Pia stand lange Zeit einfach da und sah auf Lasar hinab, und alles, was sie fühlte, waren Leere und ein nagendes Gefühl von Schuld. Niemand hatte diesen Jungen gezwungen, mit einem rostigen Küchenmesser auf einen ausgewachsenen Krieger loszugehen, der doppelt so groß war wie er.
Sie zog sich den Schemel heran, ließ sich darauf nieder und hätte um ein Haar nach seiner Hand gegriffen. Aber sie war nicht mehr da. Wo sie sein sollte, befand sich nur ein klobiger, gelb und braun verkrusteter Verband, den sie nun, wo sie ihn einmal gesehen hatte, auch als Quell des erbärmlichen Gestanks hier drinnen ausmachte. Empörung wollte sich in ihr breitmachen, aber sie sagte sich auch fast sofort, dass Varga für diesen Jungen mit Sicherheit alles getan hatte, was in ihrer Macht stand. Sie konnte eben nicht besonders viel tun. Selbst die talentierteste Kräuterhexe war wohl relativ machtlos in einer Welt, in der nicht einmal die grundlegendsten Begriffe der Hygiene bekannt waren. Lasars Armstumpf war brandig geworden, und die Entzündung hatte sich längst ausgebreitet und den gesamten Arm bis zur Schulter hinauf anschwellen lassen. Die Haut sah aus, als würde sie bei der leisesten Berührung aufplatzen. Pia verstand mit jeder Sekunde weniger, wieso der Junge überhaupt noch lebte. Sie verstand nicht viel davon, aber soweit sie wusste, führte Wundbrand normalerweise binnen weniger Tage zum Tod. Dass Lasar in diesem Zustand zwei Wochen durchgehalten hatte, war geradezu unglaublich. Er musste über eine gewaltige Willenskraft verfügen … oder Varga hatte doch noch ein paar Tricks mehr auf Lager, als sie ihr zutraute. Sie bezweifelte allerdings, dass sie dem Jungen damit einen Gefallen getan hatte.
Lasar bewegte sich unruhig. Ein dumpfes Stöhnen kam über seine Lippen, kein artikulierter Laut, sondern ein bloßer Ausdruck von Leid, der sich wie eine dünne Messerklinge in ihre Brust bohrte. Tränen füllten ihre Augen, ohne dass sie es auch nur merkte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Pia. »Warum hast du das nur getan, du dummer, tapferer Junge?« Lasar stöhnte im Fieber, als hätte er sie tatsächlich verstanden, und versuchte zu antworten, und Pia streckte nun doch die Hand aus und berührte seinen verstümmelten Arm. Seine Haut platzte nicht auf, wie ihre überbordende Fantasie ihr weismachen wollte, aber sie fühlte sich genauso an, wie sie es befürchtet hatte: heiß und fiebrig, so rau wie warmes Sandpapier und krank. Sie konnte spüren, wie sein Herz jagte, und etwas Unsichtbares und Verwundetes schien sich unter ihren Fingern zu krümmen. Sie konnte auch spüren, welch großen Schmerz ihm die sachte Berührung ihrer Hand bereitete, und wollte die Finger ganz instinktiv zurückziehen.
Stattdessen griff sie nur noch fester zu, spürte, wie seine Qual regelrecht explodierte, und machte den Schmerz zu ihrem eigenen, ohne ihn ihm zu nehmen. Geteiltes Leid war in diesem Falle nicht halbes Leid, sondern doppeltes, und erneut hörte sie ein gequältes Stöhnen, ohne auch nur zu begreifen, dass dieser Laut über ihre eigenen Lippen kam. Etwas in ihr krümmte sich in einer Pein, wie sie sie nie zuvor im Leben kennengelernt hatte, ja, sich bis zu diesem Moment nicht einmal hatte vorstellen können, aber sie schrak nicht davor zurück, sondern stellte sich ihr, schritt durch einen Vorhang aus purem Feuer und suchte nach seinem Ursprung. Sie brannte. Ihre Seele berührte das Herz einer lodernden weißen Sonne und tauchte hinein in einen Ozean aus reiner Qual. Da war etwas Verzehrendes in ihm, eine schwarze Flamme, die das hellere Feuer des Lebens erstickte und durch schwärende Fäulnis ersetzte, die an ihm fraß und nagte und alles verdarb, was irgendwann einmal lebendig an ihm gewesen war.
Prinzessin Gaylen streckte eine unsichtbare Hand nach dieser Flamme aus, erstickte sie und entzündete ein helleres, reineres Licht an ihrer Stelle, dann schwanden ihr die Sinne, und sie brach über dem bewusstlosen Jungen zusammen.
XXXII
Etwas Kühles berührte ihre Stirn, und eine knochige, aber sehr sanfte Hand machte sich an ihrem Gesicht und ihren Schläfen zu schaffen, ohne dass sie genau sagen konnte, was sie dort tat. Aber es tat gut, und sie hatte das ebenso grundlose wie bestimmte Gefühl, nicht nur in Sicherheit, sondern auch unter Freunden zu sein, was vielleicht sogar wichtiger war.
