»Ihr solltet Euch nicht zu hastig bewegen, Erhabene«, sagte Istvan. »Ich weiß, wie stark Ihr seid, aber Ihr braucht dennoch Ruhe. Verlangt nicht zu viel von Euch selbst.«
Pia starrte ihn an. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, aber sie verhielten sich wie eine tollwütige Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war, und auch nicht, wie Istvan hierherkam und was er hier wollte. Nicht dass das besonders schwer zu erraten gewesen wäre.
»Lasst Euch ruhig Zeit, Erhabene«, sagte Istvan. Er seufzte. »Zwar bleibt uns nicht allzu viel davon, aber auf ein paar Augenblicke mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.«
Istvan war nicht die einzige Neuerung hier. Vor dem niedrigen Schemel, auf dem er Platz genommen hatte, stand jetzt ein kleines Tischchen, auf dem ein reichhaltiges Frühstück aufgetragen worden war, und neben ihm lag ein in saubere Decken eingewickeltes Bündel. Das Feuer im Kamin brannte nicht mehr ganz so übertrieben wie gestern (oder vor drei Tagen, um genau zu sein), sorgte aber immer noch für halbwegs erträgliche Temperaturen hier drinnen – was bedeutete, dass es gerade warm genug war, um ihren Atem nicht als grauen Dunst vor ihrem Gesicht erscheinen zu lassen.
»Ihr müsst hungrig und durstig sein«, fuhr Istvan fort. »Mit dem Essen solltet Ihr noch ein wenig achtgeben, nach der langen Zeit, in der Euer Magen nichts mehr zu tun hatte, aber gegen einen Schluck heiße Suppe wird wohl nichts einzuwenden sein.« Er nahm eine hölzerne Schale mit dampfend heißem Inhalt in beide Hände und kam auf sie zu. Pia wollte sich aufsetzen und die Hände ausstrecken, und zumindest der erste Teil funktionierte sogar noch, aber als sie die Arme hob, erscholl ein leises Klirren, und die Bewegung endete mit einem spürbaren Ruck und einem heftigen Schmerz in beiden Handgelenken. Verwirrt sah sie an sich herab und stellte fest, dass ihre Arme zwar noch immer bandagiert waren, sich nun aber zwei schwere eiserne Manschetten über die Verbände schmiegten, die über eine Kette aus kleinfingerdicken Gliedern mit zwei Ringen im Boden beiderseits des Bettes verbunden waren.
»Ich entschuldige mich für die Unbequemlichkeit, Erhabene«, sagte Istvan. Hätte sie nicht gewusst, wie ganz und gar unmöglich das war, dann hätte sie das Bedauern in seiner Stimme tatsächlich für echt gehalten. »Aber ich fürchte, diese Vorsichtsmaßnahmen sind nötig. Ich hoffe, die Fesseln sind nicht zu unbequem.«
Pia fürchtete eher, dass ihr herausrutschen könnte, was sie wirklich von seinen Vorsichtsmaßnahmen hielt: Nämlich dass sie diese albernen Ketten ohne Probleme aus dem Boden reißen und ihn damit erwürgen konnte, sobald sie wieder zu Kräften gekommen war. Aber vermutlich wusste er das ohnehin.
»Hier, trinkt.« Istvan hielt ihr die Schale hin, und irgendwie gelang es Pia, sie mit beiden Händen zu ergreifen und sich weit genug nach vorne zu beugen, um die Suppe mit vorsichtigen kleinen Schlucken zu trinken. Sie schmeckte nicht besonders, aber sie war heiß, und Pia sagte sich, dass sie jedes bisschen Kraft gebrauchen konnte, das sie bekam.
Sehr langsam leerte sie die Schale und gab sie ihm mit einem um mehr bittenden Blick zurück. Istvan nahm die Schale entgegen, aber er schüttelte auch den Kopf.
»Später gerne«, sagte er. »Ihr habt zu lange nichts mehr gegessen und solltet besser vorsichtig sein.« Er wartete eine Sekunde lang – vergeblich – auf eine Antwort, ging dann zum Tisch zurück und setzte sich. Die Schale stellte er nicht zurück, sondern begann nachdenklich damit zu spielen.
»Könnt Ihr reden, Erhabene?«, fragte er.
Pia war nicht ganz sicher. Vorsichtig räusperte sie sich, stellte fest, dass es nicht schmerzte, und antwortete dann: »Ich … glaube schon.« Tatsächlich ging es besser, als sie zu hoffen gewagt hätte. Ihre Stimme klang noch ein bisschen belegt, aber sie gehorchte ihr wieder. Und mehr oder weniger traf das auch auf den Rest ihres Körpers zu. Da waren noch immer unzählige Wunden, Schnitte, Prellungen und andere Verletzungen, die ihr zu schaffen machten, aber das war nichts gegen das, was sie in den Tagen im Verlies durchgemacht hatte. Das intensivste Gefühl überhaupt war eine bleierne Müdigkeit, die ihren gesamten Körper ergriffen hatte; aber es war eine durchaus angenehme Mattigkeit.
