Seine Augen hatten denselben kalten Glanz wie kurz zuvor. Terence griff nach dem Geld, das sie auf den Schreibtisch gelegt hatte, nahm hundertfünfzig Franken davon und steckte sie in ihre Handtasche.
»Mach dir wegen deines Chefs keine Sorgen. Hier ist seine Kommission, und ich verspreche dir, ihm nichts zu sagen. Du kannst gehen.«
Sie nahm das ganze Geld.
»Nein!«
Es war der Wein, der Araber im Restaurant, die Frau mit dem traurigen Lächeln; es war die Vorstellung, nie wieder an jenen verdammten Ort zurückzukehren; es war die Angst vor der Liebe, die in der Gestalt eines Mannes in ihr Leben getreten war; es waren die Briefe an ihre Mutter, die von einem schönen Leben voller Arbeitsmöglichkeiten erzählten; es war der Junge, der sie in ihrer Kindheit um einen Bleistift gebeten hatte; es waren ihre Kämpfe mit sich selbst; es war Schuld, Neugier, Geld; es war ihre Suche nach den eigenen Grenzen, nach den verpaßten Chancen und Gelegenheiten. Eine andere Maria trat an ihre Stelle: Sie machte keine Geschenke, sondern gab sich als Opfer hin.
»Ich habe keine Angst mehr. Machen wir weiter. Wenn nötig, bestrafen Sie mich, weil ich aufsässig war. Ich habe gelogen, verraten und jene mißachtet, die mich beschützt und geliebt haben.«
Sie war in das Spiel eingestiegen. Sie sagte das Richtige.
»Knie nieder!« sagte Terence mit seiner leisen, bedrohlichen Stimme.
Maria gehorchte. Sie war noch nie so behandelt worden, und sie wußte nicht, ob es gut oder schlecht war, nur, daß sie weitermachen wollte, es verdient hatte, erniedrigt zu werden für all das, was sie in ihrem Leben getan hatte. Sie ging in einer Person auf, einer neuen Person, einer Frau, die sie überhaupt nicht kannte.
»Du wirst bestraft werden. Weil du nutzlos bist, die Regeln nicht kennst, nichts über Sex weißt, über das Leben, über die Liebe.«
Während er sprach, wurde Terence zu zwei verschiedenen Männern. Demjenigen, der ruhig die Regeln erklärte, und demjenigen, der sie dazu brachte, sich als der elendste Mensch der Welt zu fühlen.
»Weißt du, warum ich deine Unsicherheit akzeptiere? Weil es keine größere Lust gibt, als jemanden in eine fremde Welt einzuführen. Diesem Menschen die Jungfräulichkeit zu nehmen – nicht seinem Körper, sondern seiner Seele, begreifst du?« Sie verstand.
»Heute darfst du Fragen stellen. Aber das nächste Mal beginnt das Stück, sobald sich der Vorhang öffnet, und du kannst nicht wieder aufhören. Wenn du aufhörst, dann liegt es daran, daß unsere Seelen nicht zusammenpassen. Vergiß nicht: Es ist ein Rollenspiel. Du mußt die Person sein, die zu sein du dich nie getraut hast. Nach und nach wirst du merken, daß du diese Person tatsächlich bist, doch einstweilen tu einfach so als ob, denk dir etwas aus.«
»Und wenn ich den Schmerz nicht ertrage?«
»Es gibt keinen Schmerz, es gibt etwas, das zu Genuß, zu Mysterium wird. Es gehört zum Rollenspiel, zu bitten ›behandle mich nicht so, du tust mir sehr weh!‹ oder: ›Hör auf, ich ertrage es nicht mehr!‹. Deshalb sei vorsichtig, senk den Kopf und sieh mich nicht an!«
Maria, die kniete, senkte den Kopf und starrte zu Boden.
»Um zu vermeiden, daß einer von uns körperlich zu Schaden kommt, gibt es zwei Codes. Wenn einer von uns ›gelb‹ sagt, heißt das, daß die Gewalt etwas zurückgenommen werden muß. Sagt einer ›rot‹, muß sofort aufgehört werden.«
»Sie haben gesagt ›einer von uns‹?« »Die Rollen werden getauscht. Den einen gibt es nicht ohne den anderen, und keiner kann den anderen erniedrigen, ohne seinerseits erniedrigt zu werden.« Das waren schreckliche Worte, die aus einer Welt stammten, die sie nicht kannte, einer Welt voller Schatten, Schlamm, Verderbnis. Dennoch wollte sie weitermachen ihr Körper zitterte vor Angst und Erregung.
