Milan und Maria standen da und wußten nicht, was sie sagen sollten.
»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
»In der Art nicht. Er muß tatsächlich ein kleines Vermögen gekostet haben, aber Nyahs Kunde ist schließlich auch Manager aus der Chefetage eines Ölkonzerns. Ich habe schon andere, moderne gesehen.«
»Und was macht man damit?«
»Man steckt sie sich in den Körper… und bittet die Frau, die Kurbel zu drehen. Und dann bekommt man da drin einen Schlag.«
»Könnte der Mann das nicht auch allein machen?«
»Beim Sex kann man alles auch allein machen. Aber mir ist es lieber, die Leute machen solche Dinge weiterhin zu zweit, sonst kann ich meinen Nachtclub dichtmachen, und du kannst als Lebensmittelverkäuferin arbeiten gehen. Wo wir gerade von Arbeit sprechen: Dein spezieller Freier hat sich angesagt; lehne bitte jede andere Einladung ab.«
»Das werde ich. Auch seine. Ich bin nämlich da, um mich zu verabschieden. Ich gehe.«
Milan stutzte, begriff nicht:
»Der Maler?«
»Nein. Das ›Copacabana‹. Es gibt eine Grenze – und heute morgen habe ich diese Grenze erkannt, als ich unten am See auf die Blumenuhr geschaut habe.«
»Und wo liegt diese Grenze?«
»Beim Preis für eine Farm zu Hause in Brasilien. Ich weiß, ich könnte noch mehr verdienen, noch ein Jahr arbeiten, aber was für einen Unterschied macht das schon?
Der Unterschied ist: Ich würde ewig weiter in dieser Falle stecken, genau wie du, und das sind die Freier, die Direktoren, die Piloten, Headhunter, Manager von Plattenfirmen, Discobetreiber, die vielen Männer, die ich kennengelernt habe, denen ich meine Zeit verkauft habe, die sie mir nicht zurückverkaufen können. Wenn ich einen Tag länger bleibe, bleibe ich ein ganzes Jahr, und wenn ich noch ein Jahr bleibe, komme ich hier nie wieder heraus.«
Milan nickte verstohlen zum Zeichen, daß er begriffen hatte. Er konnte jetzt nichts sagen, denn wenn die anderen Mädchen von Marias Entscheidung erfuhren, ließen sie sich womöglich anstecken. Aber er war ein guter Mensch. Er gab ihr zwar nicht direkt seinen Segen, unternahm aber auch nichts, um sie umzustimmen.
Sie bestellte einen Drink – ein Glas Champagner –, sie hatte genug von den ewigen Fruchtcocktails und konnte trinken, was sie wollte, sie war schließlich nicht mehr im Dienst. Milan sagte, sie könne ihn jederzeit anrufen, wenn sie etwas brauche; sie sei immer willkommen. Und übrigens: Der Champagner gehe aufs Haus. Maria nahm die Einladung an: sie hatte dem Haus mehr als einen Drink eingebracht.
Aus Marias Tagebuch, nachdem sie wieder zu Hause war:
Ganz genau weiß ich es nicht mehr, aber kürzlich bin ich an einem Sonntag in die Kirche gegangen. Ich wollte zur Messe. Nach einer Weile bemerkte ich, daß ich in der falschen Kirche saß – es war eine protestantische Kirche.
Ich wollte gerade gehen, als der Pfarrer mit seiner Predigt begann, und weil ich nicht unhöflich sein und einfach davongehen wollte, blieb ich sitzen. Letztlich war es ein Segen, weil ich an diesem Tag Dinge zu hören bekam, die ich dringend nötig hatte.
Der Pfarrer sagte in etwa:
»Alle Sprachen der Welt kennen dieses Sprichwort: ›Aus den Augen, aus dem Sinn.‹ Nichts ist weniger wahr: Je weiter etwas weg ist, desto größer ist die Sehnsucht, desto stärker die Gefühle, die wir zu unterdrücken und zu vergessen versuchen.
Leben wir im Exil, klammern wir uns mit jeder Faser unseres Gedächtnisses an unsere heimatlichen Wurzeln. Leben wir fern von unserer oder unserem Geliebten, erinnert uns jeder, der auf der Straße an uns vorbeigeht, an sie beziehungsweise ihn.
