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»Ich habe viele unversehrte Eisenbahnen in meinem Leben«, sagte Maria nach einer Weile. »Eine davon ist mein Herz. Ich habe auch damit gespielt, wenn die anderen die Schienen aufbauten, und es war nicht immer der richtige Moment.«

»Aber du hast geliebt?«

»Ja, ich habe geliebt, ich habe sehr geliebt. Ich habe so sehr geliebt, daß ich, als ich meiner ersten Liebe nicht gegeben habe, was sie wollte – einen Bleistift –, geflohen bin.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Ich bringe dir etwas bei, was auch ich erst lernen mußte: schenken. Das Schenken von etwas, was einem gehört. Einem anderen etwas geben, bevor man ihn um etwas Wic htiges bittet. Du hast meinen Schatz: den Kugelschreiber, mit dem ich einige meiner Träume aufgeschrieben habe. Ich habe deinen Schatz: einen Eisenbahnwagen, einen Teil deiner Kindheit, den du nicht gelebt hast. Ich habe jetzt einen Teil deiner Vergangenhe it und du einen Teil meiner Gegenwart. Und das ist schön.«

Sie sagte das alles wie selbstverständlich, ohne sich über sich selbst zu wundern, als hätte sie schon lange gewußt, daß dies die beste und einzige Art zu handeln war. Langsam erhob sie sich, nahm ihre Jacke vom Bügel und küßte ihn auf die Wange. Ralf, der weiter wie hypnotisiert ins Feuer starrte und vermutlich an seinen Vater dachte, machte keine Anstalten aufzustehen.

»Ich habe nie recht verstanden, warum ich diesen Waggon aufbewahrt habe. Bis he ute: um ihn in einer Nacht im Schein des Kaminfeuers zu verschenken. Jetzt wird das Haus leichter.«

Er sagte, er werde gleich morgen die restlichen Waggons, die Schienen, Lokomotiven, Rauchkapseln einem Waisenhaus schenken.

»Vielleicht ist diese Eisenbahn inzwischen eine Rarität und ein kleines Vermögen wert«, meinte Maria und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Darum ging es doch gar nicht, sondern darum, sich von etwas zu befreien, was unserem Herzen noch viel mehr bedeutet.

Bevor sie noch mehr unpassende Dinge sagen konnte, küßte sie ihn noch einmal auf die Wange und ging zur Tür. Er schaute immer noch ins Feuer, und sie bat ihn höflich, aufzustehen und ihr die Tür zu öffnen.

Ralf erhob sich, und sie erklärte ihm, die Brasilianer hätten einen merkwürdigen Aberglauben: Wenn man jemanden zum ersten Mal besuche, dürfe man die Tür beim Weggehen nie selbst öffnen, denn sonst würde man nie wieder in dieses Haus zurückkehren.

»Ich möchte zurückkommen.«

»Obwohl wir uns nicht ausgezogen haben und ich nicht in dich eingedrungen bin, dich nicht einmal angefaßt habe, haben wir uns geliebt.«

Sie lachte. Er erbot sich, sie nach Hause zu bringen, aber Maria lehnte ab.

»Ich werde dich morgen im ›Copacabana‹ besuchen.«

»Tu's nicht. Warte eine Woche. Ich habe gelernt, daß Warten das Schwierigste ist, und möchte mich auch daran gewöhnen; ich möchte spüren, daß du bei mir bist, selbst wenn ich dich nicht an meiner Seite habe.«

Sie ging zu Fuß durch die dunkle Nacht. Normalerweise waren ihre nächtlichen Gänge durch Genf von Traurigkeit geprägt gewesen, von finanziellen Sorgen und Zeitplänen, von Heimweh, auch nach ihrer Muttersprache, die außer ihren Kolleginnen niemand sprach.

Heute jedoch ging sie, um sich selbst zu finden oder vielmehr die Frau, die vierzig Minuten lang mit einem Mann vor dem Feuer gesessen hatte und voller Licht, Weisheit, Erfahrung, Zauber gewesen war. Sie hatte das Gesicht dieser Frau vor nicht allzu langer Zeit gesehen, als sie am See spazierengegangen war und überlegt hatte, ob sie ein Leben führen sollte, das ihr fremd war – an jenem Nachmittag hatte die Frau traurig gelächelt. Maria hatte ihr Gesicht ein zweites Mal auf einer zusammen­gefalteten Leinwand gesehen, und nun war es wieder da.

