»Das … ist nicht Eiranns Zorn«, sagte sie unbehaglich.
»Nein, ist es nicht?« Istvan schnippte noch einmal nach der Parierstange und ließ das Schwert schneller kreiseln. Das Flüstern wurde lauter.
»Das ist eine Fälschung«, beharrte Pia.
»Und das würde ich vielleicht sogar glauben, hätte ich nicht gesehen, wie Ihr mit dieser Waffe gekämpft habt«, sagte Istvan. Seine Hand schloss sich mit einem Ruck um den Schwertgriff und brachte die Waffe abrupt zum Halten.
»Wenn das Eiranns Zorn wäre, dann könntet Ihr es nicht berühren«, sagte Pia nervös. »Ihr kennt die Legende.«
»Ich schon«, antwortete Istvan. »Aber Ihr anscheinend nicht, Erhabene. Jeder kann diese Waffe berühren. Alles andere wäre fatal, denn sie muss gereinigt werden, möglicherweise instand gesetzt, oder es mag sein, dass sie einfach zu Boden fällt und jemand sie aufhebt, der nicht ihr legitimer Besitzer ist. Jeder kann diese Klinge anfassen. Doch im Kampf führen kann sie nur, in wessen Adern das Blut des alten Elfengeschlechtes fließt. Wer dieses Erbe nicht in sich trägt und es dennoch versucht, dessen Seele ist unrettbar verloren. Ich habe gesehen, wie Ihr diese Klinge geführt habt, Erhabene, und es scheint Eure Seele nicht verschlungen zu haben.«
»Wer sagt Euch denn, dass ich jemals eine Seele hatte?«, fragte Pia und bedauerte ihre eigenen Worte schon, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte. Sie glaubte das unheimliche Wispern noch einmal zu hören, und sie erinnerte sich schaudernd an das triumphierende Kreischen tief in sich, diese schreckliche Gier, die sie in diesem Moment gespürt, und den unstillbaren Blutdurst, der Besitz von ihr ergriffen hatte. Hätte Alica sie nicht aufgehalten und einer von Istvans Männern diese winzige Ablenkung ausgenutzt, um sie niederzuschlagen, dann hätte wahrscheinlich niemand auf dieser Lichtung überlebt.
»Niemand«, antwortete Istvan. Er stand auf, hob das Schwert und machte ein paar spielerische Ausfälle, Finten und Paraden. Dann hielt er unversehens inne, blickte das Schwert mit einer Mischung aus Überraschung und verwirrtem Erschrecken an und schien es plötzlich sehr eilig zu haben, sich wieder zu setzen und das Schwert behutsam auf den Boden zu legen.
»Gleichwie«, sagte er, nachdem er sich ebenso ausgiebig wie unecht geräuspert und seine Fassung irgendwie zurückgewonnen hatte. »Ich weiß, wer Ihr seid, Gaylen. Vielleicht wisst Ihr es nicht einmal selbst oder weigert Euch, dieses Wissen anzuerkennen, aber ich weiß es.«
Und sie wusste es auch. Es war gewiss nicht der erste Moment, in dem ihr klar wurde, dass Istvan und all die anderen recht hatten und sie tatsächlich ein uraltes Erbe in sich trug, das ihr vielleicht von allen am rätselhaftesten war und sie noch immer maßlos erschreckte, aber einfach da war, doch es war der erste Moment, in dem sie dieses Begreifen auch akzeptierte. Der Gedanke erfüllte sie mit Ehrfurcht und Zorn zugleich – Ehrfurcht vor der uralten, unvorstellbaren Kraft, die sie tief in sich spürte, aber auch Zorn auf das Schicksal, das ihr dieses Geschenk gemacht hatte, ohne sie auch nur zu fragen, ob sie es überhaupt haben wollte.
»Wenn Ihr das wirklich glaubt, Istvan, wieso bin ich dann hier angekettet?«, fragte sie.
»Weil ich meine Befehle habe, Erhabene«, antwortete er. »Dass ich weiß, wer Ihr seid und woraus Eure Aufgabe besteht, bedeutet nicht, dass ich meine wahren Herren verleugne oder meinen Auftrag verrate.«
Nun, was hatte sie erwartet? Es gab wirklich eine Menge, was man gegen Istvan sagen konnte, aber auf seine ganz spezielle Art war er zweifellos ein Mann von Ehre, der niemals einen Verrat begehen würde.
»Und woraus besteht dieser Auftrag?«, fragte sie – obwohl sie die Antwort ganz genau kannte.
Istvan musste das auch wissen, aber er antwortete trotzdem. »Es sind Männer auf dem Weg hierher, um Euch in die Hauptstadt zu bringen, Erhabene. Ich habe Befehl, dafür zu sorgen, dass Ihr ihnen sicher und unversehrt übergeben werdet.«
»Und was geschieht dann mit mir?«, fragte Pia.
