»Was ist das?«, fragte sie erschrocken.
»Netter Versuch«, sagte Hernandez, »aber du glaubst doch nicht wirklich, dass ich …«
Alles geschah gleichzeitig, als wäre irgendetwas mit der Zeit passiert, sodass die Dinge in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und zum Teil parallel zueinander abliefen und auch die Gesetze von Ursache und Wirkung keine Gültigkeit mehr zu haben schienen. Über ihnen gerann ein Stück der Nacht zu geflügelter Schwärze, Klauen und einem Ehrfurcht gebietenden Schnabel und stürzte auf Hernandez herab, und im gleichen Sekundenbruchteil erscholl auch hinter ihr ein krächzender Schrei und dann das dumpfe Krachen eines Gewehrs. Hernandez taumelte mit wirbelnden Armen zurück und versuchte irgendwie, sein Gesicht vor den Krallen des riesigen schwarzen Raben zu schützen, der ihn mit heftig schlagenden Flügeln attackierte, während Pia endlich nicht nur ihren Schrecken überwand, sondern all ihren Mut zusammenraffte, herumfuhr und sich gegen den Anblick Jesus’ wappnete, der mit weggeschossenem Gesicht auf dem Rücken lag.
Jesus lag nirgendwo, sondern war verschwunden, und der Bursche, der ihn in Schach gehalten hatte, wälzte sich schreiend am Boden und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Hellrotes Blut quoll so dünnflüssig wie Wasser zwischen seinen Fingern hindurch. Das Gewehr lag ein gutes Stück neben ihm im Schlamm, und der schwarze Riesenvogel hatte sich bereits wieder in die Luft geschwungen, flatterte mit zornig schlagenden Flügeln kaum eine Handbreit über sie hinweg und stürzte sich krächzend auf ein anderes Opfer. Hinter ihr schrien plötzlich Stimmen durcheinander. Glas zerbrach.
Pia war mit einem einzigen Satz neben dem schreienden Burschen, verpasste ihm einen wuchtigen Tritt in die Rippen und stieß gleich darauf noch einmal mit dem Fuß zu, um das Gewehr davon zuschleudern. Einen der beiden Tritte bedauerte sie sofort, als ihr in den Sinn kam, dass sie im Moment eine Waffe ganz gut gebrauchen könnte, aber es war zu spät. Die Schrotflinte verschwand bereits über den Rand der Baugrube.
Zwei schlammverkrustete, riesige Pranken tauchten aus der Tiefe auf, krallten sich in den weichen Lehm und hievten ein gewaltiges Schulterpaar und das zornigste Gesicht nach oben, das Pia jemals gesehen hatte. Trotzdem hätte sie vor Erleichterung beinahe laut aufgejauchzt. Ohne auch nur einen Gedanken an das zu verschwenden, was hinter ihr geschah, fiel sie auf die Knie, krallte die Hände in Jesus’ Jacke und zog und zerrte mit aller Kraft. Wie lächerlich. Wahrscheinlich behinderte sie ihn weitaus mehr, als sie ihm half, aber sie zerrte und riss weiter mit aller Gewalt und ignorierte die kreischende Stimme in ihrem Kopf, die ihr immer hysterischer zuschrie, wegzulaufen, solange sie es noch konnte.
Zwei- oder dreimal rutschten Jesus’ Hände in dem aufgeweichten Lehm ab, aber schließlich gelang es ihm, sich über den Rand in die Höhe zu ziehen. Keuchend vor Anstrengung brach er auf die Knie, blieb eine Sekunde lang vornübergebeugt sitzen und sprang dann mit einem Ruck vollends auf die Füße. Plötzlich war er es, der Pia hochriss, statt umgekehrt.
Hinter ihnen tobte ein bizarrer Kampf. Die beiden schwarzen Riesenvögel attackierten Hernandez und seine beiden verbliebenen Schläger mit hackenden Schnäbeln und wild schlagenden Flügeln, und obwohl es nur Tiere und die Männer bewaffnet waren, vermochte Pia ganz und gar nicht zu sagen, wer diesen ungleichen Kampf gewinnen würde. Hernandez hockte auf den Knien und hatte beide Hände über den Kopf geschlagen. Er schrie. Sein Gesicht war voller Blut, die gewaltigen Krallen des Raben hatten seine Jacke aufgeschlitzt und auch in der Haut darunter tiefe blutige Furchen hinterlassen. Der Rabe stieß immer wieder auf ihn herab, hackte mit seinem schrecklichen Schnabel nach ihm, fuhr aber auch immer wieder herum, um den zweiten Mann zu attackieren, der die Tasche mit den Drogen und der gebündelten Million von der Schulter genommen hatte und irgendwie versuchte, sich das riesige Tier damit vom Leib zu halten. Der andere Vogel machte kreischend und mit peitschenden Schwingen Jagd auf Hernandez’ dritten Mann, der zumindest im Moment vergessen zu haben schien, dass er achtzig Kilo schwerer war als das Tier und außerdem bewaffnet.
