Vielleicht zu Recht. Lasar war nicht tot. Er war nicht einmal mehr bewusstlos, und sogar sein Fieber schien nicht mehr ganz so schlimm zu sein wie zuvor. Seine Augen standen offen, und sein Blick war nicht trüb und von Fieber und Schmerz verschleiert, wie sie es erwartete, sondern war klar.
»Aber das ist doch …«, murmelte Pia. Istvan brachte sie mit einer raschen Geste zum Schweigen, winkte mit der anderen Hand die Heilerin heran und starrte sie und den Jungen abwechselnd, aber mit derselben Fassungslosigkeit an. Sie schien fast so groß zu sein wie die, die Pia empfand.
Varga eilte mit trippelnden kleinen Schritten um das Bett herum, beugte sich über Lasar und fuhr einen Moment lang auf dieselbe Art mit den Fingerspitzen über sein Gesicht, wie sie es gerade bei Pia getan hatte. Dann sog auch sie und noch viel schärfer als Istvan gerade die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was … ist mit ihm?«, fragte Pia stockend.
»Diese Frage sollte ich eigentlich an Euch richten«, antwortete Istvan. Seine Stimme klang flach. »Was habt Ihr getan?«
Pia konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas getan zu haben, aber irgendetwas war ganz zweifellos mit Lasar geschehen. Sein Zustand hatte sich sichtbar gebessert. Es sah immer noch sehr krank aus, jedoch nicht mehr wie jemand, der seit zwei Wochen im Sterben lag.
Was er nicht würde, begriff Pia. Lasar war zu schwach, um auch nur den winzigsten Laut von sich zu geben, sein Atem ging langsam und sehr flach, und er sah immer noch aus wie ein Gespenst, das jemand schlampig mit menschlicher Haut überzogen hatte … aber er würde leben.
»Wäre ich ein abergläubischer Mensch, Erhabene«, sagte Istvan leise, »dann würde ich jetzt möglicherweise anfangen, an schwarze Magie zu glauben.«
Womit er sich in guter Gesellschaft befinden würde, dachte Pia. Zum Beispiel in ihrer. Sie starrte Lasar weiter fassungslos an und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber es gelang ihr nicht. Da war etwas wie die Erinnerung an eine schwarze Flamme, doch sie war nicht klar, kaum mehr als die Ahnung einer Erinnerung, und je angestrengter sie sie herbeizuzwingen versuchte, desto rascher schien sie zu verblassen.
Schritte wurden hinter ihnen laut, und ein Mann in der Uniform der Stadtgarde erschien unter der Tür und verlangte mit einem entsprechenden Blick nach Istvans Aufmerksamkeit. Er ging hin, wechselte ein paar Worte mit dem Soldaten und kam mit versteinertem Gesicht zurück.
»Wir müssen jetzt gehen, Erhabene«, sagte er. Täuschte sie sich oder hatte er das letzte Wort eine Spur anders betont als sonst? Wahrscheinlich täuschte sie sich.
Pia wandte sich noch einmal zu Lasar um und setzte dazu an, etwas zu sagen, und Istvan fügte hinzu: »Jetzt, Erhabene.«
Sie tauschte trotzdem noch einen langen Blick mit Lasar, lächelte ihm zu und folgte Istvan und dem Soldaten dann ins vordere Zimmer. Nach dem furchtbaren Geruch und der Dunkelheit nebenan kam ihr jeder Atemzug hier drinnen wie ein Labsal vor, aber die offen stehende Tür nach draußen war noch viel verlockender. Sie versuchte sie mit schnellen Schritten anzusteuern, doch Istvan schüttelte rasch den Kopf. »Noch eines, Erhabene.«
»Ja?«
»Wenn wir … wenn Ihr gleich mit Torman sprecht, dann wäre es vielleicht besser, ihm nichts von dem zu erzählen, was Ihr gerade getan habt.«
»Das dürfte mir nicht besonders schwerfallen«, antwortete Pia. Istvan blickte fragend, und sie zwang sich zu einem schiefen Grinsen. »Würdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch sage, das ich selbst nicht weiß, was ich getan habe – oder ob ich überhaupt etwas getan habe?«
»Ja«, antwortete Istvan so schnell, als hätte er genau diese Antwort erwartet. »Aber das ändert nichts daran, dass Ihr etwas getan habt. Ich weiß nicht, was, aber es wäre vielleicht besser, wenn Torman …« Er suchte einen Moment nach den richtigen Worten, und Pia, die nichts mehr wollte, als endlich aus diesem stickigen Loch herauszukommen, kam ihm zu Hilfe: »Falsche Schlüsse aus etwas zieht, was er ebenso wenig versteht?«
Istvan nickte.