Das Gesicht, in das sie sah, als sie die Augen aufschlug, gehörte jedoch keinem ihrer wenigen Freunde, sondern einer verhutzelten alten Frau, die mindestens zweihundert Jahre alt sein musste und nur aus Falten und Runzeln und zu Sorgenfalten erstarrter blasser Haut voller Altersflecken zu bestehen schien. Vargas Augen wirkten noch trüber als sonst und von einer Mischung aus Sorge und Angst und sachter Panik erfüllt, doch in ihnen waren auch Erschrecken und Zorn und fast so etwas wie Wut. Ihre linke Hand tastete weiter über ihr Gesicht und tat irgendetwas daran, das Pia immer noch nicht verstand und das immer noch ungemein wohl tat, und ihre andere Hand tupfte ein angefeuchtetes Tuch auf ihre Stirn, das ihre Haut kühlte, das schwelende Feuer darunter aber eher zu noch heißerer Glut anzufachen schien. Da waren Geräusche, die ihr verrieten, dass noch jemand hier drinnen war, aber es vergingen ein paar Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, wo dieses hier überhaupt war.
»Hattet Ihr mir nicht versprochen, mich allein zu lassen, Kommandant?«, fragte sie. Aus dem scharfen Ton, den sie hatte anschlagen wollen, wurde nichts. Ihre Stimme versagte ihr zwar nicht vollends den Dienst, ließ aber nicht mehr als ein schwächliches Flüstern zu. Pia war nicht einmal ganz sicher, ob die zweite Person, deren Anwesenheit sie fühlte, überhaupt Istvan war.
Er war es. Seine schmale, aber offensichtlich sehr kräftige Hand legte sich auf Vargas Schulter und schob sie unsanft zur Seite. »Das ist richtig, Erhabene«, sagte er. Sowohl seine Miene als auch seine Stimme hatten eine Menge von ihrer Freundlichkeit eingebüßt. »Aber das war vor mehr als einer Stunde. Fühlt Ihr Euch wieder besser?«
Pia konnte sich nicht wirklich erinnern, sich schlecht gefühlt zu haben … eigentlich konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, wie sie sich in der zurückliegenden Stunde (Stunde? Hatte er eine Stunde gesagt?) gefühlt hatte. Sie war sehr schwach. Zwischen ihren Schläfen war ein an und ab schwellendes Summen wie von einem zornigen Bienenschwarm, und wo ihre Erinnerungen sein sollten, war nichts als ein vages Gefühl, etwas Böses und sehr, sehr Gefährliches berührt zu haben. Eine Stunde? Sie war hierhergekommen, um Lasars Sterben zu erleichtern, aber wie es aussah, hatte sie es wohl eher noch einmal hinausgezögert. Wortlos stand sie auf (sie war mit dem Rücken an der Wand neben dem Kamin lehnend zu sich gekommen) und streifte das Bett, auf dem Lasar lag, mit einem kurzen Blick, wobei sie es aber fast angstvoll vermied, in sein Gesicht zu sehen. Ihre Erinnerungen waren immer noch nicht vollständig, aber das, was nach und nach zurückkehrte, verriet ihr mehr, als sie eigentlich wissen wollte. Lasar hatte einen leichten Tod gehabt. Aber wahrscheinlich, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, war jeder Tod leicht nach zwei Wochen Höllenqualen.
»Es tut mir leid, wenn ich Eure Zeit über Gebühr in Anspruch genommen habe«, sagte sie kühl. »Er wollte einfach nicht so schnell sterben, wie es vielleicht angemessen gewesen wäre.«
Istvans Miene verdüsterte sich wunschgemäß, auch wenn sie das sichere Gefühl hatte, dass er sich weit mehr über ihren Ton ärgerte als über das, was sie gesagt hatte. »Ich fürchte, wir müssen jetzt wirklich zurück, Erhabene«, sagte er. »Die Zeit war lang genug, um Abschied zu nehmen.« Er wollte sich umwenden, doch Varga ergriff ihn am Arm und zerrte ihn fast schon grob in die entgegengesetzte Richtung. Istvan schüttelte ihre Hand mit einer ärgerlichen Bewegung ab und setzte auch zu einer entsprechenden Bemerkung an, aber dann machte er stattdessen ein überraschtes Gesicht – vielleicht auch ein bisschen erschrocken –, trat an Lasars Sterbebett und schob sie unsanft zur Seite, um sich über den reglosen Jungen zu beugen. Einen Augenblick lang stand er einfach nur in sonderbar verkrampfter Haltung da, dann konnte Pia hören, wie er scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog, und begab sich mit klopfendem Herzen an seine Seite. Sie hatte Angst vor dem, was sie wahrscheinlich sehen würde, aber sie sagte sich auch, dass sie Lasar diesen letzten Blick schuldig war. Der Junge hatte sein Leben für sie gegeben, und sie hatte Angst vor einem Blick in sein Gesicht?