Sosehr ein Teil von ihr den Anblick genoss, war Pia zugleich klar, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. Irgendwann würde sich einer der Männer darauf besinnen, dass er eine Waffe hatte …
»Weg hier!«, schrie sie. »Schnell!«
Jesus grunzte zustimmend, legte ihr beschützend die Hand auf die Schulter – und tat etwas ziemlich Verrücktes.
Statt loszurennen, stürmte er in die entgegengesetzte Richtung, entriss dem Schläger den Leinenbeutel und versetzte ihm zusätzlich einen Stoß, der ihn zwei Schritte zurücktaumeln und dann schwer auf den Rücken fallen ließ. Der Rabe stieß ein fast triumphierend klingendes Kreischen aus, stürzte sich auf ihn und machte sich mit Schnabel und Klauen an seinem Gesicht zu schaffen, und Jesus fuhr herum und nutzte den Rückweg, um Hernandez eine Kopfnuss zu verpassen, die ihn endgültig nach vorne und mit dem Gesicht in den Schlamm schleuderte.
»Nichts wie weg hier!«, brüllte er, packte Pia grob am Arm und schleifte sie einfach mit sich. Mit fünf, sechs gewaltigen Schritten war er beim Tor und sprengte es einfach mit einem Fußtritt auf, raste nach links, und erst nach einem halben Dutzend weiterer Schritte gelang es ihr überhaupt, halbwegs wieder zu sich zu kommen und sich loszureißen.
Schwer atmend blieb sie stehen, lehnte sich mit den Schultern gegen eine Wand und wartete darauf, dass die Welt aufhörte, sich wie ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell um sie zu drehen. Hinter ihnen gellten noch immer Schreie durch die Nacht, und darunter war ein aggressives Krächzen zu hören; und ein Geräusch wie das Schlagen gewaltiger schwarzer Schwingen. Irgendetwas stimmte immer noch nicht mit den Schatten, und sie konnte immer noch nicht sagen, was.
»Was … was war das denn?«, keuchte Jesus. »Ist … ist das gerade wirklich passiert?«
Pia hätte eine Menge dafür gegeben, diese Frage beantworten zu können. Alles war … unwirklich. Und zugleich auf eine schon beinahe schmerzhaft intensive Art real. Die Schatten waren zu tief, das Licht zu grell und alle Geräusche zu laut, als wäre sie in einem Teil der Welt gestrandet, in dem alles hundertmal intensiver und aufdringlicher war … oder ihre Sinne plötzlich sehr viel schärfer geworden.
Hinter ihnen peitschte ein einzelner Schuss durch die Nacht, gefolgt vom schrillen Schrei eines Vogels, der gleichermaßen wütend wie schmerzerfüllt klang, und das Geräusch riss sie abrupt in die Wirklichkeit zurück, die für ihren Geschmack selbst genug von einem Albtraum hatte.
Die Schüsse waren nicht ungehört geblieben. Die Musik in der Cantina war verstummt, und vor dem Eingang zeichneten sich die schattenhaften Umrisse eines Dutzends Männer ab, die herausgelaufen waren und aufgeregt in ihre Richtung gestikulierten. Stimmen schrien durcheinander. Das unverwechselbare Geräusch sorgte dafür, dass niemand wagte näher zu kommen, aber Pia war sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass sie trotz der Dunkelheit deutlich zu sehen – und zu erkennen! – sein mussten. Jesus’ Anzug war zwar mittlerweile mehr schlammbraun als weiß (dasselbe galt für sein Gesicht), aber das verbliebene Weiß leuchtete wie ein Nylonhemd in einer Disco, und auch ihre schlanke Gestalt war vermutlich unverkennbar. Ganz genau das, was Hernandez sich wahrscheinlich gewünscht hatte, dachte sie zornig. Die Männer da drüben hatten Schüsse und Schreie gehört, und jetzt sahen sie sie davonlaufen, mit einer sichtlich schweren Tasche im Gepäck. Wunderbar. Sie hätte das Schrotgewehr doch mitnehmen sollen, und sei es nur, um sich gleich selbst damit in den Kopf zu schießen …