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Bei einer guten Geschäftsbeziehung müssen alle Beteiligten zufrieden sein. Die meisten Freier waren verheiratet, gutsituiert, erfolgreich. Auch einige Prostituierte waren verheiratet, hatten Kinder und gingen zu Elternabenden in die Schule. Nur wenn der Vater eines Mitschülers ihrer Kinder im ›Copacabana‹ auftauchte, wurde es peinlich wenn auch nicht riskant, denn da die Situation für beide Seiten unangenehm war, schwiegen auch beide.

Unter den Kolleginnen gab es Kameradschaft, aber keine Freundschaft; niemand erzählte viel von sich, und wenn die eine oder andere doch einmal mehr aus sich herausging, konnte Maria ihren Äußerungen weder Bitterkeit noch Schuldgefühle oder Traurigkeit entnehmen – höchstens Resignation. Doch gleichzeitig hatten sie alle diesen seltsam herausfordernden, stolzen und zuversichtlichen Blick, als wollten sie es mit der ganzen Welt aufnehmen. Bereits nach einer Woche galt man als »Professionelle« und hatte sich an die Standesregeln zu halten: niemals eine Ehe in Gefahr bringen (eine Prostituierte darf keine Bedrohung für die Stabilität einer Ehe sein), niemals Einladungen zu Treffen außerhalb der Arbeitszeit annehmen, den Kunden zuhören, ohne eine eigene Meinung zu äußern, wenn der Orgasmus dran war, zu stöhnen, die Polizisten auf der Straße zu grüßen, die Arbeits-und Gesundheitspapiere immer auf dem neuesten Stand zu halten und last not least die eigene Tätigkeit nicht allzu sehr zu hinterfragen – sie waren, was sie waren, Punktum.

Maria galt bald als die Intellektuelle der Gruppe, weil sie sich abends, bevor der Betrieb losging, die Zeit mit Lesen vertrieb. Anfangs hatten ihr die Kolleginnen neugierig über die Schulter gesehen, in der Hoffnung auf eine süffige Liebesgeschichte, aber als sie merkten, um was für trockene und uninteressante Themen wie Wirtschaft, Psychologie und (seit kurzem) Führung landwirtschaftlicher Betriebe es sich handelte, ließen sie Maria bald in Ruhe, und diese konnte ungestört lesen und sich Notizen machen.

Bald hatte sie auch Milans Vertrauen gewonnen, denn sie erfreute sich eines großen, festen Kundenstamms und hatte immer Arbeit, selbst wenn einmal nicht viel los war. Dies trug ihr hinwiederum ein gewisses Ressentiment seitens ihrer Kolleginnen ein, welche die Brasilianerin ehrgeizig, arrogant und geldgierig fanden. Letzteres stritt sie auch nicht ab, doch verhielt es sich mit den anderen nicht genauso?

Abfällige Bemerkungen bringen einen nicht um, sie gehören zum Leben eines erfolgreichen Menschen nun mal dazu, und man gewöhnt sich lieber gleich daran. Maria hielt jedenfalls unbeirrt an ihren zwei Zielen fest: zum vorgesehenen Termin nach Brasilien zurückzukehren und eine Farm zu kaufen.

Sie war jetzt tage in, tagaus mit ihren Gedanken bei Ralf. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich, obwohl ihr Geliebter nicht bei ihr war und obwohl sie insgeheim bereute, ihm ihre Liebe gestanden und damit alles aufs Spiel gesetzt zu haben. Andererseits: Was riskierte sie schon, wenn sie keine Gegenleistung erwartete? Sie erinnerte sich, wie ihr Herz schneller geschlagen hatte, als Milan erwähnte, daß er ein spezieller Freier sei – oder gewesen sei. Was bedeutete das? Sie war eifersüchtig, fühlte sich hintergangen.

Eifersucht war normal, obwohl das Leben sie gelehrt hatte, daß es unsinnig ist, zu glauben, man könne jemand anderen besitzen – wer das glaubte, machte sich etwas vor. Dennoch sollte die Eifersucht weder unterdrückt noch überbewertet oder als Zeichen von Schwäche verurteilt werden.

