Natürlich war ihr klar, warum Jesus diese Route gewählt hatte – aus dem gleichen Grund, aus dem auch sie es getan hätte, wäre sie verrückt genug gewesen. Er hoffte, dass Hernandez und seine Schläger die Sache ganz genauso sahen und es nicht wagten, ihnen auf demselben Weg zu folgen. Wahrscheinlich hatte er recht damit.
Oder auch nicht, denn nach ein paar Minuten blieb Jesus abermals stehen. Seine Hand senkte sich in die Jackentasche und kam leer wieder heraus. Pia selbst hatte darauf bestanden, dass er keine Waffe mitnahm.
»Was?«, fragte sie alarmiert.
»Nichts«, antwortete Jesus. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Muss mich wohl getäuscht haben.«
Aber das hatte er nicht …. Da war etwas (jemand?), auch wenn ihr der Anblick immer wieder entglitt, als verhindere irgendetwas, dass ihr Blick Halt an dem Was-auch-Immer fand. Sie stieß erstaunt die Luft zwischen den Zähnen aus und stellte noch erstaunter fest, dass ihr Atem für den Bruchteil einer Sekunde als grauer Nebel vor ihrem Gesicht kondensierte. Es war nicht nur ihre Angst. Es war kalt. Und die Luft roch nach Schnee.
»Irgendwas stimmt nicht«, stellte auch Jesus fest. »Verschwinden wir!«
»Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Und wisst ihr was? Ich helfe euch sogar dabei.«
Jesus und Pia fuhren im gleichen Sekundenbruchteil herum, und Pia hätte beinahe laut aufgestöhnt.
Hernandez war nicht annähernd so feige, wie sie gehofft hatte (oder wütend genug, um Raserei mit Mut zu verwechseln), aber dafür offensichtlich wortwörtlich mörderisch schlechter Laune. Irgendwie musste er es geschafft haben, sich vollkommen lautlos zu bewegen, denn er und seine Handlanger standen kaum drei Schritte hinter ihnen. Er zitterte. Seine Jacke hing in Fetzen, und die immer noch leicht blutende Wunde, die sich quer über seine linke Gesichtshälfte zog, würde garantiert eine hübsche Narbe hinterlassen. Wenigstens zwei seiner drei Begleiter sahen kaum besser aus. Einer von ihnen hatte ein Auge verloren (Pia nahm an, dass es der Kerl war, den sie getreten hatte), und mit dem anderen heulte er vor Wut und Schmerz, und auch der zweite sah ein bisschen so aus, als hätte er eine Auseinandersetzung mit einem Rasentrimmer hinter sich. Den letzten konnte sie nur als verschwommenen Schatten erkennen, aber immerhin sah sie, dass er ein schlammverkrustetes Gewehr mit abgesägten Läufen in den Händen hielt.
»Der Comandante. Was für eine Überraschung.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen und zitterte hörbar, aber es war seltsam: Trotz ihres hämmernden Pulsschlags und der rasenden Panik, die ihre Gedanken beherrschte, fühlte sie zugleich eine sonderbare Ruhe. Unter all der Furcht und dem lähmenden Entsetzen, mit dem sie Hernandez’ Anblick erfüllte, wuchs eine Art heiterer Gelassenheit heran, als wäre da tief in ihr etwas, das ganz genau wusste, dass sie nicht in Gefahr war, dass ihr all das hier nichts ausmachen konnte, ganz einfach, weil sie sie war. Pia selbst verstand ihre eigenen Gefühle am allerwenigsten. Vielleicht waren sie einfach nur ein Reflex, dachte sie, mit dem etwas in ihr versuchte, sie vor sich selbst zu schützen.
»Aber keine angenehme, fürchte ich«, sagte Hernandez. Er kam einen Schritt näher, blieb stehen und hob die rechte Hand. Pia sah erst jetzt, dass er ihren Revolver darin hielt. Er zielte auf Jesus.