»Wer ist dieser Torman? Der Anführer meiner Eskorte?«
»Ja. Und er ist nicht unbedingt für seine Geduld bekannt. Es wäre besser, wenn wir ihn nicht warten lassen.«
Der Gedanke, noch ein bisschen herumzutrödeln, nur um auch ganz sicherzugehen, dass sie auch tatsächlich zu spät kamen und sie Istvan dabei zusehen konnte, wie er sich wand und drehte und nach irgendeiner glaubhaften Ausrede suchte, hatte etwas durchaus Verlockendes. Aber dann sah sie ein, wie unfair das wäre. Istvan hatte sich ein bisschen unfaire Behandlung redlich verdient … doch er hatte ihr gerade auch eine Stunde geschenkt, einfach so. Also gut. Sie verzichtete darauf, ihm ein paar glühende Stecknadeln unter die Fingernägel zu treiben, und machte sich in Gedanken eine Notiz, dass sie quitt waren. »Dann sollten wir uns beeilen«, sagte sie nur.
Nach einer Stunde, die sie in fast völliger Dunkelheit zugebracht hatte, machte sie das grelle Sonnenlicht fast blind. Aber die klare und sehr kalte Luft verscheuchte die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf, und spätestens der zweite Atemzug auch die faulige Luft aus ihren Lungen. Im ersten Moment konnte sie Istvan nur als Schemen erkennen, dessen Ränder sich im grellen Licht aufzulösen schienen, aber ihr fiel trotzdem auf, dass er zwar neben ihr ging, sein Begleiter aber zwei Schritte vorauseilte und es noch einen zweiten Soldaten gab, der offensichtlich vor der Tür gewartet hatte und ihnen jetzt im gleichen Abstand folgte. Beide Männer wirkten nervös und beide hatten die Hände auf die Griffe ihrer Waffen gelegt.
»Dieser Torman scheint Euch nicht unbedingt sympathisch zu sein, Kommandant«, sagte sie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren. »Wie kommt das?«
»Haltet Ihr es für klug, solche Fragen zu stellen?«, fragte Istvan.
»Nein«, antwortete Pia. »Aber wenn ich klug wäre, dann wäre ich nicht hier.«
Istvan lachte, setzte zu einer Antwort an und blieb dann mitten in der Bewegung stehen. »Wie es aussieht, könnt Ihr ihm diese Frage gleich selbst stellen«, sagte er.
Pias Blick folgte dem Istvans, und sie war beinahe ein bisschen erstaunt über sich selbst, dass ihre einzige Reaktion aus einem überraschten Stirnrunzeln bestand.
Es war das erste Mal, dass sie Reiter innerhalb der Stadtmauern sah. Pferde hatte sie eine Menge gesehen, manche davon sogar gesattelt (auch wenn für die meisten die Bezeichnung Pony eher zutreffend gewesen wäre), aber auf keinem einzigen hatte ein Reiter gesessen. Diese hatten Reiter, und deren Anblick war sogar noch sehr viel ungewöhnlicher.
Im ersten Moment glaubte sie, ihre Augen würden ihr einen Streich spielen, weil sich die drei Reiter direkt aus Richtung der aufgehenden Sonne näherten. Sie waren riesig, nicht nur für hiesige Verhältnisse, und alles an ihnen war schwarz, wie Schatten, denen durch einen bösen Zauber die Körper abhanden gekommen waren. Sie rasten in scharfem Galopp heran, aber die hämmernden Pferdehufe erzeugten kaum einen Laut auf dem hart gefrorenen Boden, und irgendwie schienen sie auch nicht … deutlicher zu werden, als sie näher kamen, sondern Schatten zu bleiben.
»Ist das Torman?«, fragte sie.
Istvan nickte abgehackt. »Ja. Er ist selbst gekommen. Aber warum?«
Die drei Reiter sprengten weiter heran, ohne ihr Tempo auch nur im Mindesten zu verlangsamen, und wurden rasend schnell größer, aber immer noch nicht realer, als existierten sie nicht wirklich in dieser Welt, sondern in einer, die ein winziges Stückchen in Richtung der Schatten abgedriftet war.