Der liebt stärker, der seine Schwäche zeigen kann. Wenn meine Liebe wahrhaftig ist (und ich sie mir nicht nur einbilde), wird die Freiheit die Eifersucht besiegen und auch den damit verbundenen Schmerz – denn auch dieser Schmerz, ist ganz natürlich. Sportler wissen: Wer sein Ziel erreichen will, muß bereit sein, seine tägliche Dosis Schmerz oder Unbehagen zu ertragen. So unangenehm und demotivierend es anfangs sein mag, mit der Zeit begreift man es als Teil eines Prozesses, und wenn die Schmerzen eines Tages ausbleiben, haben wir Angst, daß das Training nicht mehr wirkt.

Die Gefahr liegt darin, den Schmerz zu fokussieren, ihm gar einen Namen zu geben, ihn nicht vergessen zu können; doch über dieses Stadium war Maria Gott sei Dank hinaus.

Dennoch überraschte sie sich dabei, wie sie überlegte, wo Ralf wohl steckte, warum er sie nicht besuchte, ob er diese Geschichte mit dem Bahnhof und dem unterdrückten Begehren dumm gefunden, ob sie ihn mit ihrer Liebeserklärung in die Flucht geschla gen hatte. Um zu verhindern, daß sich ihre schönen Gefühle ins Gegenteil verkehrten, entwickelte sie eine Methode:

Wann immer ihr etwas Positives in Zusammenhang mit Ralf Hart einfiel – das konnte das Kaminfeuer sein oder der Wein oder etwas, was sie gern mit ihm besprochen hätte, oder auch nur die angenehme Bangigkeit, nicht zu wissen, wann sie ihn wiedersehen würde –, hielt Maria mitten in ihrer Tätigkeit inne, lächelte und dankte dem Himmel dafür, daß sie am Leben war und keine Erwartungen an den Mann stellte, den sie liebte.

Wenn aber ihr Herz sich über seine Abwesenheit grämte oder darüber, was sie bei ihrem letzten Treffen Unsinniges gesagt haben mochte, dann redete sie sich gut zu.

›Na gut‹, sagte sie zu ihrem Herzen, ›denk, was du willst, während ich mich wichtigeren Dingen widme.‹

Dann versenkte sie sich wieder in ihre Bücher oder achtete besonders genau auf ihre Umgebung – auf Farben, Menschen, Geräusche (vor allem auf das Geräusch ihrer eigenen Schritte), auf den Autolärm, auf das Rascheln beim Umblättern der Buchseiten, auf Gesprächsfetzen und dann verschwanden die negativen Gedanken wieder. Sie wiederholte den Trick so lange, bis die ›negativen Gedanken‹ – weil Maria sie annahm und zugleich freundlich in die Schranken verwies – länger fernblieben.

Einer dieser negativen Gedanken war, daß sie Ralf womöglich nie wiedersehen würde. Mit ein wenig Übung und viel Geduld gelang es ihr, den negativen in einen positiven Gedanken zu verwandeln: Selbst wenn sie einmal nicht mehr hier lebte, würde Genf für immer mit dem Gesicht eines Mannes mit langem, altmodisch geschnittenem Haar, kindlichem Lächeln und tiefer Stimme verbunden bleiben. Und wenn dann jemand sie fragen würde, wie ihr die Stadt vorgekommen sei, die sie als junge Frau kennengelernt hatte, könnte sie sagen:

›Schön, imstande zu lieben und geliebt zu werden.‹

Aus Marias Tagebuch, an einem Tag, an dem sie erst später ins ›Copacabana‹ mußte:

Sex ist wie eine Droge, das merke ich immer deutlicher, und hat für die meisten Leute, mit denen ich hier zusammentreffe, eine ähnliche Funktion: Der Sex soll ihnen helfen, der Realität zu entfliehen, ihre Probleme zu vergessen, sich zu entspannen. Er ist auch genauso schädlich wie eine Droge.

