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Istvan antwortete erst nach einem spürbaren Zögern. »Gar nicht«, sagte er.

Pia sah ihn überrascht an. Vielleicht hatte er ja doch die Wahrheit gesagt.

»Und das ist nicht alles«, fuhr er fort. »Es sind Barbaren gesehen worden.«

»Zum Beispiel von mir.«

»Von sehr vielen Leuten«, sagte Istvan ungerührt. »Und vermutlich auch vielen, die nicht mehr zurückgekommen sind, um davon zu berichten. Menschen sind verschwunden, und angeblich wurde einer der Clans angegriffen und ein Teil der Herde gestohlen.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Pia.

Istvan hob abermals die Schultern und sah bewusst an ihr vorbei. »Es gibt Gerüchte.«

»Was für Gerüchte?« Verdammt, warum ließ dieser Kerl sich eigentlich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?

»Es heißt, sie seien euretwegen hier.«

Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, war an diesen Gerüchten wahrscheinlich etwas dran. »Und jetzt haben sie Angst, sie könnten hierherkommen«, sagte Pia. »Meinetwegen.«

Dazu sagte Istvan nichts, aber das war auch nicht nötig.

»Na ja, morgen oder übermorgen bin ich vermutlich nicht mehr da, und dann haben die Leute hier keinen Grund mehr, Angst zu haben.«

Der bittere Klang in ihrer Stimme war Absicht, aber Istvan ging nicht darauf ein. »Es ist vermutlich auch besser für Euch. Auf jeden Fall sicherer. Ich glaube nicht, dass sie tollkühn genug dazu wären, aber sollten die Barbaren die Stadt tatsächlich angreifen, dann könnten wir Euch vielleicht nicht beschützen.«

Pia blieb stehen und sah den Stadtkommandanten stirnrunzelnd an. »Ich kann mich täuschen«, sagte sie, »aber habt Ihr nicht gerade selbst gesagt, diese Barbaren wären nichts als ein kleines Problem?«

»Und WeißWald ist eine kleine Stadt«, antwortete er ernst. »Ich habe kaum hundert Mann unter meinem Befehl, und bei der Hälfte davon bin ich schon froh, wenn sie ihr Schwert aus dem Gürtel ziehen können, ohne sich dabei die Finger abzuschneiden.«

»Und Ihr meint, mit meiner Eskorte wäre ich sicherer?«, fragte Pia zweifelnd. »Ein Zelt statt einer Stadtmauer, und eine Handvoll Reiter statt Eurer Garde?«

»Fünfhundert der besten Ritter, die das Land aufzubieten hat«, verbesserte sie Istvan, und eine Spur von Stolz war in seinen Worten zu hören. »Nicht einmal ein ganzer Barbarenstamm würde es wagen, sie anzugreifen.«

Na ja, dann hoffen wir mal, dass Hernandez nicht zwei aufgeboten hat, oder drei, dachte Pia. Oder ein paar noch viel bösere Überraschungen. Einen großen Unterschied zwischen Hernandez und Istvan gab es offenbar doch: Hernandez hatte seine Gegner nie unterschätzt.

Anderseits sollte sie jetzt auch nicht den Fehler begehen, ihn zu überschätzen.

Sie hatten ihr Ziel fast erreicht, und Pia blieb noch einmal stehen und sah sich demonstrativ um. »Wieso sind wir überhaupt allein?«, fragte sie. »Muss ich jetzt beleidigt sein, dass Ihr es nicht für nötig gehalten habt, auch nur einen einzigen Soldaten mitzunehmen, der auf mich aufpasst? Ich könnte immerhin versuchen zu fliehen.«

»Aber ich habe doch Euer Wort, dass Ihr das nicht tut, Erhabene.«

»Genau genommen nicht«, antwortete Pia.

Istvan seufzte. »Dann muss ich mich wohl getäuscht haben. Aber wohin solltet Ihr gehen? Niemand hier würde Euch helfen oder Euch auch nur Unterschlupf gewähren.«

Pia fiel mindestens ein Ort ein, an dem sie vermutlich in Sicherheit war; ganz bestimmt vor Istvans Leuten, und vielleicht sogar vor Hernandez und seinen Barbaren.

Das Problem war nur, dass sie diesen Ort noch mehr fürchtete als beide zusammen.

»Ja, es ist immer wieder ein schönes Gefühl, geliebt zu werden«, seufzte sie.

»Oh, das werdet Ihr«, sagte Istvan. »Das ganze Land wird Euch zu Füßen liegen, wenn Ihr erst einmal in der Hauptstadt seid.«

»So wie allen anderen, die dorthin gebracht worden sind? Ja, ich freue mich schon auf einen gemütlichen Job in der Wäscherei … oder im Steinbruch.«

»Hat Nandes Euch das erzählt?«, fragte Istvan.