Viele Bücher der Bibel und auch heilige Texte anderer Religionen wurden im Exil geschrieben, als eine Form von Suche nach Gott, nach dem Glauben, der die Völker vorantreibt, als eine Art Wallfahrt der auf Erden umherirrenden Seelen. Unsere Vorfahren wußten ebensowenig wie wir, was die Gottheit von uns im Leben erwartet, und aus diesem Nichtwissen heraus werden die Bücher geschrieben, die Bilder gemalt, weil wir nicht vergessen wollen und sollen, wer wir sind.«
Am Ende des Gottesdienstes bin ich zum Pfarrer gegangen und habe mich bedankt. Ich habe ihm gesagt, ich sei Ausländerin und sei ihm dankbar, daß er mich daran erinnert habe, daß das, was wir nicht sehen, doch dem Herzen nah bleibt. Und weil ich mein Herz spüre, gehe ich heute.
Sie nahm die beiden Koffer und legte sie aufs Bett. Anfangs hatte sie sich ausgemalt, wie viele Geschenke sie hineinpacken würde, neue Kleider, Fotos von schneebedeckten Gipfeln und den Hauptstädten Europas, Erinnerungen an eine glückliche Zeit, in der sie im sichersten und großzügigsten Land der Welt gelebt hatte. Sie hatte tatsächlich ein paar neue Kleider und ein paar Fotos vom Schnee, der einmal in Genf gefallen war. Doch sonst war nichts so gewesen, wie sie es sich ausgemalt hatte.
Sie war mit dem Traum hierhergekommen, viel Geld zu verdienen, das Leben und sich selbst kennenzulernen, einen Ehemann zu finden; sie wollte eine Farm für ihre Eltern kaufen und die beiden später einmal nach Genf einladen, ihnen zeigen, wo sie gewohnt hatte. Und nun kehrte sie mit genau dem Geldbetrag zurück, den sie benötigte, um einen Teil ihres Traumes zu verwirklichen. Aber sie war nie wirklich in den Bergen gewesen, und vor allem war sie sich selbst fremd geblieben. Dennoch war sie froh, zumindest rechtzeitig gemerkt zu haben, wann der Moment da war, um aufzuhören.
Wenige Menschen auf der Welt können das.
Sie hatte nur vier Abenteuer erlebt – Tänzerin in einem Nachtclub sein, Französisch lernen, als Prostituierte arbeiten und einen Mann bedingungslos lieben. Es gab nicht viele Menschen, die in einem Jahr so viel erlebt hatten. Sie war glücklich – trotz aller Traurigkeit, und diese Traurigkeit hatte einen Namen, sie hieß weder Prostitution noch Schweiz, noch Geld, sondern Ralf Hart. Obwohl sie es sich nicht eingestand, hätte sie ihn gern geheiratet, ihn, der sie jetzt in einer Kirche erwartete, um sie in seine Welt mitzunehmen, damit sie seine Freunde, seine Malerei kennenlernte.
Sie überlegte, ob sie einfach nicht zur Verabredung gehen und sich bis zum Abflug morgen früh in einem Hotel am Flughafen einquartieren sollte. Für jede Minute, die sie an seiner Seite verlebt hatte, würde sie ein Jahr leiden müssen, für all das, was sie hätte sagen können und nicht sagen würde, für die Erinnerung an seine Hand, seine Stimme, seine Unterstützung, seine Geschichten.
Sie hob den Kofferdeckel, holte den kleinen Eisenbahnwaggon heraus, den Ralf ihr in der ersten Nacht in seinem Haus gegeben hatte. Sie betrachtete ihn eine Weile und warf ihn dann in den Müll. Dieser Zug verdiente es nicht, Brasilien kennenzulernen. Er hatte einem Kind, das ihn sich immer gewünscht hatte, keine Freude gebracht.
Nein, sie würde nicht in die Kirche gehen; denn sonst wü rde Ralf sie nach ihren Plänen für morgen fragen und sie, wenn sie ehrlich antwortete, daß sie wegging, bitten zu bleiben, ihr das Blaue vom Himmel versprechen, nur um sie nicht zu verlieren; er würde ihr seine Liebe erklären, obwohl er sie ihr doch schon die ganze Zeit gezeigt hatte.
