Mit einem Schrei prallte sie zurück, stolperte und stieß gegen einen tausend Jahre alten Tisch, der unter ihrem Anprall zu Staub zerfiel. Sie fiel, sprang wieder auf die Füße, noch bevor sich die jahrhundertealte Staubwolke ganz entfalten konnte, wirbelte auf dem Absatz herum und gewahrte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, der sie mit einem blitzartigen Haken auswich. Etwas wie ein Schrei gellte in ihren Ohren, schrill und unmenschlich spitz und laut, dann packte eine Hand ihren Oberarm, und Pia reagierte ganz instinktiv, indem sie das dazugehörige Handgelenk ergriff und mit einem harten Ruck herumdrehte. Der Schrei klang jetzt eindeutig entsetzt und brach dann mit einem Japsen ab, als Lasar schwer auf dem Rücken aufschlug. Die linke Hand, die mit versteiftem Zeige- und Mittelfinger zu einem tödlichen Stich gegen seine Augen ausgeholt hatte, konnte sie gerade noch im letzten Moment zurückreißen.
»Lasar?«, murmelte sie erschrocken. »Aber was …« Pia hob mit einem Ruck den Kopf und starrte den Thron an. Er war leer, nur mit dem Staub eines Jahrtausends bedeckt. Sie war vollkommen allein. »… tust du denn hier?«
Lasar arbeitete sich stöhnend halb auf die Ellbogen hoch. Er hatte seine Fackel fallen gelassen, und das bisschen Licht, das es jetzt noch gab, reichte gerade aus, um seine Angst zu erkennen.
Es dauerte eine geschlagene Sekunde, bis Pia begriff, dass er nicht ihr Gesicht, sondern ihre linke Hand anstarrte, die noch immer wie zum tödlichen Stich erhoben war. Hastig und eindeutig schuldbewusst ließ sie den Arm sinken und fragte sich zugleich verblüfft, woher sie diesen ebenso tödlichen wie brutalen Schlag kannte; und vor allem, wieso sie so ganz instinktiv dazu angesetzt hatte, ihn zu führen.
»Habe ich dir wehgetan?« Was für eine blöde Frage.
»Nein«, log Lasar. »Alles in Ordnung.« Was ihn allerdings nicht daran hinderte, sich von ihr aufhelfen zu lassen. Er ließ es sogar zu, dass sie sich zuerst nach ihrer und dann seiner eigenen Fackel bückte und ihm die deutlich weiter heruntergebrannte reichte. Danach drehte sie sich einmal – sehr langsam – im Kreis und sah sich um. Die einzige Bewegung, die sie sah, war Staub, der im Fackelschein tanzte.
Keine Gespenster.
Kein Eirann.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lasar.
Sollte sie nicht eigentlich ihm diese Frage stellen? »Mir geht es gut«, sagte sie. »Aber was tust du überhaupt hier? Wolltest du nicht unten in der Halle auf mich warten?« Weil du zu feige warst, mich zu begleiten?
»Ihr seid nicht … du bist nicht gekommen, und da habe ich angefangen mir Sorgen um dich zu machen.«
»Und hast mich gesucht?« Obwohl du so große Angst vor diesem Gebäude und den Gespenstern hast, die es möglicherweise ja doch hier gibt? »Danke.« Sie lächelte, machte aber gleich darauf ein fragendes und beinahe schon wieder misstrauisches Gesicht. »Wie hast du mich gefunden? Hast du nicht behauptet, dass du dich hier nicht auskennst?«
»Ich habe deine Schreie gehört.«
»Meine Schreie? Ich habe nicht geschrien«, antwortete Pia empört.
Lasar sagte gar nichts, doch sein Blick sprach Bände, und Pia lauschte in sich hinein und spürte ein raues Gefühl im Hals. Sie hatte geschrien.
»Ich …dachte, ich hätte etwas gehört und habe mich wohl erschreckt«, gestand sie zögernd. »Wahrscheinlich deine Schritte.«
Lasar war diplomatisch genug, auch diese noch viel dämlichere Ausrede widerspruchslos zu akzeptieren. Er machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. »Es ist wirklich spät«, sagte er. »Wir sollten jetzt gehen.«
»Ja, das sollten wir. Lass uns …«
Sie brach mitten im Wort ab, runzelte die Stirn und führte die begonnene Bewegung zu Ende, allerdings dreht sie sich jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Irgendetwas hatte sich verändert, aber sie konnte im ersten Moment nicht sagen, was.
»Erha…«, begann Lasar und verbesserte sich hastig: »Gaylen?« Was nicht unbedingt eine Verbesserung war.
»Ja. Schon gut«, sagte Pia. »Wir sollten zusehen, dass wir von hier wegkommen.« Sie machte einen Schritt, sah noch einmal über die Schulter zurück und begriff endlich, was sich verändert hatte.
»Geh schon mal voraus und sieh nach, ob irgendwelche Gespenster auf uns warten«, sagte sie, während sie sich abermals herumdrehte. Der Thron war wieder leer (Nein. Nicht wieder. Er war die ganze Zeit leer gewesen!), aber davor lag etwas auf dem Boden, das Pia übersehen haben musste.
