»Ich habe keine Zeit, Bücher zu lesen.«
»Wieso haben Sie keine Zeit? Was machen Sie denn?«
»Eine ganze Menge: Ich lerne Französisch, schreibe Tagebuch und…«
»Und was?«
Sie wollte gerade sagen: »…und warte darauf, daß das Telefon klingelt«, schwieg dann aber.
»Ach, Kind, Sie sind jung, haben das Leben vor sich! Lesen Sie! Vergessen Sie, was man Ihnen über Bücher gesagt hat, und lesen Sie!«
»Aber ich hab doch schon viel gelesen!«
Plötzlich fiel Maria wieder das ein, was Mailson einmal als »Energien« bezeichnet hatte. Die Bibliothekarin vor ihr wirkte einfühlsam und sanft und wie jemand, der ihr notfalls helfen könnte. Sie mußte sie für sich einnehmen, intuitiv spürte sie, daß diese Frau eine Freundin werden könnte.
»Ich möchte noch mehr lesen. Helfen Sie mir bitte bei der Auswahl.«
Die Frau gab ihr ein Buch mit dem Titel Der kleine Prinz. In derselben Nacht begann sie, darin zu blättern, schaute sich die Zeichnungen am Anfang an und entdeckte ein Bild von etwas, das wie ein Hut aussah, von dem der Autor aber meinte, Kinder würden darin eine Schlange mit einem Elefanten im Bauch erkennen. »Ich glaube, ich war nie ein Kind«, dachte sie bei sich. »Für mich sieht das wie ein Hut aus.« Da sie keinen Fernseher hatte, las sie weiter und begleitete den kleinen Prinzen auf seinen Reisen. Doch als es dann in der Geschichte um die Liebe ging, wurde sie traurig – denn sie hatte sich geschworen, die Liebe aus ihren Gedanken zu verbannen. Von den schmerzlichen romantischen Szenen zwischen einem Prinzen, einem Fuchs und einer Rose einmal abgesehen, fesselte sie das Buch so sehr, daß sie alles andere vergaß. Zumindest sah sie jetzt nicht mehr alle fünf Minuten nach, ob der Akku des Handys ge laden war (ihre größte Angst war, daß sie die Chance ihres Lebens wegen einer Nachlässigkeit verpassen könnte).
Maria ging nun regelmäßig in die Bücherei, ließ sich von der Bibliothekarin beraten, die ebenso einsam wirkte wie sie selbst, redete mit ihr über das Leben und über die Autoren. Ihr Erspartes war inzwischen fast aufgebraucht. Bald würde sie nicht einmal mehr genug Geld haben, um ein Rückflugticket zu kaufen. Doch da das Leben immer auf kritische Situationen wartet, um sich dann von seiner Sonnenseite zu zeigen, klingelte endlich das Telefon.
Drei Monate nachdem sie das französische Wort für ›Rechtsanwalt‹ im richtigen Moment angewandt hatte und von der Entschädigung lebte, die sie dadurch erwirkt hatte, rief endlich eine Modelagentur an. Ob Mademoiselle Maria unter dieser Nummer zu erreichen sei. Die Antwort war ein kühles »Ja«, das Maria lange geübt hatte, um jegliche Erwartung daraus zu tilgen. Sie erfuhr, daß ein arabischer Modefotograf, dem ihre Mappe sehr gefallen hätte, sie einlud, an einer Modenschau teilzunehmen. Maria erinnerte sich an die kürzlich erlebte Enttäuschung mit einem anderen Araber, dachte aber auch an das Geld, das sie dringend brauchte.
Sie verabredeten sich in einem schicken Restaurant. Ein eleganter Herr kam herein, viel besser aussehend als ihr arabischer Exfreund. Eine der ersten Fragen, die er ihr stellte, war, ob sie das Bild an der Wand neben ihrem Tisch erkenne. »Wissen Sie, von wem es ist? Von Joan Miro. Kennen Sie Joan Miro?«
Maria schwieg und tat, als müßte sie sich auf das Essen konzentrieren, das erheblich besser war als das bei ihrem billigen Chinesen. Gleichzeitig nahm sie sich vor, bei ihrem nächsten Bibliotheksbesuch ein Buch über Miro auszuleihen.
