»Was immer Ihr von ihm und seinen Plänen wisst, Ihr solltet es mir sagen. Nandes ist ein gefährlicher Mann. Es heißt, dass er sogar mit den Orks aus den kalten Ländern in Verhandlung steht, um sie in sein unseliges Bündnis mit aufzunehmen. Geriete ihm Eure Macht in die Hände, wären die Folgen unausdenkbar! Und glaubt mir, auch für Euch! Was immer auch in der Hauptstadt mit Euch geschehen mag, es ist nichts gegen das, was Nandes Euch antun wird!«
Das Schlimme war, dass er recht hatte, dachte sie niedergeschlagen. Sie schwieg.
»Nun, diese Neuigkeit lässt so manches in einem anderen Licht erscheinen«, fuhr Istvan fort, nachdenklich und besorgt zugleich. Er stand auf. »Ich fürchte, wir müssen unser Gespräch bei einer anderen Gelegenheit fortsetzen. Ich habe über das eine oder andere nachzudenken. Ihr entschuldigt mich?«
»Selbstverständlich«, sagte Pia. Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Weshalb Istvan auch immer wirklich gekommen war, er würde es ihr jetzt gewiss nicht mehr sagen.
»Darf ich noch eine Bitte äußern?«
»Sicher.«
»Lasar«, sagte Pia. »Ich würde ihn gerne sehen.«
»Das geht nicht«, antwortete Istvan bedauernd. »Er würde es nicht überleben, wenn wir ihn hierherbringen würden.«
»Dann bringt mich zu ihm«, bat Pia, bekam aber auch jetzt nur ein weiteres Kopfschütteln zur Antwort. »Ich fürchte, auch das geht nicht, Erhabene. Vielleicht … später. Morgen möglicherweise.«
Morgen, dachte Pia bitter. Ja, morgen. Falls er dann noch lebte.
Und sie.
XXXI
Der nächste Tag kam und ging, und sie wurde nicht zu Lasar gebracht, und auch Istvan kehrte nicht zurück, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Nur die alte Heilerin besuchte sie, einmal um ihr frische Kleider zu bringen und ihre Wunden zu versorgen, und dann noch zweimal, um ihr zu essen zu bringen.
Darüber hinaus kam ihr der Tag erstaunlich kurz vor; was daran lag, dass sie ihn zum allergrößten Teil schlafend verbrachte. Eingedenk der Tatsache, dass sie auch die drei Tage zuvor durchgeschlafen hatte, kam ihr das selbst ein wenig seltsam vor, aber sie war (und blieb) schrecklich müde, und mehr als einmal beschlich sie der Verdacht, dass Varga bei dieser unnatürlichen Müdigkeit ihre Hand im Spiel haben könnte. Die alte Heilerin antwortete auf ihre entsprechenden Fragen jedoch genau wie auf alle anderen – nämlich gar nicht –, und letzten Endes war es ihr auch gleich, ob Varga tatsächlich einen Abstecher in ihren Kräutergarten gemacht hatte oder ihr Körper einfach sein Recht verlangte. Diese Art von Schlaf war anders. Pia spürte (sogar während sie schlief), wie ihre Kräfte zurückkehrten und ihre Verletzungen heilten. Als Varga am darauffolgenden Morgen kam, um ihre Verbände zu wechseln, war sie selbst nicht annähernd so überrascht wie die alte Frau. Sämtliche kleineren Schrammen und blauen Flecke waren einfach verschwunden, und selbst die tiefen Wunden, die die Handschellen in ihre Gelenke gerissen hatten, begannen schon sichtbar zu heilen. Varga starrte ihre Arme geschlagene fünf Sekunden lang an und danach noch länger und mit vollkommen anderem Ausdruck ihr Gesicht, aber sie sagte nicht einmal dazu etwas. Eine der Fragen, auf die Pia niemals eine Antwort bekommen sollte, war die, ob die alte Heilerin überhaupt sprechen konnte.
Zwei Tage später waren an ihren Handgelenken nur noch zwei dünne weiße Narben zu sehen, und Varga verzichtete darauf, frische Verbände anzulegen, und wickelte lediglich zwei saubere Stoffstreifen um ihre Arme, damit die Fesseln ihr nicht sofort wieder neue Verletzungen zufügten.
Und das war das mit Abstand Aufregendste, was innerhalb der nächsten anderthalb Wochen geschah. Istvan kam nicht zurück, und sie erfuhr auch sonst rein gar nichts von dem, was in der Stadt und dem Rest der Welt geschah. Pia schlief nach wie vor viel, wenn auch nicht mehr ganz so viel wie am Anfang, und die Zeit, die sie wach war, verbrachte sie zum größten Teil damit, zu grübeln, mit dem Schicksal zu hadern und sich selbst leidzutun. Aber irgendwann ging auch diese Phase vorbei und eine andere begann: Sie hatte alle Gedanken gedacht, alle Fluchtpläne erwogen und wieder verworfen, und irgendwann begann die Zeit zu etwas Eigenständigem zu werden, begann allein durch ihr Verstreichen den Tag fast zur Gänze auszufüllen.