Dabei hatten sie gelernt, sich frei und bedingungslos zu lieben – eine andere Art von Beziehung würde nicht gutgehen –, und vielleicht liebten sie sich gerade deshalb, weil sie einander nicht brauchten. Männer erschrecken immer, wenn Frauen ihnen signalisieren: ›Ich will von dir abhängig sein.‹ Und Maria wollte die Erinnerung an einen verliebten Ralf Hart mitnehmen, der für sie durchs Feuer gegangen wäre.
Noch konnte sie es sich überlegen, ob sie zu dem Treffen gehen wollte oder nicht. Einstweilen mußte sie sich um ganz praktische Dinge kümmern. Es lag noch so viel herum, was sie nicht in den Koffern verstauen konnte. Sollte doch der Hausbesitzer entscheiden, was er mit ihren restlichen Habseligkeiten machen wollte, mit den Küchengeräten, den Bildern vom Flohmarkt, den Handtüchern und der Bettwäsche. Sie konnte unmöglich alles nach Brasilien mitnehmen, auch wenn ihre Eltern es nötiger brauchten als jeder Schweizer Bettler; sie würden sie an alle diese Abenteuer erinnern, in die sie sich gestürzt hatte.
Sie verließ die Wohnung, ging zur Bank und hob ihr gesamtes Erspartes ab. Der Direktor – ein Stammkunde von ihr – wollte sie umstimmen, ihr Konto würde weiterhin Zinsen abwerfen, die sie sich auch daheim in Brasilien ausbezahlen lassen konnte. Zudem könnte man sie ausrauben, und dann wäre der Lohn so vieler Monate Arbeit weg. Maria zögerte. Der Mann meinte es bestimmt gut mit ihr. Doch dann entschied sie, daß das Geld auf ihrem Konto sich nicht in Papier verwandeln sollte, sondern in eine Farm, ein Haus für ihre Eltern, etwas Vieh und noch viel mehr Arbeit.
Sie hob das Geld bis auf den letzten Rappen ab, steckte alles in ein eigens dafür gekauftes Täschchen, das sie sich unter der Kleidung um die Taille schnallte.
Dann ging sie ins Re isebüro, um ihr Ticket abzuholen. Sie betete, daß sie den Mut haben möge, ihr Vorhaben zu Ende zu führen: Ihre Maschine würde morgen in Paris zwischenlanden, wo sie umsteigen mußte. Das machte nichts – wichtig war, daß sie möglichst weit weg war, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Sie ging zur Mont-Blanc-Brücke, kaufte sich trotz des kalten Wetters ein Eis. Plötzlich sah sie Genf mit anderen Augen, nicht wie jemand, der dort wohnte, sondern als wäre sie eben erst angekommen und machte nun einen ersten Rundgang durch die Museen, historischen Gebäude und die Bars und Restaurants, die gerade in Mode waren. Merkwürdig, wie man solche Rundgänge immer aufschiebt, wenn man in einer Stadt lebt, bis man wegzieht und dann ist es zu spät.
Sie sagte sich, daß sie zufrieden sein sollte, weil sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie sagte sich, daß sie eigentlich auch traurig sein müßte, weil sie eine Stadt verließ, in der es ihr so gutgegangen war. Doch sie war weder zufrieden noch richtig traurig. Sie vergoß ein paar Tränen, und es beschlich sie wieder die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, obwohl sie doch intelligent war und alle Voraussetzungen erfüllte, um Erfolg zu haben.
Sie drückte sich die Daumen, daß sie es diesmal richtig machte.
Die Kirche war vollkommen leer, als sie eintrat, und sie konnte ungestört die schönen Glasfenster betrachten, durch die gleißendes, von den Stürmen der vergangenen Nacht gereinigtes Tageslicht hereinfiel. Vor ihr auf dem Altar stand ein nacktes Kreuz: kein Folterinstrument mit dem gekreuzigten Christus, sondern ein Symbol der Auferstehung. Dies war ein Kreuz, das seinen Schrecken verloren hatte. Unwillkürlich mußte sie an die Peitsche in der Gewitternacht denken und fragte sich entsetzt: ›Mein Gott, wie komme ich bloß darauf?‹