»Das ist gut«, sagte Istvan. »Varga hat gesagt, dass es Euch besser geht, und sie ist die beste Heilern in ganz WeißWald, aber ich wollte es aus Eurem eigenen Mund hören. Varga war es auch, die dafür gesorgt hat, dass Ihr drei Tage lang geschlafen habt. Sie war der Meinung, dass Schlaf noch immer die beste Medizin ist.«
»Ja, das sagt man da, wo ich herkomme, auch«, antwortete Pia fast gegen ihren Willen. Sie wollte ganz bestimmt nicht mit Istvan reden. Trotzdem fügte sie hinzu: »Trotzdem wäre ich gerne vorher gefragt worden.«
»Nehmt es ihr nicht übel, Erhabene«, sagte Istvan. »Sie ist wirklich nur an Eurem Wohl interessiert. Wenn es nach ihr ginge, dann hätte ich Euch mindestens noch eine Woche lang schlafen lassen sollen.« Er lachte leise. »Ich musste ihr mit dem Kerker drohen, damit sie Euch aufweckt.«
»Und was gibt es so Dringendes, das Ihr mit mir besprechen wollt?«, fragte Pia. Sie versuchte noch einmal, sich weiter aufzusetzen, vergaß die eisernen Ringe um ihre Handgelenke und konnte einen zischenden Schmerzlaut nicht mehr ganz unterdrücken.
»Das tut mir aufrichtig leid, Erhabene«, sagte Istvan betroffen. »Ich wusste nicht, wie man Euch behandelt. Ich habe Befehl gegeben, gut auf Euch aufzupassen, aber der Mann, der Euch in die Stadt gebracht hat, war der Bruder eines der Soldaten, die Ihr auf der Lichtung getötet habt. Ich hätte das bedenken müssen.« Er hob die Schultern. »Ich habe Befehl gegeben, ihn hinzurichten.«
»Das möchte ich nicht«, sagte Pia.
Istvan lächelte. »Ich fürchte, dazu ist es bereits zu spät, Erhabene«, sagte er. »Und der Mann hat den Tod verdient. Immerhin wusste er, wer Ihr seid.«
»Ihr anscheinend nicht«, sagte Pia.
»O doch«, antwortete Istvan. »Ihr seid Prinzessin Gaylen. Oder zumindest jemand, der den Geist der wiedergeborenen Elfenprinzessin in sich trägt.«
»Und woher kommt diese plötzliche Einsicht?«, fragte sie.
»Vermutet habe ich es die ganze Zeit«, antwortete Istvan. »Aber seit ich Euch auf der Lichtung im Wald gesehen habe, weiß ich es. Ihr habt drei meiner Männer und fünf Barbarenkrieger getötet.«
»Ich konnte mich immer schon meiner Haut wehren«, antwortete Pia. »Da, wo ich herkomme, muss ein Mädchen so etwas frühzeitig lernen.«
»Ein Mädchen, das drei meiner besten Soldaten erschlägt und dazu noch fünf Barbaren?« Istvan schüttelte den Kopf. »Kaum. Und schließlich ist da noch etwas.« Er stellte die hölzerne Schale endlich auf den Tisch, beugte sich mit einem leisen Ächzen zur Seite und hob das Bündel auf, das neben seinem Stuhl auf dem Boden lag. Ein Schwert mit einem wuchtigen goldenen Griff und einer meterlangen Klinge aus Glas kam unter dem Stoff zum Vorschein, als er es auswickelte.
»Eiranns Zorn«, sagte er. In seiner Stimme lag unverhohlene Bewunderung. »Nur sehr wenige glauben, dass dieses mächtige Schwert überhaupt noch existiert. Und noch sehr viel weniger haben es je zu Gesicht bekommen. Ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet, dass mir die Ehre zuteilwird, es in der Hand zu halten.«
»Dann zeigt doch Eure Dankbarkeit und macht mich los«, antwortete Pia und hob die angeketteten Arme.
»Ich sehe, es scheint Euch schon wieder besser zu gehen«, erwiderte Istvan amüsiert. Er setzte die gläserne Spitze des Schwertes auf den Boden, legte die Handfläche auf den Griff und versetzte der goldenen Parierstange mit der anderen Hand einen leichten Stoß. Das Schwert begann sich wie ein Kreisel zu drehen, und irgendetwas geschah mit dem Licht, das sich in der kristallenen Klinge brach. Pia wünschte sich, er hätte das nicht getan. Sie glaubte etwas wie ein Flüstern zu hören, einen düsteren, verlockenden Laut, der an ihrer Seele kratzte.