In den ersten zwei Wochen verließ sie kaum die Pension, in der sie untergebracht war, außer um zur Arbeit zu gehen, denn sie konnte sich nicht verständlich mache n, da sie kein Französisch sprach. Schließlich kam sie in ihrem kleinen Genfer Zimmer ohne Fernseher, in dem sie sich zu Tode langweilte, zu folgendem Schluß: a) Sie würde nie finden, was sie suchte, solange sie nicht sagen konnte, was sie dachte. Dazu muß te sie die Sprache lernen. b) Da alle ihre Kolleginnen dasselbe suchten, mußte sie anders sein. Wie sie das anstellen sollte, wußte sie allerdings noch nicht.
Aus Marias Tagebuch vier Wochen nach ihrer Ankunft in Genf:
Ich bin schon eine Ewigkeit hier, spreche kein Französisch, höre den ganzen Tag lang Musik im Radio, starre an die Zimmerdecke und denke an zu Hause. In meiner Freizeit kann ich es jeweils kaum erwarten, daß es Zeit wird, um zur Arbeit zu geben, und wenn ich arbeite, kann ich es kaum erwarten, daß ich wieder in die Pension zurückkann. Anders ausgedrückt, ich lebe in der Zukunft statt in der Gegenwart.
Eines Tages, in einer fernen Zukunft, werde ich mein Flugticket haben, kann ich nach Brasilien zurückkehren, den Stoffladenbesitzer heiraten und muß mir dann die boshaften Kommentare der Freundinnen anhören, die selbst nie etwas riskiert haben und deshalb bei den anderen nur Niederlagen sehen wollen. Nein, das will ich nicht; da springe ich lieber aus dem Flugzeug, wenn es über dem Ozean fliegt, beziehungsweise, da die Flugzeugfenster ja nicht aufgehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als hier zu sterben. Doch bevor ich sterbe, werde ich um mein Leben kämpfen. Wenn ich allein klarkomme, komme ich überallhin.
Am nächsten Tag schrieb sie sich umgehe nd in einen Vormittagskurs für Französisch ein, wo sie Menschen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen und unterschiedlichsten Alters traf, Männer mit bunten Kleidern und vielen goldenen Armbändern, Frauen, die immer ein Kopftuch trugen, Kinder, die schneller lernten als die Erwachsenen. Sie war stolz darauf zu erfahren, daß alle ihr Land kannten, den Karneval, den Samba, den Fußball und den berühmtesten Menschen der Welt, der Pele hieß.
Nachmittags spazierte sie durch die Stadt und probierte ihre Französischkenntnisse aus, kaufte köstliche Schokolade und einen Käse, den sie noch nie gekostet hatte. Sie entdeckte die Fontäne im See, den Schnee auf den Bergen und wußte, sie war die einzige aus ihrem Heimatort, die so etwas je gesehen hatte. Sie entdeckte die Schwäne, sie entdeckte Restaurants, in denen ein behagliches Kaminfeuer brannte. Sie war auch überrascht, daß nicht alle Plakate für Uhren warben, sondern auch für Banken – wenngleich sie nicht verstehen konnte, wieso es so viele Banken für so wenige Einwohner gab und selten jemand drin war, aber sie beschloß, nicht weiter nachzufragen.
Nach drei Monaten aufgesetzter Fröhlichkeit im ›Gilbert Club‹ verliebte sie sich in einen Araber aus ihrem Französischkurs. Ihre brasilianische Lebensfreude und Sinnlichkeit gewann die Oberhand, und drei Wochen später fuhr sie, statt zur Arbeit zu gehen, mit ihrem Freund zu einem Aussichtspunkt an einem Berg in der Nähe von Genf. Als sie am nächsten Abend zur Arbeit erschien, zitierte Roger sie in sein Büro und kündigte ihr fristlos, mit der Begründung, sie sei ihren Kolleginnen ein schlechtes Vorbild. Roger war außer sich und brüllte, daß auf brasilianische Frauen kein Verlaß sei. Er ließ auch ihre Ausrede nicht gelten, sie habe hohes Fieber gehabt, und klagte darüber, daß er nun wieder nach Brasilien reisen müsse, um einen Ersatz zu finden, und daß er lieber eine Show mit jugoslawischer Musik und machen sollte, mit jugoslawischen Tänzerinnen, die sehr viel hübscher und verläßlicher seien.