Wenn jemand sich berauschen will, egal ob mit Sex oder etwas anderem, dann ist das seine Sache; mit guten oder weniger guten Konsequenzen, je nachdem. Aber wenn wir im Leben weiterkommen wollen, müssen wir lernen, zwischen gut und wirklich gut zu unterscheiden.

Anders als meine Kunden glauben, kann man Sex nicht zu beliebigen Zeiten praktizieren. Jeder hat dafür eine innere Uhr, deren Zeiger auf die innere Uhr seines Partners abgestimmt sein müssen. Das klappt nicht immer. Wer liebt, braucht den Sex nicht, um sich gut zu fühlen. Zwei Menschen, die sich liebhaben, müssen ihre Zeiger geduldig und beharrlich in vielfältigen Rollenspielen aufeinander abstimmen, bis sie begreifen, daß Liebe sehr viel mehr ist als eine Begegnung zweier Körper; es ist eine »Umarmung« von Körper und Seele zugleich.

Alles ist wichtig. Ein Mensch, der sein Leben intensiv lebt, genießt die ganze Zeit, auch ohne Sex. Und wenn er Sex hat, dann geschieht das aus dem Überfluß heraus. Wie bei einem Glas Wein, das so lange gefüllt wird, bis es irgendwann zwangsläufig überläuft. Genauso unausweichlich ist die körperliche Vereinigung, weil der Mensch in diesem Augenblick den Ruf des Lebens annimmt, weil er dann – und nur dann fähig ist, loszulassen, die Kontrolle aufzugeben.

PS: Habe gerade gelesen, was ich da geschrieben habe. Himmel, klingt das intellektuell!

Kurz nachdem sie dies geschrieben hatte und sich auf eine weitere Nacht als ›zärtliche Mutter‹ oder ›naive Unschuld‹ vorbereitete, ging die Tür des ›Copacabana‹ auf, und Terence kam herein.

Milan hinter der Bar wirkte zufrieden: das Mädchen hatte seine Erwartungen nicht enttäuscht. Maria mußte sofort an Terence' Worte denken, die so rätselhaft auf sie gewirkt hatten: »Schmerz, Leid und viel Lust.«

»Ich bin extra aus London herübergeflogen, um dich zu sehen. Ich habe viel an dich gedacht.«

Sie lächelte, versucht e dabei, ihr Lächeln nicht ermutigend wirken zu lassen. Wieder hielt er sich nicht an das Ritual, lud sie weder zu einem Drink noch zum Tanzen ein, setzte sich einfach nur an ihren Tisch.

»Wenn ein Lehrer seiner Schülerin etwas Neues zeigt, entdeckt der Lehrer dabei auch etwas Neues.«

»Ich weiß, wovon du redest«, entgegnete Maria, die an Ralf Hart denken mußte und die bedauerte, daß nicht Ralf, sondern Terence dasaß und sie seine Wünsche respektieren und alles tun mußte, um ihn zufriedenzustellen.

»Willst du weitermachen?«

Tausend Franken. Ein verborgenes Universum. Ein Chef, der sie ansah. Die Gewißheit, daß sie aufhören könnte, wann sie wollte. Das festgelegte Datum ihrer Rückkehr nach Brasilien.

Ein anderer Mann, auf dessen Besuch sie vergebens wartete.

»Hast du's eilig?« fragte Maria.

Er verneinte. Was sie wolle?

»Ich möchte meinen Drink, meinen Tanz, Respekt.«

Er zögerte minutenlang, aber das gehörte zum Rollenspiel, zum Beherrschen und zum Beherrschtwerden. Er spendierte ihr einen Drink, tanzte mit ihr, ließ ein Taxi kommen, gab ihr unterwegs das Geld. Sie hielten vor demselben Hotel. Sie traten ein, er grüßte den italienischen Portier genauso wie in der Nacht, als sie sich kennengelernt hatten. Terence bewohnte auch wieder dieselbe Suite mit Blick auf den Fluß wie beim ersten Mal.