Terence' Hand berührte sie mit unerwarteter Zärtlichkeit am Kopf.
»Schluß!«
Er bat sie aufzustehen. Ohne besondere Zärtlichkeit, aber auch ohne die aggressive Kälte, die er soeben gezeigt hatte. Noch immer zitternd zog sich Maria die Jacke wieder an. Terence sah Maria an.
»Rauch eine Zigarette, bevor du gehst!«
»Es ist nichts passiert.«
»Das war auch nicht notwendig. Es wird in deiner Seele beginnen, und wenn wir uns das nächste Mal treffen, bist du bereit.«
»War diese Nacht tausend Franken wert?«
Er gab keine Antwort. Zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie tranken den Wein aus, hörten die schöne Musik zu Ende, genossen gemeinsam die Stille. Bis der Augenblick gekommen war, etwas zu sagen, und Maria war selbst erstaunt, als sie sich sagen hörte:
»Ich verstehe nicht, warum ich Lust habe, diesen Sumpf zu betreten.«
»Tausend Franken.«
»Nein, das ist es nicht.«
Terence schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein.
»Ich habe mich das auch schon gefragt. Der Marquis de Sade sagte, daß die wichtigsten Erfahrungen des Menschen die seien, die ihn an seine Grenzen führen. Daß wir nur so lernen – weil es unseren ganzen Mut braucht. Wenn ein Chef seinen Angestellten demütigt oder ein Mann seine Frau demütigt, ist er entweder ein Feigling, oder er rächt sich für das, was das Leben ihm vorenthalten hat; er ist ein Mensch, der es nie gewagt hat, in sich hinein und in die Tiefe seiner Seele zu blicken; einer, der niemals wissen wollte, woher dieser Drang kommt, das Tier in sich loszulassen; einer, der nicht begreifen will, daß Sex, Schmerz und Liebe Grenzerfahrungen des Menschen sind.
Und nur wer diese Grenzen kennt, kennt das Leben; der Rest ist nur Zeitvertreib, Routine, Älterwerden und Sterben, wobei man nicht einmal weiß, was man hier auf Erden eigentlich gemacht hat.«
Wieder die Straße, wieder die Kälte, wieder der Wunsch, lange durch die Nacht zu gehen. Der Mann irrte sich, man brauchte seine Dämonen nicht zu kennen, um Gott zu finden. Maria begegnete einer Gruppe junger Leute, die aus einer Bar kamen; sie waren fröhlich, hatten etwas getrunken, waren schön, gesund, standen kurz vor dem Abschlußexamen und dem Beginn dessen, was sie ›das wahre Leben‹ nannten: Arbeit, Hochzeit, Kinder, Fernsehen, Verbitterung, Alter, das Gefühl, viel verpaßt zu haben, Abhängigkeit von andern, Einsamkeit, Tod.
Was lief da ab? Auch Maria suchte Ruhe, um ihr »wahres Leben« zu leben. Die Zeit in der Schweiz und ein Gewerbe, in dem sie sich früher nie gesehen hätte, waren nur eine dieser schwierigen Lebensphasen gewesen, die alle Menschen früher oder später durchstehen müssen. In dieser schwierigen Phase ging sie ins ›Copacabana‹, ging für Geld mit Männern aus, spielte je nach Freier mal die naive Unschuld, mal die femme fatale, mal die zärtliche Mutter. Aber das war nur ihre Arbeit, die sie so professionell wie möglich (wegen der Trinkgelder) und (aus Angst, sich daran zu gewöhnen) so desinteressiert wie möglich machte. Neun Monate lang hatte sie alles unter ihrer Kontrolle gehabt, und jetzt, kurz bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte, entdeckte sie, daß sie imstande war, bedingungslos zu lieben und grund los zu leiden. Als hätte das Leben dieses krasse Mittel gewählt, um ihr etwas über ihre eigenen Mysterien, ihre Licht- und Schattenseiten beizubringen.