Doch der Araber ließ nicht locker. »An diesem Tisch da hat immer Federico Fellini gesessen. Wie finden Sie die Filme von Fellini?«
Sie antwortete, daß sie sie liebe. Der Araber wollte ins Detail gehen, worauf Maria, der klar war, daß ihre Bildung den Test nicht bestehen würde, mit offenen Karten spielte.
»Ich will Ihnen nichts vormachen. Der einzige Unterschied, den ich kenne, ist der zwischen Coca-Cola und Pepsi. Wollten Sie mit mir nicht über eine Modenschau sprechen?«
Die Offenheit des Mädchens schien den Araber positiv zu beeindrucken. »Darüber sprechen wir nach dem Abendessen bei einem Drink.«
Es entstand eine Pause, während sie sich gegenseitig taxierten und die Gedanken des anderen zu erraten versuchten.
»Sie sind sehr hübsch«, brach der Araber das Schweigen. »Wenn Sie sich zu einem Drink mit mir in meinem Hotel entschließen können, zahle ich Ihnen tausend Franken.«
Maria schaltete sofort. War die Modelagentur schuld? War es ihre eigene Schuld, hätte sie in bezug auf das Abendessen genauer nachfragen müssen? Nein, die Agentur konnte nichts dafür, und sie selbst auch nicht und auch nicht der Araber: genauso liefen die Dinge eben. Plötzlich sehnte sie sich nach dem sertão zurück und nach den Armen ihrer Mutter. Sie erinnerte sich an Mailson, an den Abend in Rio, als er von den üblichen dreihundert Dollar gesprochen hatte; damals war sie geschmeichelt gewesen, für eine Nacht von einem Mann eine solche Summe angeboten zu bekommen. In diesem Augenblick jedoch wurde ihr bewußt, daß sie niemanden hatte, absolut niemanden, mit dem sie sich beraten konnte; sie war allein in einer fremden Stadt, und trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre hatte sie nicht genug Lebenserfahrung, um zu wissen, was sie tun sollte.
»Kann ich bitte noch etwas Wein haben?«
Der Araber schenkte ihr ein, während ihre Gedanken schneller reisten als der kleine Prinz zu den verschiedenen Planeten. Sie war hierher gekommen auf der Suche nach Abenteuern, Geld und vielleicht einem Mann. Sie war nicht naiv, sie kannte die Männer und hatte erwartet, daß sie irgendwann einen solchen Antrag bekommen würde. Trotzdem träumte sie weiter von einer Karriere als Model, von Starruhm, einem reichen Mann, einer Familie, Kindern, Enkeln, schönen Kleidern und einer triumphalen Rückkehr in ihre Heimatstadt. Und sie träumte davon, alle Schwierigkeiten allein mit ihrer Intelligenz, ihrem Charme und ihrer Willenskraft zu meistern.
Aber die Wirklichkeit war kein Traum. Zur großen Überraschung des Arabers brach sie unversehens in Tränen aus. Der Mann wußte nicht, wie er reagieren sollte: seinem Beschützerinstinkt nachgeben oder sich dafür schämen, daß seine Begleiterin so aus der Rolle fiel. Er wollte gerade dem Kellner winken, sofort die Rechnung zu bringen, als Maria sagte: »Bitte nicht. Schenken Sie mir lieber noch etwas nach, und lassen Sie mich ausweinen.«
Maria mußte an den Jungen denken, der sie um den Bleistift gebeten hatte, und an den anderen Jungen, den sie mit geschlossenem Mund geküßt hatte, an ihre Woche in Rio de Janeiro, an die Männer, die sie benutzt hatten, ohne ihr etwas dafür zurückzugeben, an die Leidenschaften und Lieben, die sie auf ihrem Weg zurückgelassen hatte. Ihr Leben war, trotz der vermeintlichen Freiheit, ein endloses Warten auf ein Wunder gewesen, auf die wahre Liebe oder wenigstens ein Liebesabenteuer mit Happy-End, wie im Film. Oder wie in den Romanen, die sie gelesen hatte. Ein Schriftsteller hatte behauptet, daß nicht die Zeit den Menschen verändere und auch nicht die Weisheit – das einzige, was jemanden verändern könne, sei die Liebe. So ein Unsinn! Wer das geschrieben hatte, kannte nur die halbe Wahrheit.