Maria war zwar jung, aber gewitzt. Nachdem ihr Liebhaber ihr erzählt hatte, daß in der Schweiz die Arbeitsgesetze sehr streng seien und sie vorbringen könne, sie sei für Sklavenarbeit mißbraucht worden, da der Club einen großen Teil ihres Gehaltes einbehielt, ging sie nochmals in Rogers Büro zurück. Diesmal sprach sie in einigermaßen korrektem Französisch mit ihm und drohte mit einem Anwalt. Sie verließ den Raum unter Beschimpfungen, aber mit fünftausend Dollar Entschädigung, einer Summe, die sie sich nie hatte träumen lassen – alles wegen des magischen Wortes ›Anwalt‹. Jetzt konnte sie den Araber ungehindert lieben, ein paar Geschenke kaufen, ein paar Fotos von sich im Schnee machen lassen und als Siegerin nach Hause zurückkehren.
Zuallererst rief sie zu Hause eine Nachbarin an, weil die Eltern kein Telefon hatten, und erzählte, daß sie glücklich sei und eine großartige Karriere vor sich habe, niemand zu Hause sollte sich Sorgen machen. Da Roger das Zimmer in der Pension angemietet hatte, mußte sie in Kürze ausziehen. Es sah so aus, als bliebe ihr nichts anderes übrig, als zu ihrem Liebhaber zu gehen, ihm ewige Liebe zu schwören, seinen Glauben anzunehmen und ihn zu heiraten (auch wenn dies womöglich hieß, daß sie fortan immer ein Kopftuch tragen müßte); schließlich war allgemein bekannt, daß die Araber sehr reich waren, und das genügte.
Aber ihr Freund war zu dem Zeitpunkt bereits über alle Berge – und im Grunde ihres Herzens dankte sie der Jungfrau Maria, weil sie nun nicht gezwungen war, ihren Glauben zu verraten. Einerseits hatte sie genü gend Geld für einen Rückflug und wußte, daß sie, wenn alle Stricke rissen, den Stoffhändler immer noch heiraten konnte. Andererseits hatte sie eine Arbeitsgenehmigung als Sambatänzerin und eine gültige Aufenthaltsbewilligung und konnte auch schon leidlich Französisch. Darauf beschloß Maria, nun Geld mit ihrer Schönheit zu verdienen. Das traute sie sich zu.
Noch in Brasilien hatte sie ein Buch über einen Hirten gelesen, der auf der Suche nach seinem Schatz viele Schwierigkeiten meistern mußte, die ihm letztlich halfen, seine Träume zu verwirklichen; genau das war auch bei ihr der Fall. Ihr war vollkommen bewußt, daß sie entlassen worden war, um sich ihrem eigentlichen Schicksal zu stellen. Ihr Traum war, Fotomodell oder Mannequin zu werden.
Sie mietete ein kleines Zimmer (ohne Fernseher, aber sie mußte eisern sparen, bis sie wirklich viel Geld verdiente), und am nächsten Tag klapperte sie die Agenturen ab. Alle sagten, daß sie eine Fotomappe abgeben müsse. Schließlich war das eine Investition in ihre Karriere – jeder Traum hat seinen Preis. Sie gab viel Geld für einen hervorragenden Fotografen aus, der wenig redete und viel verlangte: Er hatte einen riesigen Kostümfundus in seinem Studio, und sie posierte in extravaganten, edlen Kleidern und sogar in einem Bikini, auf den ihr einziger Bekannter in Rio de Janeiro, Mailson, bestimmt stolz gewesen wäre. Sie bat um einige Extraabzüge, damit sie diese im nächsten Brief ihrer Familie schicken und zeigen konnte, wie glücklich sie in der Schweiz war. Ihre Eltern würden glauben, sie sei nun reich, habe eine beneidenswerte Garderobe und würden es allen erzählen. Sie würde im Ort berühmt werden. Und bei ihrer Rückkehr würde sie von einer Blaskapelle empfangen werden, und wer weiß, vielleicht ließ der Bürgermeister sogar einen Platz nach ihr benennen.
