»Keine Sorge«, sagte Hernandez. »Deinem Freund passiert nichts … solange er vernünftig ist und keine Dummheiten versucht.«
»Dummheiten?« Pia wollte nicht mit ihm sprechen. Sie wusste, dass es nicht klug war, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Aber wenn sie kluggewesen wäre, dann wäre sie jetzt gar nicht hier. »Wie am Leben zu bleiben, zum Beispiel?«
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass niemand hier vorhat, dir und deinem Freund etwas zu tun?«, seufzte Hernandez. »Ganz im Gegenteil. Ich weiß allmählich selbst nicht mehr, warum ich das eigentlich tue, aber ich will euch immer noch helfen. Auch wenn es ziemlich schwierig wird, nach dem Mist, den ihr zwei gerade gebaut habt.«
Er hob die Waffe, die er ihr abgenommen hatte, und betrachtete sie einen Moment lang scheinbar interessiert. Dann ließ er die Trommel herausspringen, schüttelte sich die Platzpatronen in die offene Linke und steckte sie ein. Aus der anderen Jackentasche zog er eine Handvoll vollkommen gleich aussehender Patronen (mit dem kleinen Unterschied, dachte Pia, dass diese mit Sicherheit scharf waren) und begann die Trommel umständlich damit zu laden. Was hatte er vor? Jesus und sie mit ihrer eigenen Waffe erschießen?
Statt das zu tun, machte Hernandez einen weiteren Schritt zur Seite und wiederholte seine wedelnde Geste. Pia hörte Geräusche und Schritte und erwartete, Jesus neben sich auftauchen zu sehen, doch stattdessen erschien ein weiterer von Hernandez’ Handlangern, der einen halb benommenen Mann in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug vor sich her scheuchte. Sein Gesicht war angeschwollen, wo ihn Jesus’ Faust getroffen hatte, und Pia glaubte nicht, dass er schon wieder so weit bei sich war, um wirklich zu verstehen, wie ihm geschah.
Er sollte es auch nie wieder werden. Hernandez dirigierte ihn mit einer unwilligen Kopfbewegung zum Rand der Baugrube, hob den Revolver und schoss ihm aus kaum zwei Metern Entfernung ins Gesicht.
Ganz wie Pia erwartet hatte, funktionierte der Schalldämpfer der Waffe nicht mehr. Statt das Schussgeräusch zu verschlucken, löste er sich in glühende Stücke und Rauch auf und schien den peitschenden Knall sogar noch zu verstärken. Der Effekt war so spektakulär, dass er sogar das weit entsetzlichere Bild überlagerte, mit dem die Kugel den unglückseligen Mann traf und rücklings in die Baugrube schleuderte. Vielleicht wollte sie es auch nur nicht sehen.
»Warum … warum haben Sie das getan?«, flüsterte sie entsetzt.
»Ich?« Hernandez brachte es fertig, ehrlich verblüfft auszusehen. »Aber wie kommst du denn darauf, Kind?« Noch immer perfekt den Überraschten spielend, trat er an ihr vorbei an den Rand der Baugrube und feuerte rasch hintereinander auch noch die fünf anderen Kugeln aus der Trommel ab.
»Ich fürchte eher, dass dein Freund und du etwas ziemlich Schlimmes getan habt«, sagte er. »Ich meine: Das ist doch deine Waffe, oder? Jedenfalls hat ein gewisser Hehler hoch und heilig versichert, er hätte sie dir verkauft … natürlich«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, während er in die Tasche griff und eine zusammengefaltete Plastiktüte herausnahm, in die er den Revolver gleiten ließ, »kann man einem solchen Kriminellen nicht glauben, schon gar nicht, wenn sein Wort gegen das einer ehrbaren Bürgerin wie dir steht.«
»Natürlich nicht«, sagte Pia mit belegter Stimme.
Hernandez schloss die Tüte sorgfältig mit einem Clip, steckte sie ein und maß sie mit einem langen, bedauernden Blick, bei dem seine Augen so kalt wie Eis blieben. »Unglückseligerweise, fürchte ich, hat er die Geldscheine aufgehoben, mit denen du die Waffe angeblich bezahlt haben sollst. Selbstverständlich glaube ich ihm kein Wort … aber sollten sich deine Fingerabdrücke auf den Geldscheinen finden, haben wir ein Problem.«
»Warum erschießen Sie mich nicht einfach?«, fragte Pia erneut.
Hernandez schien einen Moment lang ernsthaft über diesen Vorschlag nachzudenken, doch dann schüttelte er den Kopf, drehte sich auf dem Absatz herum und ging zu dem Leinenbeutel zurück. Bedächtig ließ er sich davor in die Hocke sinken, griff hinein und nahm jedes einzelne Päckchen heraus, um es kurz zu begutachten, bevor er es wieder zurücklegte. Er wirkte sehr zufrieden.