Aus Marias Tagebuch in derselben Nacht, in der sie Terence das erste Mal getroffen hatte:
Er hat de Sade erwähnt, von dem ich noch keine einzige Zeile gelesen, nur die üblichen Klischees zum Sadismus gehört habe: Wir erkennen uns nur, wenn wir an unsere Grenzen gelangen. Das ist richtig. Aber es ist auch falsch, weil man die Selbsterkenntnis auch nicht zu weit treiben sollte; der Mensch wurde nicht nur dazu geschaffen, seine Erkenntnisse zu mehren, sondern auch dazu, den Boden zu pflügen, auf den Regen zu warten, sein Getreide anzubauen, zu ernten und Brot zu backen.
Ich bin zwei Frauen: Die eine will die Freude, das Abenteuer, die Leidenschaft, welche das Leben ihr bieten kann, voll auskosten; die andere will Sklavin einer Routine, eines Familienlebens sein, all der Dinge, die geplant und erfüllt werden können. Ich bin Hausfrau und Hure zugleich, im selben Körper, und beide befinden sich in einem ständigen Kampf miteinander.
Die Begegnung einer Frau mit sich selbst ist ein Spiel mit ernsten Gefahren. Ein göttlicher Tanz. Wenn wir uns selbst finden, sind wir zwei göttliche Energien, zwei Universen, die aufeinandertreffen. Wenn in diesem Aufeinandertreffen die nötige gegenseitige Achtung fehlt, zerstört ein Universum das andere.
Maria war wieder in Ralf Harts Wohnzimmer, das Feuer brannte im Kamin, beide saßen auf dem Boden, tranken Wein, und die Erinnerung an die vergangene Nacht mit dem englischen Manager war nichts als ein Traum oder Alptraum – je nach Marias Stimmung. Jetzt suchte sie wieder nach dem Grund ihres Seins – oder vielmehr die völlige Hingabe, die keine Gegenleistung erwartet.
Sie war reifer geworden, während sie auf diesen Augenblick gewartet hatte. Sie hatte herausgefunden, daß die wirkliche Liebe, so wie sie sie sich vorgestellt hatte, nichts mit dieser durch die Liebesenergie hervorgerufenen Kettenreaktion von Ereignissen zu tun hatte: Zeit der Werbung, gegenseitige Versprechen, Heirat, Kinder, Warten, Küche, sonntags der Vergnügungspark, noch mehr Warten, gemeinsam alt werden, Ende der Warterei und statt dessen die Pensionierung des Ehemannes, Krankheiten, das Gefühl, daß man die Chance verpaßt hat, um gemeinsam seine Träume zu verwirklichen.
Sie schaute den Mann an, dem sich hinzugeben sie beschlossen hatte. Und dem sie niemals sagen wollte, was sie fühlte, weil es für ihre Gefühle noch keine Ausdrucksform gab, nicht einmal eine körperliche. Er wirkte entspannter, als hätte eine vielversprechende Phase seines Lebens begonnen. Er lächelte, erzählte von seiner kürzlichen Reise nach München, wo er sich mit einem wichtigen Museumsdirektor getroffen hatte.
»Er hat gefragt, ob das Bild der Gesichter Genfs fertig sei. Ich habe ihm gesagt, daß ich einer der Hauptfiguren begegnet sei und sie gern malen würde. Einer Frau voller Licht. Aber ich will nicht von mir reden. Ich möchte dich umarmen. Ich begehre dich.«
Begehren. Begehren? Begehren! Das war der Aus gangspunkt für diese Nacht, denn mit dem Begehren kannte sie sich aus.
Man konnte beispielsweise das Begehren wecken, indem man den Gegenstand der Begierde zurückhielt.
»Nun, dann begehre mich. Du sitzt in einem Meter Entfernung von mir, bist in einen Nachtclub gegangen, hast für meine Dienste bezahlt, weißt, daß du das Recht hast, mich zu berühren. Aber wage es nicht! Sieh mich an. Sieh mich an, und stell dir vor, daß ich vielleicht nicht will, daß du mich ansiehst. Stell dir vor, was meine Kleidung verhüllt.« Sie trug zur Arbeit immer schwarze Kleidung und verstand nicht, warum die anderen Mädchen im ›Copacabana‹ aufreizende Dekolletes und schreiende Farben bevorzugten. Ihrer Meinung nach war für einen Mann eine Frau begehrenswert, der er ebensogut im Büro, im Zug oder im Haus der Freundin der Ehefrau hätte begegnen können.