Istvan sah sie fast traurig an. »Das weiß ich nicht, Erhabene«, sagte er. Es klang ehrlich, aber zugleich auch so, als erwarte er ganz und gar nichts Gutes; so wenig wie Pia selbst.
Sie hätte ihn fragen können warum er es dann tat, hätte an sein Gewissen appellieren können oder an seine Vernunft oder ihn einfach um Gnade anflehen, aber sie tat nichts von alledem, weil auch nichts von alledem Sinn gehabt hätte.
Auf seine krude Art war Istvan tatsächlich ein Mann von Ehre, und mit solchen Leuten konnte man nicht reden. Sie versuchte es trotzdem. »Es könnte mein Todesurteil sein.«
»Nein, keine Angst«, antwortete er. »Sie werden Euch nicht töten, Erhabene.« So viel Glück wirst du nicht haben, fügte sein Blick hinzu.
Ja natürlich, was auch sonst? Irgendetwas hätte ja auch einmal einfach sein können.
Theoretisch.
»Aber Ihr verehrt mich«, sagte sie vorsichtig. »Oder das, wofür ich …« Sie unterbrach sich, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und hob dann ein wenig hilflos die Schultern. »Ihr versteht schon, was ich meine.«
»Ja.«
»Würdet Ihr mir dann … eine Bitte erfüllen? Nicht die, mich freizulassen, keine Sorge.«
»Wenn es in meiner Macht steht.«
»Was geschieht mit Alica? Sie ist nur ein einfaches Mädchen und nicht von Interesse für Eure Herren aus der Hauptstadt, und …« Sie unterbrach sich, als ihr sein Blick auffiel. Ihr Herz begann zu klopfen. »Sie ist nicht hier.«
»Nein«, antwortete Istvan.
»Ist sie …« Es kostete sie ihre ganze Kraft, das Wort auszusprechen. »Tot?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Istvan. »Nachdem meine Männer Euch überwältigt hatten, war sie verschwunden.«
»Verschwunden? Das glaube ich nicht!«, sagte Pia überzeugt. »Alica würde mich nie im Stich lassen!«
»Und doch war sie nicht mehr da«, beharrte Istvan. »Ich nehme an, die Barbaren haben sie mitgenommen. Wir haben sie verfolgt, aber nach einem Tag haben wir ihre Spur verloren und mussten aufgeben. Da draußen in den Wäldern sind sie uns überlegen. Und Eure Sicherheit hatte Vorrang.«
»Und die anderen?«, fragte sie stockend. Plötzlich hatte sie Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Die Barbaren hatten Alica entführt? Sie weigerte sich, das zu glauben. Schon weil sie sich nicht einmal vorzustellen wagte, was Hernandez mit ihr anstellen würde, wenn er begriff, dass Pia ihm schon wieder entkommen war.
Istvan schüttelte noch einmal den Kopf. »Ich fürchte, Ihr seid die Einzige, die den Überfall der Barbaren überlebt hat, Erhabene«, sagte er. »Einer der Gaukler konnte entkommen, doch wir haben seinen Leichnam eine Stunde entfernt gefunden.«
»Und Lasar?«
»Bracks Gehilfe? Er lebt.« Er hob rasch die Hand, als er die Hoffnung in ihren Augen aufblitzen sah. »Varga hat ihn versorgt, so gut sie konnte, aber ich fürchte, dass nicht mehr viel Hoffnung besteht.«
»Er hat eine Hand verloren«, erinnerte sich Pia.
»Und sehr viel Blut«, sagte Istvan ernst. »Varga sagt, es komme einem Wunder gleich, dass er überhaupt noch lebt. Aber er wird sterben.«
Pia war nicht überrascht, doch sehr traurig. Sie hatte Lasar für tot gehalten, als sie ihn auf der Lichtung in seinem Blut liegen sah, den Schmerz über seinen vermeintlichen Tod bisher aber verdrängt. »Das heißt, sie sind alle tot«, sagte sie bitter. »Alle, die den Fehler gemacht haben, mir helfen zu wollen. Selbst …« Ihre Stimme versagte, als sie an Lion dachte, und für einen Moment wünschte sie sich beinahe zurück in den Kerker, zurück zu den Ketten, den Schmerzen und dem Fieber, die ihr geholfen hatten, jenen anderen, weit schlimmeren Schmerz zu vergessen, den die Erinnerung an Lion bringen wollte.
Pia spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen, und kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen an. Istvan wusste nichts von Lion und er musste es auch nicht wissen. Sie hatte Lion verloren, kaum dass sie ihn gefunden hatte, und wenn der Schmerz die einzige Erinnerung an ihn sein sollte, die ihr blieb, dann würde sie ihn eifersüchtig bewachen und ihn hüten wie einen kostbaren Schatz.