Es war auch mehr.
Pia stürmte auf die Lichtung hinaus und ohne das allermindeste Zögern auf den am nächsten stehenden barbarischen Angreifer zu, nahm die gesamte Szenerie aber trotzdem mit einem einzigen schnellen Blick in sich auf. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Überfall mochte Nani und ihrer Familie gegolten haben, aber auf der Lichtung tobte eine regelrechte Schlacht. Es waren mindestens ein Dutzend Männer, die verbissen miteinander kämpften, und längst nicht alle trugen die zerschlissenen Fellmäntel und ungepflegten Haare und Bärte der Barbarenkrieger. Mindestens die Hälfte war in die schimmernden Bronzerüstungen der Stadtgarde gehüllt, und der Kampf tobte auch fast ausnahmslos zwischen ihnen und den Barbaren. Nani und mindestens einer ihrer Söhne waren tot. Lasar lag seltsam verrenkt auf der anderen Seite der Lichtung. Das Messer, das er vorhin schon einmal gezogen hatte, um sie gegen Lion zu verteidigen, lag ein Stück neben ihm, zusammen mit der Hand, die es gehalten hatte, und gerade in diesem Moment ging ein weiterer Gaukler mit einem gurgelnden Schrei zu Boden, aufgespießt von einem schartigen Schwert. Noch bevor er vollends zusammengebrochen war, hatte Pia seinen Mörder erreicht, riss ihn an der Schulter herum und schlug ihm den Handballen unter die Nase, wodurch sein Nasenbein zertrümmert wurde und Splitter davon in sein Gehirn drangen und ihn auf der Stelle töteten.
Etwas hackte nach ihrem Gesicht. Pia spürte die Gefahr mehr, als sie sie sah, und drehte blitzartig den Oberkörper zur Seite. Die schartige Axtklinge verfehlte ihr Gesicht und schrammte nur an ihrer Schulter entlang. Stoff zerriss, und eine dünne Linie aus brennendem Schmerz zog sich von ihrer Schulter bis zum Ellbogen hinab. Warmes Blut folgte ihr, aber sie führte ihre begonnene Drehung trotzdem und nur noch schneller zu Ende, schmetterte die Waffe zur Seite und versetzte dem Barbaren einen Stoß, der ihn zurücktaumeln und verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfen ließ. Sie hätte ihm die Axt wegnehmen und ihm mit seiner eigenen Waffe den Schädel spalten können, bevor er überhaupt begriff, was mit ihm geschah, und ein Teil von ihr hätte auch nichts lieber getan als das, doch stattdessen fuhr sie herum und hetzte mit gewaltigen Schritten dorthin, wo Alica und sie gerade gesessen hatten. Ein Schwert stach nach ihr, ohne dass sie auch nur sah, wem es gehörte. Pia hechtete darüber hinweg, kam mit einer Rolle auf und griff in einer eigentlich unmöglichen Bewegung nach der zusammengefalteten Decke. Eiranns Zorn sprang wie von selbst in ihre Hand, noch bevor sie wieder ganz auf den Füßen war. Die kristallene Klinge schimmerte, einem gefangenen Blitz gleich, und in ihrer Seele erscholl ein lautlos triumphierendes Brüllen, das auch noch den allerletzten Rest ihres freien Willens hinwegfegte.
Sie warf dem am nächsten stehenden Mann die Decke ins Gesicht, wirbelte auf dem Absatz herum und führte Eiranns Zorn in einer schnellen, weit geschwungenen Bewegung, die einen Angreifer enthauptete und einem zweiten den Arm dicht oberhalb des Ellbogens abtrennte. Die beiden Männer sanken zu Boden, und das triumphierende Schreien in Pias Seele wurde noch einmal lauter und auf eine furchtbare Art schlimmer. Sie jagte weiter, schlug zu und stach, parierte und konterte mit einer Schnelligkeit und Kraft, die ihre einzelnen Bewegungen zu einem schattenhaften Tanz verschmelzen ließen. Eiranns Zorn sang in ihren Händen, stach, schlitzte, tötete und verstümmelte, aber sein Blutdurst schien mit jedem roten Tropfen nur noch zu wachsen, der die diamantene Klinge benetzte, ohne auch nur die geringste Spur darauf zu hinterlassen. Jemand schrie ihren Namen – vielleicht Alica, vielleicht auch eine andere Stimme –, doch Pia reagierte nicht darauf und hätte es auch nicht gekonnt, wenn sie es gewollt hätte. Der Kampf zwischen den beiden ungleichen Gruppen war längst zu Ende, und es war nur noch sie, gegen die sich die Männer gemeinsam zu verteidigen versuchten, und das singende Schwert in ihrer Hand, das gnadenlos einen nach dem anderen niedermähte.
