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»Weiter!«, befahl sie.

Jesus wischte sich den Rest Schlamm aus dem Gesicht und rückte den Beutel auf seiner Schulter zurecht, setzte sich dann aber gehorsam in Bewegung. Sie überquerten die Straße, hielten instinktiv auf die tiefsten Schatten zu und rannten noch ein kurzes Stück, bevor sie die ersten heruntergekommenen Hütten erreichten und in eine der schmalen Gassen schlüpften.

III

Nach dem Geschrei und dem Lärm und den Schüssen kam ihr die Stille schon beinahe unnatürlich vor. Nichts rührte sich. Selbst der Wind schien für einen Moment verstummt zu sein, und obwohl sie die schmale und unbeleuchtete Gasse selbst ausgesucht hatte, erschien ihr die Dunkelheit zu total, die Schwärze zu intensiv, und sie konnte nicht sagen, ob sie diese Finsternis als Schutz empfand oder etwas Feindseliges.

Sie schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, über ihre eigene Dummheit zu lachen. Hier war alles ganz genau so, wie es sein sollte: Die Häuser standen leer, einige schon vor Jahren von ihren Besitzern verlassen oder von Schlägertrupps der Stadtverwaltung geräumt, damit die Bagger und Planierraupen leichtes Spiel hatten, wenn sie demnächst anrückten. Sie spürte trotzdem, dass sie beobachtet wurden, aber zumindest das beunruhigte sie in diesem Augenblick am wenigsten. In den Favelas war man nie allein, auch wenn es manchmal den Anschein hatte. Sie war mit diesem Gefühl aufgewachsen und hätte es eher als störend empfunden, wäre es nicht da gewesen.

Und trotzdem blieb ein Unbehagen, das nichts mit dem Wissen zu tun hatte, aufmerksam beobachtet zu werden, und nichts mit der Lebensgefahr, in der sie nach wie vor schwebten. Etwas stimmte nicht; nicht mit der Welt oder ihrer Art, sie zu sehen.

Sie liefen noch ein kleines Stück, bis sie in einer schmalen, nach Unrat und Abfall riechenden Gasse anhielten, um Atem zu schöpfen und sich zu orientieren. Die Straße war von hier aus lediglich als heller Fleck am Ende eines Tunnels aus rauchiger Schwärze zu erkennen. Nur in einem einzigen Gebäude brannte Licht; der flackernde Schein einer Kerze, die bloß darauf wartete, umzufallen und das ganze Viertel in Brand zu setzen, und es war noch immer beinahe unwirklich still.

Und alles hier war … falsch. Sie gehörte nicht hierher.

»Das hätte dir auch früher einfallen können«, sagte Jesus säuerlich.

Pia starrte ihn eine geschlagene Sekunde lang verständnislos an, dann noch eine und schließlich eine dritte, bevor ihr klar wurde, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. »Wie?«, murmelte sie.

»Wir hätten gar nicht herkommen sollen, da hast du völlig recht.« Jesus atmete fast so schwer wie sie, und obwohl Pia ihn in der Dunkelheit nicht deutlicher denn als schwarzen Schatten erkennen konnte, spürte sie doch, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Vielleicht hatte er sich beim Sturz in die Baugrube verletzt. »Das Schwein hat das die ganze Zeit über geplant. Hat uns sauber in die Falle gelockt.«

Er stellte die Tasche ab, fuhr sich mit dem Jackenärmel durchs Gesicht und spuckte ein paarmal aus. Das gehörte nicht zu seinen schlechten Angewohnheiten, für Pia ein weiteres Indiz, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dann ließ er sich in die Hocke sinken, griff in den Beutel und nahm eines der würfelförmigen Päckchen heraus. Pia konnte bei dem schwachen Licht nicht erkennen, worum es sich handelte, vermutete aber, dass es ein Geldbündel war, und Jesus’ nächste Worte bestätigten das.

»Und das soll eine Million sein?«, fragte er zweifelnd.

»Eine viertel«, antwortete Pia. Ihr Blick tastete durch die Dunkelheit, versuchte Dinge in den Schatten zu erkennen, die vielleicht nicht da waren, vielleicht aber doch, und nur etwas anderes bedeuteten, und statt sich zu beruhigen, wurde ihr Herzschlag immer schneller und hektischer. Sie mussten weg. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht richtig. Etwas kam. »Es sind vier Päckchen.«

»Sieht trotzdem wenig aus.« Jesus ließ den Würfel wieder in den Beutel fallen und richtete sich mit einem ganz und gar untypischen Ächzen auf. »Kein Wunder, dass sie so scharf drauf waren.«

»Warum hast du das getan?«, fragte Pia mit einer Kopfbewegung auf den Beutel. »Sie hätten dich umbringen können.«

Jesus lachte hart. »Stell dir vor, das haben sie sowieso versucht.« Er versetzte dem Beutel einen Tritt. »Ohne das da sind wir erledigt. Wir müssen raus aus der Stadt. Am besten noch heute Nacht.«