Sie kaufte ein Handy und wartete nun darauf, zu ihrem ersten Job gerufen zu werden. Sie aß bei einem billigen Chinesen, und um sich die Zeit zu vertreiben, büffelte sie Französisch.
Aber die Zeit verging nur langsam, und das Telefon klingelte nicht. Sie war überrascht, daß niemand sie ansprach, wenn sie am Seeufer spazierenging, außer ein paar Drogenhändlern, die immer an derselben Stelle unter der Brücke anzutreffen waren, die den schönen alten Park mit dem neueren Teil der Stadt verband. Sie begann an ihrer Schönheit zu zweifeln, weil niemand anders sie ansprach, bis eine ihrer ehemaligen Arbeitskolleginnen aus dem Club, die sie zufällig in einem Cafe traf, ihr versicherte, daß es nicht an ihr liege. Die Schweizer wollten eben niemanden stören, und die Ausländer hätten Angst, wegen »sexueller Belästigung« festgenommen zu werden.
Eintrag in Marias Tagebuch an einem Abend, als sie nicht mehr den Mut hatte, das Haus zu verlassen, zu leben und weiter auf den Anruf zu warten. Doch der kam nicht.
Heute bin ich an einem Vergnügungspark vorbeigekommen. Da ich mit meinem Geld haushalten muß, habe ich mir nur die Leute angesehen. Ich habe lange vor einer Achterbahn gestanden: Ich sah die meisten Leute da hineingehen, um den großen Kick zu erleben, doch wenn die Bahn sich in Bewegung gesetzt hatte, kamen sie vor Angst fast um und wollten wieder aussteigen.
Was wollten sie bloß? Wenn sie das Abenteuer suchten, sollten sie dann nicht bereit sein, es bis zum Ende durchzustehen? Oder glaubten sie, daß es besser wäre, dieses Auf und Ab nicht mitzumachen und die ganze Zeit in einem Karussell zu sitzen und auf der Stelle zu kreisen?
Im Augenblick bin ich zu einsam, um an Liebe zu denken, aber ich muß mir einreden, daß das vorübergeht, daß ich Arbeit bekomme. Außerdem ich bin hier, weil ich dieses Schicksal selbst gewählt habe. Die Achterbahn ist wie mein Leben, und das Leben ist ein starkes, berauschendes Spiel. Leben heißt mit einem Fallschirm abspringen; Leben heißt etwas riskieren, hinfallen und wieder aufstehen; Leben ist wie Steilwandklettern, es bedeutet, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis man den eigenen Gipfel erklommen hat.
Es fällt mir nicht leicht, weit weg von meiner Familie zu sein, meine Gefühle nicht in meiner Muttersprache ausdrücken zu können, aber von heute an werde ich jedesmal, wenn ich deprimiert hin, an diesen Vergnügungspark denken. Was für ein Gefühl wäre es, wenn ich abends in meinem Bett einschlafen und morgens plötzlich in einer Achterhahn aufwachen würde?
Nun, zuallererst würde ich das Gefühl haben, gefangen zu sein, mir würde in den Kurven vor Angst speiübel werden, und ich würde aussteigen wollen. Wenn ich allerdings darauf vertraue, daß die Schienen mein Schicksal sind, daß Gott diese Maschine lenkt, dann würde dieser Alptraum etwas Aufregendes. Die Achterbahn wäre genau das, was sie auch ist, eine sichere, vertrauenswürdige Konstruktion mit kleinen Wägelchen, die an ihr Ziel gelangen werden. Und während der Fahrt kann ich die Landschaft um mich herum betrachten und vor Aufregung schreien.
Obwohl sie Gedanken aufschreiben konnte, die sie für sehr weise hielt, gelang es ihr nicht, ihren eigenen Rat zu beherzigen. Die Augenblicke, in denen sie deprimiert war, wurden zahlreicher, und das Telefon schwieg weiterhin. Um sich die Zeit zu vertreiben und ihr Französisch zu üben, kaufte sich Maria irgendwelche Klatschzeitschriften, stellte aber bald fest, daß es auf die Dauer teuer wurde. Sie ging in die Stadtbücherei. Die Dame an der Ausleihe sagte ihr, sie könne ihr zwar keine Zeitschriften ausleihen, ihr dafür aber einige einfache Bücher auf französisch empfehlen.