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Pia sah ihn einen Herzschlag lang nachdenklich an. Konnte es sein, dass er nur plapperte, um aus irgendeinem Grund Zeit zu gewinnen?

»Und mir erklären, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte sie mit einer Geste auf den reich gedeckten Tisch, ihr Kleid und die magischen Schuhe, die sie noch nicht angezogen hatte.

Istvan starrte einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere, bevor er sich mit einer knappen Geste an Varga wandte. Die alte Heilern verließ das Zimmer, und Istvan wartete geduldig, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Ich fürchte, sehr viel Zeit zum Reden bleibt uns auch heute nicht«, sagte er. »Ich bin vorausgeritten, um noch die letzten Vorbereitungen zu treffen, aber Eure Eskorte wird in längstens zwei Stunden eintreffen.«

Warum erschrak sie eigentlich? Sie hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. »Immerhin schon mal eine positive Veränderung, nicht wahr?« Istvan blickte fragend, und Pia zwang sich zu einem nicht ganz geglückten Lächeln. »Bisher war ich eine Gefangene. Jetzt bekomme ich schon eine Eskorte.«

»Es freut mich, wenn Ihr es so seht«, sagte Istvan. Er blieb dabei auf eine Art ernst, die sie eigentlich beunruhigen sollte. Dann deutete er auf ihre Stiefel. »Ihr solltet sie anziehen, Erhabene. Wir können … auf dem Weg reden.«

»Auf dem Weg? Gerade habt Ihr gesagt, dass die Eskorte noch zwei Stunden weit weg ist.«

Istvan wich ihrem Blick aus. »Es tut mir leid, dass ich anscheinend immer nur mit schlechten Nachrichten zu Euch komme, Erhabene«, sagte er unbehaglich. »Aber bei unserem letzten Gespräch habt ihr Euch nach dem Jungen erkundigt.«

»Lasar?« Pia konnte selbst spüren, wie sich ihr Gesicht umwölkte. »Ich hoffe, er hat nicht zu sehr gelitten.«

»Er lebt«, antwortete Istvan, erstickte den Funken ungläubiger Hoffnung in ihr aber augenblicklich wieder, indem er den Kopf schüttelte und mit trauriger Stimme fortfuhr: »Der Junge muss unglaublich zäh sein. Er hat bis jetzt gekämpft, doch nun geht es zu Ende. Er wird den Tag nicht überstehen.«

»Und warum … sagt Ihr mir das?«, fragte Pia. Ihr Mund war mit einem Mal so trocken, dass sie kaum noch sprechen konnte. »Um mich zu quälen?«

Istvan wirkte nicht verletzt, trotzdem spürte Pia ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte das nicht sagen sollen. »Nein«, antwortete er. »Wir haben noch ein wenig Zeit. Ihr hattet darum gebeten, ihn sehen zu dürfen. Beim letzten Mal konnte ich Euch diesen Wunsch nicht erfüllen, aber jetzt … ich meine, wenn Ihr wollt, könnt Ihr ihn noch einmal sehen.«

Bei den letzten Worten klang er fast ein bisschen unbeholfen, fand Pia. Und ihre eigenen Worte von gerade taten ihr plötzlich noch mehr leid. Istvan hatte keineswegs vor, sie zu quälen. Er wollte ihr die Gelegenheit geben, Abschied zu nehmen, das war alles. Für einen Mann wie ihn musste es einen gewaltigen Satz bedeutet haben, so weit über seinen Schatten zu springen.

Sie lächelte dankbar und machte sich dann an die gar nicht so leichte Aufgabe, die Stiefel anzuziehen. Diese waren so eng, dass sie fast all ihre Kraft dafür brauchte und fast ein bisschen außer Atem war, als sie den ersten Stiefel anhatte.

»Warum tut Ihr das, Istvan?«, fragte sie, während sie sich mit dem zweiten abmühte.

»Es ist nur ein kleiner Umweg, und ich hatte das Gefühl, dass der Junge Euch etwas bedeutet.«

»Das meine ich nicht.« Pia deutete mit einem Kopfnicken und zusammengebissenen Zähnen auf den Stiefel, der sich beharrlich weigerte, schneller als millimeterweise an ihrer Wade hinaufzukriechen. »Ihr wisst, was das für Schuhe sind?«

»Sie sehen sehr hübsch aus, und sie stehen Euch ganz ausgezeichnet.« Er lächelte flüchtig und wurde danach umso ernster. »Ja, ich weiß, was das für Stiefel sind. Und ich weiß auch, woher Ihr sie habt. Warum sollte ich sie Euch nicht lassen? Sie werden Euch nicht helfen, zu fliehen oder irgendetwas anderes Unbedachtes zu tun. Diese Stiefel weisen Euch den richtigen Weg, das ist alles. Sie machen Euch weder schneller noch verleihen sie Euch Flügel.«

»Eigentlich schade«, sagte Pia. Der Stiefel rutschte mit einem so unerwarteten Ruck an ihrem Bein hoch, dass sie das Gleichgewicht verlor und einen Moment lang albern herumhampeln musste, um nicht rückwärts vom Stuhl zu fallen, was vermutlich noch sehr viel alberner ausgesehen hätte. Istvan rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, sondern grinste ganz im Gegenteil unverhohlen schadenfroh.