Und dann war plötzlich Alica vor ihr, eine schmale Gestalt mit schreckensbleichem Gesicht und entsetzt aufgerissenen Augen, die ihr mit ausgebreiteten Armen den Weg vertrat. Eiranns Zorn züngelte nach ihrer Kehle, um auch ihr Blut zu kosten, doch Pia riss die Waffe mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite. Die schimmernde Klinge zischte um Haaresbreite neben ihr durch die Luft und grub sich mit einem dumpfen Laut in den Boden, und dann traf irgendetwas Pias Schläfe und löschte ihr Bewusstsein auf der Stelle aus.
XXX
Am schlimmsten schmerzten die Handschellen.
Es waren keine richtigen Handschellen, wie sie sie von zu Hause kannte und wie Hernandez sie ihr nur zu gerne angelegt hätte. Diese hier waren schlimmer. Statt in einer verchromten Acht aus nahezu unzerstörbarem Stahl steckten ihre Hände in groben Ringen aus rostig gewordenem Eisen, die entsetzlich eng waren und nicht nur das Blut in ihren Händen abschnürten, sondern auch ihre Haut wund gescheuert hatten und dies bei jeder noch so winzigen Bewegung unbarmherzig weitertaten. Ihre Arme, in einer qualvoll unbequemen Haltung dicht über ihrem Kopf an die Wand gekettet, waren längst mit einer dicken Schicht ihres eigenen eingetrockneten Blutes verkrustet, zu dem sich immer dann frisches und warmes Rot gesellte, wenn sie in ihrer Aufmerksamkeit nachließ oder einschlief. Jegliches Gefühl war schon am ersten Tag aus ihren Fingern gewichen – abgesehen von Schmerzen –, und mittlerweile waren auch diese zu einer imaginären Grenze aus purer Qual zurückgewichen, die sich irgendwo dort befand, wo einmal ihre Handgelenke gewesen sein mochten. Trotz der Pein, die ihr diese entsetzlich folternde Haltung bereitete, war Pia beinahe froh, ihre eigenen Hände nicht sehen zu können; aus Angst, nur noch zwei schwarz verkrampfte Raubvogelklauen zu erblicken, die bereits in Fäulnis übergegangen waren.
Jedenfalls rochen sie so.
Vielleicht war sie es auch selbst, die so roch. Sie stand jetzt seit drei Tagen aufrecht an die Wand des fensterlosen Kellerverlieses gekettet da – vielleicht länger. Sie war von erheblichem Schmerz und quälendem Durst gepeinigt hier aufgewacht, und ihre innere Uhr, so präzise sie sonst auch funktionieren mochte, hatte ihr keine Auskunft darüber gegeben, wie viel Zeit zwischen diesem Moment und der apokalyptischen Schlacht auf der Waldlichtung vergangen war – man hatte sie nicht ein einziges Mal losgekettet. Tatsächlich war in diesen drei Tagen nur zweimal ein Soldat zu ihr gekommen, um ihr zu trinken zu geben, und hatte sich wieder entfernt, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln.
Vielleicht wollte Istvan sie ja auf diese Weise sterben lassen. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht sehr wahrscheinlich war: Der Stadtkommandant und seine Männer hatten sie ganz gewiss nicht so weit verfolgt und sich auf einen verlustreichen Kampf mit den Barbarenkriegern eingelassen, nur um sie dann auf diese vielleicht grausame, aber wenig spektakuläre Art zu Tode zu foltern, noch dazu ohne Publikum. Doch es war nur ihre Vernunft, die ihr das klarzumachen versuchte. Schmerzen, Fieber und der immer quälender werdende Durst (sie gaben ihr gerade genug zu trinken, um sie am Leben zu erhalten) überzeugten sie mit jeder Stunde mehr davon, dass dies genau die Rache war, die sich Istvan für sie ausgedacht haben musste.
Irgendwo polterte etwas, aber Pia war zu müde und zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben. Es wäre sowieso sinnlos gewesen. Während der ersten anderthalb oder zwei Tage hatte sie auf jedes noch so winzige Geräusch gelauscht und versucht, die vollkommene Dunkelheit ringsum irgendwie mit Blicken zu durchdringen, was stets sinnlos gewesen war. Das Verlies war dunkel und feucht und kalt, aber nicht still. Manchmal drangen Stimmen durch die dicken Wände aus kaltem Stein, manchmal auch Schritte, ein gedämpftes Klirren und andere, unidentifizierbare Laute. Einmal hatte sie Schreie gehört, die von erheblicher Folter kündeten und furchtbar lange andauerten, um dann einer noch furchtbareren Stille zu weichen. Zu ihr war niemand gekommen.