»Die Tasche!«
Jesus schürzte nicht nur trotzig die Lippen, sondern spannte sich noch weiter an, und Pia konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sie standen zu dicht beieinander, und in der schmalen Gasse hatte er keine Chance, schnell genug an ihr vorbei und zu Hernandez zu kommen, bevor dieser abdrückte, von seinen Begleitern ganz zu schweigen. Trotzdem hätte er es wahrscheinlich versucht – was hatte er zu verlieren? Hernandez würde sie sowieso erschießen, und zwar hier und jetzt – doch dann senkte der Comandante den Revolver und zielte auf sie.
»Mach keinen Unsinn, Großer«, sagte er. »Es liegt ganz bei dir, ob es schnell geht oder ich deiner kleinen Freundin hier zuerst das Gesicht wegschieße und dich dabei zusehen lasse, wie sie verblutet.«
Irgendetwas sagte Pia, dass er sowieso ganz genau das vorhatte, aber seltsamerweise führte dieser Gedanke dazu, dass ihre Angst plötzlich noch schwächer wurde und beinahe ganz verschwand. Was nutzte die Furcht auch, wenn es keinen Ausweg mehr gab?
»Ich wusste doch, dass du vernünftig bist«, sagte Hernandez, als Jesus zwar noch immer keine Anstalten machte, ihm den Beutel auszuhändigen, sich aber sichtbar entspannte. »Schade nur, dass du das nicht von Anfang an gewesen bist. Das hätte uns allen eine Menge Ärger erspart.« Er machte eine herrische Geste mit dem Revolver, ohne dass sich dessen Mündung dabei nennenswert von Pias Gesicht wegbewegte. »Und jetzt stell die Tasche ab. Wir wollen doch nicht, dass sie am Ende noch beschädigt wird.«
»Bring ihn um, Comandante«, wimmerte der Einäugige neben ihm. Eigentlich heulte er es. Seine Stimme war dünn, ein kaum noch verständliches Schluchzen. Er musste entsetzliche Schmerzen haben, dachte Pia. Aber solange er sich noch auf den Beinen halten konnte, machte ihn das nur umso gefährlicher. »Ich will weg hier.«
»Wer will das nicht, mein Freund?«, fragte Hernandez. »Aber keine Sorge. Es dauert nicht lange. Mir gefällt es hier auch nicht.« Die Waffe in seiner Hand hörte auf zu zittern und richtete sich nun direkt auf Pias Stirn. »Schade eigentlich. Wir hatten so viel Spaß miteinander. Und wir hätten noch viel mehr Spaß haben können, aber jetzt ist es zu spät.«
Sein Daumen zog den Hahn zurück, und Pia schloss die Augen. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sehen wollte, war barmherzige Dunkelheit, nicht Hernandez’ zerstörtes Gesicht.
Er schoss nicht.
Es wurde kälter.
Pia hielt den Atem an und zählte in Gedanken bis drei, dann bis fünf und schließlich bis zehn, aber der finale Schmerz, von dem sie sich fragte, ob sie ihn überhaupt noch spüren würde, kam nicht. Und als sie die Augen wieder öffnete, war der Revolver zwar noch immer auf ihre Stirn gerichtet, aber der Blick aus Hernandez’ zu schmalen Schlitzen zusammengepressten Augen fixierte einen Punk irgendwo hinter ihr.
Hatte Jesus …?
Pia wagte es, den Kopf zu drehen, und sah, dass Jesus nichts getan hatte, um die Mischung aus Misstrauen und Überraschung in Hernandez’ Blick zu rechtfertigen.
Am Ende der schmalen Gasse war eine weitere Gestalt aufgetaucht. Gegen den kaum helleren Hintergrund war sie nicht mehr als ein weiterer, flacher Umriss, doch schon an diesem bloßen Schemen war irgendetwas … Unheimliches. Etwas daran war falsch, auf dieselbe Weise wie vorhin die Schatten und der Rest der Welt: genauso wenig zu beschreiben und ebenso unübersehbar.
Und er kam ihr auf dieselbe Weise vertraut vor, aber das registrierte sie nur beiläufig, und sie schob den Gedanken augenblicklich von sich, weil er vollkommen unsinnig war.