»Ja, vielen Dank auch für Eure Hilfe, Kommandant«, maulte Pia. »Ihr wisst wirklich, wie man eine Dame behandelt.«

Istvan feixte sogar noch breiter, aber er streckte immerhin die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, und Pia nahm dieses Angebot an, obwohl es ganz und gar nicht notwendig gewesen wäre … wenigstens so lange, bis sie nicht nur ganz dicht vor ihm stand, sondern ihn dabei um einen guten Kopf überragte, dann wurde die Situation irgendwie peinlich, und sie traten beide gleichzeitig und sehr hastig einen Schritt zurück.

»Ja, dann … sollten wir jetzt gehen«, sagte Istvan. »Es ist nicht weit, aber es wäre mir lieber, wenn wir wieder zurück sind, bevor Eure Eskorte eintrifft.«

Pia sagte nichts dazu, aber Istvans Angebot, sie zu Lasar zu bringen, erschien ihr plötzlich in einem anderen Licht. Möglicherweise war Istvan ja nicht nur großzügig. Er ging sogar ein gewisses Risiko ein, ihr diesen Ausflug zu gestatten.

Sie verließen das Zimmer und nach wenigen Augenblicken das Gebäude. Pias Gefühl von vorhin bewahrheitete sich: Über der Stadt lag eine spürbare Nervosität. Die wenigen Menschen, die ihnen begegneten, wirkten gehetzt und beinahe ängstlich, und ganz anders als sonst wurde sie nicht von jedem angestarrt, der ihren Weg kreuzte, sondern das genaue Gegenteil war der Fall. Die Menschen senkten sogleich den Blick oder sahen woanders hin, und mindestens zwei- oder dreimal entfernten sie sich so überhastet, dass das Wort Flucht der einzig zutreffende Begriff dafür war.

»Was ist hier los?«, fragte sie geradeheraus.

»Ihr seid eine sehr aufmerksame Beobachterin, Erhabene«, antwortete Istvan, ohne wirklich zu antworten. »Das ist mir auch vorher schon aufgefallen.«

»Jedenfalls merke ich, wenn mir jemand auszuweichen versucht.«

»Die Menschen haben Angst«, sagte Istvan, und fast, als hätte er sie eigens bestellt, um seine Behauptung unverzüglich zu untermauern, tauchte in diesem Moment eine dunkel gekleidete Frau vor ihnen auf, starrte Pia einen halben Atemzug lang aus aufgerissenen Augen an und fuhr dann auf dem Absatz herum, um eindeutig fluchtartig das Weite zu suchen.

»Vor mir«, vermutete sie.

»Ja«, antwortete Istvan, verbesserte sich dann: »Nein«, zuckte mit den Schultern und korrigierte sich noch einmaclass="underline" »Oder doch. Irgendwie schon.«

»Aha«, sagte Pia.

»Es ist eine Menge geschehen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, Erhabene«, fuhr Istvan fort, deutete nach vorne und fügte scheinbar unvermittelt hinzu: »Das Haus am Ende der Straße. Dort wohnt Varga. Sie hat den Jungen zu sich genommen.«

Vielleicht noch dreihundert Meter, schätzte Pia. Dreihundert Schritte … also gut, fünfhundert für Istvan. Auf jeden Fall Zeit genug, um auf ein paar Antworten zu bestehen.

»Ihr wart nicht in der Stadt«, sagte sie.

»Nein. Was Ihr über Nandes erzählt habt, das hat mich beunruhigt. Ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen … und ein paar Leute losgeschickt, um nach den Barbaren zu suchen, die Eure Freundin entführt haben.«

Zumindest die letzte Behauptung, vermutete Pia, war gelogen. Istvan war auf ihrer Sympathieskala zweifellos um etliche Plätze nach oben gerutscht (vom Mittelpunkt der Erde bis ins tiefste Kellergeschoss), aber dass er auch nur einen Finger rühren würde, um Alica zu retten, glaubte sie nun doch nicht. »Sind sie mit ihr oder ohne sie zurückgekommen?«, fragte sie.