Jedenfalls redete sie sich das ein.
»Ihr solltet … du solltest besser nicht zurückgehen«, sagte Lasar nervös. »Dieser Raum ist mir nicht geheuer.«
Na, und mir erst, dachte Pia. Ihr Lachen klang selbst in ihren eigenen Ohren ziemlich unecht. »Ich habe etwas verloren«, sagte sie. »Geh schon. Warte draußen auf mich. Es dauert nur einen Moment.«
Ohne sich davon zu überzeugen, ob Lasar ihr gehorchte oder nicht, ging sie wieder auf den monströsen schwarzen Thron zu. Er war leer, aber etwas lag davor auf dem Boden, lang, schmal und glänzend.
Es war das Schwert, das sie quer über Eiranns Knien gesehen hatte.
Zögernd und von einem ganz sachten nagenden Zweifel erfüllt, ob das, was sie tat, auch wirklich klug war, ließ sie sich in die Hocke sinken und streckte die Hand nach der schlanken Klinge aus. Ein Teil von ihr wartete geradezu (hoffnungsvoll) darauf, dass ihre Hand einfach durch die Klinge hindurchglitt, die sich auf diese Weise nur als ein weiteres Trugbild herausstellte, aber stattdessen berührten ihre Finger glattes, hartes Metall, das sich eisig und zugleich auf eine sonderbare Art warm anfühlte.
Nein, verbesserte sie sich in Gedanken. Nicht warm.
Lebendig.
Der Gedanke kam ihr völlig absurd vor, aber es war das einzige Wort, das ihr spontan einfiel, und tief in sich spürte sie, dass es der Wahrheit sehr nahekam auch wenn es sie nicht wirklich traf. Ihre Finger schlossen sich um den reich ziselierten Griff der Waffe, der aus purem Gold zu bestehen schien, und aus dem bizarren Gefühl von Lebendigkeit wurde etwas noch viel Bizarreres. Etwas … flüsterte tief in ihrer Seele, eine uralte, lautlose Stimme, die Geschichten aus einer noch viel älteren Zeit erzählte, die sie nie gehört hatte und dennoch kannte. Geschichten, die …
Pia brach den Gedanken mit einer bewussten Anstrengung ab, schloss die Hand mit einer trotzigen Bewegung nur noch fester um den Schwertgriff und hätte in der Hocke fast das Gleichgewicht verloren, als sich das meterlange Schwert als sehr viel leichter erwies, als sie erwartet hatte.
»Ist alles in Ordnung, Gaylen?«, drang Lasars Stimme an ihr Ohr. So viel zu ihrem Befehl, draußen zu warten.
»Kein Problem«, sagte sie hastig. »Ich war nur ungeschickt.«
Irgendwie gelang es ihr, nicht nur nicht hintenüberzufallen, sondern sogar aufzustehen, ohne dabei eine allzu alberne Figur zu machen. Sie versuchte ganz instinktiv, die Schwertklinge mit ihrem Körper abzuschirmen, damit Lasar sie nicht sah, und das lautlose Flüstern am Grunde ihrer Seele nahm noch einmal zu. Fast glaubte sie die Worte zu verstehen, doch gerade als das lautlose Wispern tatsächlich einen Sinn ergeben wollte, fragte Lasar – beunruhigt und deutlich näher: »Was ist los mit Euch, Erhabene?«
»Nichts«, murmelte Pia. Rasch schob sie das Schwert unter ihren Mantel, drehte sich zu ihm herum und brachte sogar irgendwie das Kunststücke fertig, halbwegs überzeugend zu lächeln. »Wie gesagt: Ich habe nur etwas verloren. Gehen wir?«
XXII
Wie jedes Mal, wenn sie auf die Straße hinaustrat, musste sie gegen die Überzeugung ankämpfen, dass es schon wieder kälter geworden war. Brack und alle anderen, mit denen sie sprach, behaupteten hartnäckig, es wäre Sommer, und Pia blieb allmählich nichts anderes mehr übrig, als sich einzugestehen, dass das vermutlich der Wahrheit entsprach. Vermutlich fielen die Temperaturen im Winter noch ein gutes Stück unter den absoluten Nullpunkt. Aber wie es aussah, dachte sie betrübt, standen ihre Chancen gar nicht schlecht, das selbst herauszufinden. Sie waren jetzt seit gut zwei Wochen in dieser sonderbaren Stadt mit dem noch sonderbareren Namen, und der Turm des Hochkönigs war ihre letzte Hoffnung gewesen, doch noch einen Weg zurück nach Hause zu finden. Vielleicht stellte dieser unheimliche Turm irgendeinen Weg dar, wieder in die Welt zurückzukehren, in die sie gehörte, aber wenn, dann war ihr dieser Weg zumindest im Augenblick verwehrt. Wäre Lasar nicht im richtigen Moment aufgetaucht, dann hätte Eirann sie vielleicht berührt, und dann …