»Und wohin?« Pia erwartete keine Antwort auf diese Frage. Alles hatte sich geändert, buchstäblich von einem Atemzug auf den anderen. Falls Hernandez noch lebte (und irgendetwas sagte ihr, dass er es tat und dass er sehr, sehr wütend war), dann waren er und seine Männer vermutlich jetzt schon hinter ihnen her. Sie konnten weder nach Hause noch zu einem ihrer Freunde. Die Favelas mochten ein Dschungel aus Holz und Stein und Wellblech und Menschen sein, in dem es Millionen Verstecke gab, aber es war nicht nur ihr, sondern auch Hernandez’ Dschungel, in dem er sich mindestens genauso gut auskannte wie sie. Nicht einmal das Geld in Jesus’ Tasche würde ihnen helfen. Ganz im Gegenteil. Wenn sich erst einmal herumsprach, dass sie es hatten, konnte es gut zu ihrem schlimmsten Feind werden.

Pia schüttelte den Gedanken ab und zwang sich mit einer bewussten Anstrengung in die Wirklichkeit zurück. Sie lauschte. Die unheimliche Stille war noch immer da, wie etwas … Fassbares, das nicht nur aus der Abwesenheit sämtlicher anderer Geräusche bestand, sondern auf eine vollkommen bizarre Art Substanz zu gewinnen begann, aber darunter hörte sie jetzt auch andere Laute. Aus der Cantina (offensichtlich hatten sie sich nicht annähernd so weit davon entfernt, wie sie es gehofft hatte) drangen jetzt wieder Musikfetzen auf die Straße, aufgeregte Stimmen, und dann drehte der Wind für einen Augenblick und trug Verkehrslärm heran, aber auch andere Stimmen, hektisch, zornig. Vielleicht Schritte, die näher kamen. Und wenn nicht jetzt, dann bald.

Sie fasste einen Entschluss. »Okay«, sagte sie. »Wir gehen zu Esteban.«

Jesus wollte protestieren, doch Pia schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab, deutete auf den Beutel und fuhr gleichzeitig mit leicht erhobener Stimme fort: »Nur für einen Moment. Wir brauchen saubere Kleider und wir müssen den Mist hier loswerden. Danach verschwinden wir.«

Jesus wirkte nicht begeistert, schulterte jedoch gehorsam den Beutel, und sie setzten ihren Weg fort. Niemand verfolgte sie, zumindest auf dem ersten Stück, aber ihr Vorwärtskommen gestaltete sich trotzdem schwieriger, als Pia befürchtet hatte. Dass sie hier zu Hause waren, bedeutete nicht, dass jedermann ihr Feind gewesen wäre; aber auch längst nicht jedermann ihr Freund. Für die meisten waren sie einfach nur Fremde, auch wenn sie sich mit der gelassenen Selbstverständlichkeit von Menschen bewegten, die in dieser Umgebung aufgewachsen waren und sie nicht zu fürchten hatten. Dennoch fielen sie auf, und das war es, was sie im Moment am allerwenigsten gebrauchen konnten.

Jesus blieb plötzlich stehen, und Pia konnte spüren, wie er sich anspannte. Erschrocken sah sie sich um, gewahrte nichts als Schatten und lautlos huschende Bewegung, die nur in ihrer Fantasie existierte, und spürte ein Frösteln, das sie zunächst für nichts anderes als Furcht hielt, bis ihr klar wurde, dass es tatsächlich kälter geworden war.

»Es ist kalt«, murmelte sie verwirrt. Und die Luft … roch nach Schnee?

Das war lächerlich. Das hier war Rio de Janeiro, nicht Aspen. Hier wurde es nie kalt, und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Schnee?

»Du bist erschöpft«, behauptete Jesus – was ihn allerdings nicht daran hinderte, selbst fröstelnd die Schultern hochzuziehen. »Und du hast Angst.«

»Ich weiß überhaupt nicht, was das Wort bedeutet«, antwortete Pia lahm.

Jesus machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu antworten, sondern rückte nur die Tasche auf seiner Schulter zurecht, um ein neuerliches und noch heftigeres Frösteln zu kaschieren, und sah sich noch einmal aufmerksamer um. Pia blickte fragend, aber Jesus sagte jetzt gar nichts mehr, sondern machte nur eine auffordernde Kopfbewegung und ging weiter; zu Pias Unbehagen nicht in Richtung der flackernden Lichter, sondern tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Straßen, durch die sie sich nun bewegten, verdienten diesen Namen kaum noch, nicht einmal hier. Sie waren so schmal, dass Pia mit ausgestreckten Armen die Wände rechts und links hätte berühren können, und mit Abfällen und Schmutz übersät. Es roch schlecht, und die wenigen Geräusche, die noch an ihr Ohr drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Furcht irgendwie zu dämpfen. Das hier waren die wirklichen Favelas, die Elendsviertel der Elendsviertel, in denen nicht nur die Ärmsten der Armen lebten, sondern auch genau der Abschaum, von dem die Stadtverwaltung zu gerne sprach, wenn sie wieder einmal einen Vorwand brauchte, ein paar Straßenzüge abzureißen, um teuren Baugrund zu erschließen. Nicht einmal Pia hätte es gewagt, allein hierherzukommen.