Natürlich konnte die Liebe das Leben eines Menschen von einem Augenblick auf den anderen ganz und gar verändern. Doch nicht nur die Liebe brachte den Menschen dazu, ungewohnte Wege einzuschlagen, sondern auch die Verzweiflung. Ja, vielleicht konnte die Liebe jemanden verändern, aber Verzweiflung schafft es schneller.
Was nun, Maria?
Sollte sie davonlaufen, so schnell wie möglich nach Brasilien zurückkehren, Französischlehrerin werden und den Stoffhändler heiraten? Oder sollte sie eine einzige Nacht etwas weitergehen in einer Stadt, in der sie niemanden kannte und in der niemand sie kannte? Und würden die eine Nacht und das schnell verdiente Geld sie dazu verleiten weiterzumachen, so lange, bis es kein Zurück mehr gab? Stand sie vor einer einmaligen Gelegenheit, oder war dies eine Prüfung der Jungfrau Maria?
Der Blick des Arabers schweifte vom Bild Joan Miros zu dem Tisch, an dem Fellini immer gespeist hatte, und weiter zur jungen Garderobiere, zu den Gästen, die ein und aus gingen.
»War Ihnen das nicht klar?«
»Noch mehr Wein, bitte«, schluchzte Maria nur.
Sie betete, daß der Kellner nicht ausgerechnet jetzt an ihren Tisch treten und die Rechnung bringen würde. Und der Kellner, der alles von fern aus den Augenwinkeln beobachtete, betete, daß der Mann und das Mädchen endlich zahlten, weil das Restaurant voll war und Gäste darauf warteten, daß ein Tisch frei wurde.
Nach einer Weile, die ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam, sagte Maria: »Hatten Sie ›ein Drink für tausend Franken‹ gesagt?«
Ihre Stimme kam ihr selbst fremd vor.
»Ja«, antwortete der Araber, dem es schon leid tat, den Vorschlag gemacht zu haben. »Aber ich möchte auf gar keinen Fall…«
»Bitte verlangen Sie die Rechnung! Wir werden den Drink in Ihrem Hotel nehmen.«
Wieder kam ihr die eigene Stimme fremd vor. Bis heute war sie ein freundliches, wohlerzogenes, fröhliches Mädchen gewesen und hätte nicht im Traum so mit einem Fremden zu reden gewagt. Aber es schien, als wäre jenes Mädchen für immer gestorben: Vor ihr lag ein anderes Leben, in dem Drinks tausend Franken kosteten.
Und alles verlief genau so, wie sie es erwartet hatte: Sie ging mit dem Araber ins Hotel, schlürfte Champagner, bis sie völlig betrunken war, machte die Beine breit, wartete, bis er einen Orgasmus hatte (sie kam nicht darauf, einen eigenen vorzutäuschen), wusch sich in der Marmorbadewanne, nahm das Geld und genehmigte sich den Luxus eines Taxis bis zu ihrer Wohnung.
Dort warf sie sich aufs Bett und schlief die ganze Nacht traumlos.
Aus Marias Tagebuch, am Tag danach.
Ich erinnere mich an alles, nur nicht an den Augenblick, in dem ich die Entscheidung getroffen habe. Merkwürdigerweise habe ich überhaupt keine Schuldgefühle. Früher hielt ich die Mädchen, die für Geld mit jemandem ins Bett gehen, für Frauen, denen das Leben keine andere Wahl gelassen hat – und jetzt sehe ich, daß das nicht stimmt.
Ich hätte nein sagen können, keiner hat mich gezwungen.
Ich gehe durch die Straßen, schaue die Leute an, um zu sehen, ob sie ein Leben führen, das sie selbst gewählt haben. Oder ob sie das Schicksal gewähren lassen. Eine Hausfrau, die davon träumt, Model zu werden, ein Bankangestellter, der eigentlich Musiker werden wollte, ein Zahnarzt, der heimlich ein Buch geschrieben hat und lieber Schriftsteller wäre, das Mädchen, das davon geträumt hatte, als Fernsehschauspielerin Karriere zu machen, aber nur einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gefunden hat.