Erst viel später, als die magische Erscheinung verschwunden war, nahm sie ein Taxi.

Sie sollte lieber nicht über den Abend nachdenken, sonst machte sie alles kaputt. Sie durfte nicht zulassen, daß Ungeduld all das Gute zerstörte, das sie gerade erlebt hatte. Wenn es diese andere Maria wirklich gab, würde sie im richtigen Augenblick wieder dasein.

Auszug aus Marias Tagebuch, an dem Abend geschrieben, als sie den Eisenbahnwaggon geschenkt bekam:

Das tiefe Begehren, das realste Begehren ist dann in einem, wenn man zum ersten Mal auf jemanden zugeht. Das löst das Knistern aus. Danach erst kommen Mann und Frau ins Spiel. Aber das, was zuvor geschah – was die gegenseitige Anziehung auslöste –, kann man nicht erklären. Es ist das Begehren in seiner ursprünglichen, reinsten Form.

Wenn das Begehren in diesem ursprünglichen Zustand ist, verlieben sich Mann und Frau in das Leben, kosten sie jeden Augenblick ehrfürchtig und ganz bewußt aus und feiern jeden dieser Augenblicke wie eine Segnung.

Solche Menschen kennen keine Eile, sie überstürzen nichts, tun nichts Unbedachtes. Sie wissen, daß das Unausweichliche geschieht, daß die Wahrheit immer wirksam wird. Sie packen jede Gelegenheit beim Schopf und lassen keinen magischen Augenblick ungenutzt verstreichen, weil sie wissen, wie wichtig jede einzelne Sekunde ist.

In den darauffolgenden Tagen sah Maria, daß sie in die Falle gegangen war, die sie so sehr zu meiden versucht hatte – aber sie war deswegen weder traurig noch besorgt.

Im Gegenteiclass="underline" Da sie nichts zu verlieren hatte, war sie frei.

So romantisch die Situation auch war: Maria mußte sich im klaren sein, daß Ralf früher oder später einsehen würde, daß sie nur eine Hure, er dagegen ein geachteter Künstler war; daß sie aus einem fernen, ewig krisengeschüttelten Land kam, er dagegen in einem Paradies lebte, dessen Bewohner von Geburt an ein geordnetes, geschütztes Leben führen durften. Er hatte eine hervorragende Ausbildung genossen, die allerbesten Schulen und Museen der Welt besucht, während sie nicht studiert hatte. Solche Träume sind nicht von Dauer, und Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß die Wirklichkeit selten mit ihren Träumen übereinstimmte. Ihre größte Freude war jetzt, daß sie wunschlos glücklich sein konnte und nicht danach strebte, jemanden zu besitzen.

›Wie romantisch ich bin, mein Gott!‹

Während der Woche versuchte sie herauszufinden, was Ralf glücklich machen könnte; er hatte ihr ihr ›Licht‹ gezeigt und ihr ihre, wie sie glaubte, für immer verlorene Würde zurückgegeben. Sie würde sich bei ihm nur mit Sex revanchieren können. Er hielt es für ihre Spezialität. Da aber Sex im ›Copacabana‹ wenig Abwechslung bot, beschloß sie, sich anderswo inspirieren zu lassen.

Sie lieh sich Pornofilme aus und fand sie erneut uninspirierend – außer einigen Varianten beim Gruppensex. Da die Filme wenig weiterhalfen, beschloß sie zum ersten Mal, seit sie in Genf war, Bücher zu kaufen – obwohl sie weiterhin keine Lust hatte, ihre Wohnung mit ausgelesenen Büchern vollzustopfen. In einer Buchhandlung, die sie entdeckt hatte, als sie mit Ralf auf dem Jakobsweg gegangen war, erkundigte sie sich, ob sie etwas zum Thema dahatten.