Zweimal am Tag kettete Varga sie los und führte sie auf die Toilette. Sie waren auch dabei allein, denn auf dem winzigen Innenhof, auf dem das mit Brettern vernagelte Örtchen stand, zeigte sich keine Menschenseele. Pia erwog einmal kurz den Gedanken, die Gelegenheit zu einem Fluchtversuch zu nutzen, verwarf die Idee aber rasch wieder. Varga zu überwältigen wäre sicherlich kein Problem (auch wenn ihr der Gedanke zuwider war, der alten Frau Gewalt anzutun), doch sie war trotz der vollkommenen Stille ringsum sicher, dass sie aus misstrauischen Augen beobachtet wurde.
Vielleicht zwei Wochen nach ihrer Rückkehr nach WeißWald änderte sich doch etwas.
Pia wachte früher auf als gewöhnlich, und obwohl nicht der geringste Laut in ihre Gefängniszelle drang, glaubte sie so etwas wie summende Nervosität zu spüren, die über der gesamten Stadt liegen mochte und selbst die Luft hier drinnen mit etwas Knisterndem erfüllte. Als sie sich aufsetzte, stellte sie fest, dass sich noch zwei andere Dinge verändert hatten: Es war spürbar kälter geworden, was daran lag, dass das Feuer im Kamin erloschen war. Varga musste vergessen haben, Holz nachzulegen, was sie normalerweise jeden Morgen zuverlässig tat, kurz bevor Pia aufwachte. Aber sie war trotzdem hier gewesen. Die zweite Veränderung lag auf dem Tisch: ein ausgesprochen hässliches, aber warmes Kleid, noch wärmere grobe Unterwäsche, ein gefütterter Mantel und (zu ihrem großen Erstaunen) ein Paar aus feinem Leder gearbeitete Stiefel; die magischen Schuhe, die sie von Brack bekommen hatte.
Was hatte das zu bedeuten?
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie eine Antwort auf diese Frage bekam, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit, die sie sich gewünscht hätte. Varga kam, stellte ein Tablett mit einem außergewöhnlich reichhaltigen Frühstück auf den Boden neben dem Tisch und kettete sie wie üblich schweigend los. Pia überfiel sie sofort mit einem Schwall von Fragen, die Kleider und die spürbare Veränderung der Stimmung betreffend, rechnete nicht mit einer Antwort und bekam auch keine. Die Alte bedeutete ihr nur mit ebenso ehrerbietigen wie energischen Gesten, sich anzuziehen, und nutzte die wenigen Augenblicke, die sie dafür brauchte, das Frühstück auf dem Tisch aufzutragen.
Es erwies sich als eine schon mehr als ausgewachsene Mahlzeit, mit der selbst ein hungriger Bauarbeiter seine liebe Mühe gehabt hätte. Pia aß trotzdem so viel davon, wie sie konnte, und sogar noch ein bisschen mehr. Diese Mahlzeit war bestimmt nicht zufällig so reichhaltig ausgefallen. Irgendetwas würde geschehen, und jemand war anscheinend der Meinung, dass sie eine kräftige Unterlage für den bevorstehenden Tag brauchte. Wer war sie, sich anzumaßen, es besser zu wissen?
Sie frühstückte ausgiebig zu Ende und hatte es kaum getan, als die Tür aufging und Istvan hereinkam. Er lächelte ein sehr warmes, ehrlich wirkendes Lächeln, aber in seinen Augen war zugleich auch ein Ausdruck von nicht mehr ganz unterdrückter Sorge, und etwas an ihm war anders. Doch es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erkannte, was – auf seinem Gesicht lag ein ganz sachter gehetzter Ausdruck, und wenn man genau hinsah, konnte man die Andeutung dunkler Ringe unter seinen Augen erkennen; und einen ungesunden grauen Schimmer auf seinen Wangen. Es schien, als hätte er in den zurückliegenden Tagen so wenig Schlaf gefunden wie sie zu viel.
»Guten Morgen, Erhabene«, begrüßte er sie. »Wie ich sehe, hat Varga alles wunschgemäß vorbereitet.«
»Wenn Ihr ihr befohlen habt, mich zu mästen, dann könnt Ihr zufrieden sein«, antwortete Pia. »Aber es hat auch ausgezeichnet geschmeckt. Wo seid Ihr die ganze Zeit gewesen, Kommandant? Ihr seid mir noch ein paar Antworten schuldig.«
»Aber Ihr habt doch gar keine Fragen gestellt, Erhabene«, antwortete er ruhig. »Trotzdem habt Ihr recht. Ich wollte eher zurückkommen, um unser Gespräch fortzusetzen, aber ich wurde aufgehalten. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich niemanden geschickt habe, um Euch zu informieren. Ich entschuldige mich in aller Form dafür … aber wir können es nachholen.«