»Und?«, fragte Pia. »Hat es sich gelohnt?«
»Eine Million in bar, schätze ich«, antwortete Hernandez, während er aufstand, »und noch einmal dasselbe in Drogen – doppelt so viel, wenn wir es ein wenig verschneiden und in kleinen Portionen auf den Markt werfen statt auf einmal. Ja, man könnte sagen, dass es sich gelohnt hat. Aber ihr habt ein Problem, fürchte ich. Die Leute, denen das Zeug gehört, werden ein bisschen verärgert sein.«
»Außer natürlich, Sie präsentieren ihnen unsere Leichen«, vermutete Pia.
»Das wäre dumm«, erwiderte Hernandez. Er gab einem seiner Begleiter ein Zeichen, woraufhin sich dieser den Beutel schnappte und ihn über die Schulter hängte. Der Mann kam Pia vage bekannt vor, und nach einer Sekunde erinnerte sie sich auch. Sie hatte ihn schon einmal gesehen; nur hatte er da eine Polizeiuniform getragen. Ganz allmählich begann das alles hier einen Sinn zu ergeben.
»Ja, das wäre dumm«, bestätigte sie. »Sie würden sich fragen, wo ihr Geld geblieben ist und ihre Ware. Deswegen ist es besser, wenn wir einfach verschwinden.«
»Viel besser«, bestätigte Hernandez. »Zumal da auch noch die Bilder der Überwachungskamera sind, die beweisen, wie eindringlich ich versucht habe, dich zur Vernunft zu bringen. Ich fürchte, dein Freund und du müsst für eine Weile untertauchen. Wir bringen euch aus der Stadt, und ihr bekommt genug Geld, um woanders neu anzufangen.« Er hob die Schultern. »Natürlich ist es eure Entscheidung, aber ich an eurer Stelle würde so schnell nicht zurückkommen. Die Leute, denen das alles hier gehört, verstehen nicht viel Spaß, fürchte ich.«
Er anscheinend schon, dachte Pia bitter. Er würde Jesus und sie aus der Stadt schaffen, alle Spuren verwischen und ihnen auch noch genug Geld geben, damit sie woanders neu anfangen könnten? Sicher. Und die Erde war eine Scheibe.
Pias Gedanken überschlugen sich. Selbstverständlich würde Hernandez dafür sorgen, dass sie verschwanden, und zwar spurlos und für alle Zeiten, aber sie bezweifelte dennoch, dass er es hier tun würde. Ihre Leichen waren so ziemlich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Und das bedeutete, dass sie noch eine Chance hatten.
»Also, was soll ich jetzt tun?«, fragte Hernandez erneut.
»Wir könnten wirklich verschwinden«, sagte sie nervös.
Hernandez blinzelte. »Wie?«
»Sie müssen uns nicht umbringen«, fuhr sie fort. Ihre Stimme zitterte hörbarer, als ihr lieb war, aber sie konnte es nicht unterdrücken. »Ich meine, ein … ein Mord ist immer ein Risiko, das wissen Sie doch besser als ich. Irgendwas kann immer schiefgehen, und wenn man noch so gründlich plant. Sie gehen kein Risiko ein, wenn sie uns am Leben lassen.«
»Sicher nicht«, sagte Hernandez spöttisch.
»Wem sollten wir schon davon erzählen?«, beharrte Pia. Sie musste Zeit gewinnen, und wenn Hernandez sie für feige oder naiv oder einfach nur verrückt hielt, umso besser. »Keiner würde uns die Geschichte glauben. Sie haben den Revolver mit meinen Fingerabdrücken, und die Drohne vorhin hat unser Gespräch aufgezeichnet, habe ich recht?«
»Kluges Kind.«
»Wir …wir wollen nicht einmal Geld«, fuhr Pia fort. »Lassen Sie uns einfach gehen. Wir verschwinden aus der Stadt und kommen nie wieder zurück.«
»Da bin ich mir sogar ganz sicher«, sagte Hernandez.
Ihre Furcht wurde zu etwas … anderem. Sie würden sterben, begriff Pia. Jesus und sie würden sterben, nicht hier und jetzt, aber bald. Vielleicht in einer Stunde, vielleicht etwas später. Dieser Gedanke war beinahe noch schlimmer.
Und irgendetwas … geschah.
Pia konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, denn es war etwas, das sie noch nie zuvor gespürt hatte, und es war durch und durch grässlich; als hätte sich das Gewebe der Realität verändert und stülpe sich von innen nach außen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es entsetzlich kalt, und die Luft, die sie zu atmen versuchte, schien sich in etwas anderes, etwas Blitzendes zu verwandeln. Unsichtbare Bänder schmiegten sich um ihre Glieder und verwandelten jede noch so winzige Bewegung in eine gewaltige Kraftanstrengung, und irgendetwas stimmte plötzlich mit den Schatten nicht mehr.