»Massenhaft«, antwortete die Buchhändlerin. »Tatsächlich scheinen sich die Leute nur mit Sex zu beschäftigen. Es gibt eine Spezialabteilung, aber letztlich enthält jeder dieser Romane hier mindestens eine Sexszene. Ob sie nun in schönen Liebesgeschichten eingebettet ist oder in ernsthaften Traktaten über Verhaltensforschung, Tatsache ist: Die Menschen denken an nichts anderes.«

Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß sich die Buchhändlerin irrte: Es war falsch zu glauben, daß alle Welt nur an diesem Thema interessiert war. Natürlich machten alle Diäten, kauften sich Perücken, verbrachten Stunden beim Friseur oder im Fitneßstudio, trugen aufreizende Kleider, versuchten den gewünschten Funken zu entfachen – aber was kam dabei heraus? Wenn's zur Sache ging: elf Minuten, Schluß, aus. Keine Kreativität, nichts, was sie in den siebten Himmel erhob; in Null Komma nichts war der Funke schon zu schwach, um das Feuer am Brennen zu halten.

Es war zwecklos, mit der blonden Buchhändlerin weiterzudiskutieren, die glaubte, die Welt könne mit Büchern erklärt werden. Maria ließ sich die Spezialabteilung zeigen und entdeckte dort verschiedene Bände über homosexuelle und lesbische Sexpraktiken, außerdem Enthüllungsgeschichten über das Sexleben des Klerus sowie reichbebilderte Sexfibeln aus dem Orient. Ein Buchtitel stach ihr ins Auge: Der heilige Sex. Das war zumindest mal etwas anderes.

Sie kaufte das Buch, ging nach Hause, stellte das Radio auf einen Sender mit ruhiger Musik ein, die ihr immer beim Nachdenken half. Der Band enthielt zahlreiche Illustrationen von Liebesstellungen, die bestimmt höchstens von Zirkusakrobaten ausgeführt werden konnten; der dazugehörige Text war langweilig.

Maria wußte von Berufs wegen nur zu gut, daß beim Sex nicht allein die Stellung, die man einnimmt, wichtig war und daß Variationen sich wie selbstverständlich ergaben, ähnlich wie Tanzschritte. Dennoch versuchte sie weiterzulesen.

Nach zwei Stunden war ihr klar: Die Autorin des Buches hatte vom Sex keine Ahnung: nichts als viel Theorie, ein bißchen Kamasutra, nutzlose Rituale, idiotische Vorschläge. Aus dem Klappentext ging hervor, daß die Autorin im Himalaja meditiert hatte (wo denn?), Joga-Kurse besucht (davon hatte Maria schon gehört) und selbst viele Bücher gewälzt hatte: Sie zitierte den einen oder andern Autor, aber zum Wesentlichen war sie nicht vorgestoßen. Sex war keine Theorie, hatte nichts mit Räucherstäbchen, Berührungspunkten, Verbeugungen und Salemaleikums zu tun. Was maßte die Frau sich an, ein Buch über ein Thema zu schreiben, in dem nicht einmal Maria, die in dem Bereich arbeitete, sich genau auskannte? Vielleicht war der Himalaja daran schuld oder das Bedürfnis, etwas zu verkomplizieren, dessen Schönheit in der Einfachheit und in der Leidenschaft lag. Wenn diese Frau fähig war, ein so dummes Buch auf den Markt zu bringen, dann sollte sie, Maria, sich schnellstens wieder ihrem Buchprojekt Elf Minuten zuwenden. Ihr Buch wäre zumindest nicht zynisch noch verlogen, sondern ihre eigene, authentische Geschichte.

Aber zum Schreiben hatte sie momentan weder Zeit noch Lust; sie mußte ihre ganze Energie darauf verwenden, Ralf glücklich zu machen und zu lernen, wie man einen landwirtschaftlichen Betrieb führt.

Aber erst einmal mußte sie zu Abend essen und später ins ›Copacabana‹ gehen.

Aus Marias Tagebuch, gleich nachdem sie das langweilige Buch zur Seite gelegt hat:

Ich bin einem Mann begegnet und habe mich in ihn verliebt. Ich habe es aus einem einfachen Grund zugelassen: Ich erhoffe mir nichts. Ich weiß, daß ich in drei Monaten über alle Berge sein werde. Ralf wird dann nur noch eine Erinnerung sein. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten ohne Liebe; ich bin an meine Grenzen gestoßen.