterhaltung verhinderte. Mit einem Fruchtcocktail konnte man sich keinen Mut antrinken, und die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, waren förmlich gewesen. Jetzt war es eine Frage der Zeit: Würden sie in ein Hotel gehen? Würden sie Liebe machen? Kein Problem, zumal er ja angeblich nicht an Sex interessiert war. Die Arbeit würde nur darin bestehen, ein Ritual einzuhalten und dadurch den letzten Rest Leidenschaft in ihr abzutöten. Warum hatte sie sich von ihrer ersten Begegnung bloß so verunsichern lassen?
In dieser Nacht würde sie die verständnisvolle Mutter sein. Ralf Hart war nur ein verzweifelter Mann wie Millionen andere auch. Wenn sie ihre Rolle gut spielte, wenn sie sich an den Weg hielt, den sie für ihre Arbeit im ›Copacabana‹ entworfen hatte, dann brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Aber es war sehr gefährlich, diesen Mann in ihrer Nähe zu haben: jetzt, da sie seinen Duft wahrnahm (und er gefiel ihr) und seine Berührung spürte (und sie gefiel ihr), wurde ihr klar, daß sie auf ihn wartete (und das gefiel ihr nicht).
Fünfundvierzig Minuten lang hatten sie alle Regeln eingehalten. Danach wandte sich Ralf an Milan: »Ich nehme sie für den Rest der Nacht mit. Ich zahle soviel wie drei Freier.«
Milan dachte achselzuckend, nun würde die Brasilianerin der Liebe doch noch in die Falle gehen. Maria war überrascht: sie hatte nicht geahnt, daß Ralf die Regeln so genau kannte.
»Gehen wir zu mir nach Hause!«
Vielleicht war das wirklich die beste Entscheidung, dachte sie. Obwohl es gegen alle Empfehlungen Milans verstieß, beschloß sie, eine Ausnahme zu machen. So konnte sie einerseits feststellen, ob er verheiratet war, und andererseits sehen, wie berühmte Maler wohnten, und eines Tages würde sie darüber einen kleinen Artikel für das Lokalblättchen zu Hause schreiben – damit alle wüßten, daß sie während ihres Europaaufenthaltes in Künstler-und Intellektuellenkreisen verkehrt hatte.
›Was für eine absurde Ausrede!‹ schalt sie sich innerlich.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Cologny, einen Vorort von Genf: ein Dorfplatz mit einer Kirche, einer Bäckerei, dem Rathaus, alles wie im Bilderbuch. Und er wohnte tatsächlich in einem zweistöckigen Haus, nicht in einem Apartment! Erste Einschätzung: Er mußte tatsächlich Geld haben, Häuser waren sehr teure Immobilien. Zweite Einschätzung: Wäre er verheiratet, hätte er sie schon wegen der Nachbarn nicht zu sich eingeladen.
Also war er reich und ledig.
Sie betraten eine Eingangshalle, von der eine Treppe in den ersten Stock führte. Ralf geleitete sie aber geradeaus in die zwei Zimmer im hinteren Teil des Hauses, die auf einen Garten hinausgingen. Ein Eßzimmer mit einem Eßtisch und vielen Bildern an den Wänden. Im Salon nebenan: ein paar Sofas, Stühle, vollgestopfte Bücherschränke, überquellende Aschenbecher und schmutzige Gläser.
»Soll ich Kaffee machen?«
Maria schüttelte den Kopf. Nein, noch soll er mich nicht anders behandeln. Ich fordere meine Dämonen geradezu heraus, indem ich genau das Gegenteil dessen tue, was ich mir vorgenommen habe. Bloß keine Panik: Heute werde ich die Rolle der Prostituierten spielen oder der Freundin oder die der Verständnisvollen Mutter, obwohl ich in meiner Seele ein junges Mädchen bin, das Zärtlichkeit braucht. ›Erst zum Schluß, wenn alles vorbei ist, dann kannst du mir einen Kaffee kochen!‹
»Hinten im Garten liegt mein Studio, meine Seele. Hier, zwischen diesen Bildern und Büchern, ist mein Verstand, das, was ich denke.«