»War es etwa nicht die Wahrheit?«

»Doch«, antwortete Istvan mit völlig unerwarteter Offenheit. »Viele wünschen sich, als die wiedergekommene Gaylen anerkannt und verehrt zu werden. Manche sind Betrüger, manche glauben es wirklich, aber sie alle zahlen einen hohen Preis für diesen Irrtum. Doch es gibt einen Unterschied.«

»So? Und wie sieht der aus?«

»Ihr seid es wirklich«, antwortete Istvan. »Wir sind da.«

Sie waren vor einem schmalen eingeschossigen Haus stehen geblieben, das sich von den anderen Gebäuden ringsum allenfalls dadurch unterschied, dass es noch ein wenig ärmlicher aussah. Die Tür stand einen schmalen Spaltbreit offen, aber dahinter war nichts als Dunkelheit zu erkennen.

»Ich warte hier draußen«, sagte Istvan. »Lasst Euch Zeit, aber nicht zu viel.«

Der Gedanke, allein dort hineinzugehen, bereitete ihr beinahe körperliches Unbehagen. Aber sie konnte und wollte jetzt auch nicht kehrtmachen. Dass Lasar nach all der Zeit noch immer lebte, erschien ihr unglaublich genug, und jetzt einfach wieder zu gehen, ohne ihn wenigstens noch einmal gesehen zu haben, wäre ihr nicht nur feige vorgekommen (und es gewesen), sondern auch wie ein Verrat an ihm. Nach allem, was er für sie getan hatte, ein vollkommen unerträglicher Verrat.

Sie betrat das Haus und war zunächst praktisch blind, aber nicht orientierungslos. Die schmalen Papierfenster waren nicht abgedunkelt, wie sie im ersten Moment angenommen hatte, sondern einfach so schmutzig, dass sie praktisch kein Licht mehr durchließen. Irgendwo vor ihr brannte eine einzelne Kerze, aber die flackernde gelbe Flamme schien die Dunkelheit hier drinnen eher noch zu vertiefen, als sauge sie das bisschen Licht auf, das es noch gab. Atemzüge waren zu hören und ein fast regelmäßiges helles Ticken, das sie für das Geräusch eines tropfenden Wasserhahns gehalten hätte, hätte es so etwas im Umkreis von ungefähr hunderttausend Lichtjahren gegeben. Dann entstand ein Streifen aus blassgrauem Zwielicht irgendwo in der Dunkelheit, und eine gebückte Gestalt machte einen einzelnen Schritt zu ihr herein und winkte ihr zu. Vielleicht sagte Varga sogar etwas, aber Pia war nicht sicher und es spielte auch keine Rolle. Schweigend folgte sie Vargas einladender Geste und betrat ein winziges und nun tatsächlich fensterloses Zimmer, das von zwei heftig rußenden Kerzen in eindeutig mehr Schatten als Licht getaucht wurde. Der hier anscheinend vorherrschenden spartanischen Einrichtungsphilosophie folgend war es praktisch leer und enthielt nur einen Stuhl, einen Kamin, der nicht so aussah, als hätte jemals ein Feuer darin gebrannt, und ein schmales Bett, auf dem ein sterbender Junge lag.

»Es ist gut, Varga«, sagte Pia. »Bitte lass uns allein.«

Sie konnte hören, wie die Heilerin sich herumdrehte und davon schlurfte. Und sie wartete auch noch ab, bis sie das Geräusch der Haustür hörte, bevor sie aus ihrer selbst auferlegten Starre erwachte und die zwei Schritte zum Bett ging.

Vielleicht waren es die beiden schwersten Schritte ihres Lebens.

Lasar war bewusstlos oder schlief, aber es war kein friedlicher Schlaf. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen und unregelmäßigen Stößen, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß; kleine ölig glänzende Perlen, die ein verwirrendes Muster auf seiner Haut bildeten und ihren schlechten Geruch dem Atem abschnürenden Gestank hinzufügten, der die Luft hier drinnen in etwas Zähflüssiges zu verwandeln schien, das sich nur noch mit einer bewussten Anstrengung in die Lungen saugen ließ. Der Geruch war so schlimm, dass sich ein leises Gefühl von Übelkeit in Pias Magen zu regen begann; ein Gestank nach Krankheit, Fäulnis und Tod.

Es war nicht Vargas Schuld. Soweit Pia es erkennen konnte, hatte sie den Jungen so gut versorgt und sauber gehalten, wie es nur ging. Es ging eben nicht besonders gut.

Pia schloss die Augen, zählte in Gedanken bis drei und zwang sich dann, den sterbenden Lasar so emotionslos und analytisch wie überhaupt nur möglich anzusehen. Es funktionierte nicht.

Auch ganz sachlich betrachtet bot Lasar einen durch und durch grauenerregenden Anblick. Er war immer schon klein gewesen und so schlank, dass das Wort eigentlich nicht mehr passte. Jetzt schien er … kleiner geworden zu sein und so weit in Richtung Skelett abgemagert, wie es ein Mensch nur konnte, ohne tatsächlich zu sterben.