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»Eigentlich müsste ich noch ein paar Sachen packen«, antwortete Pia. »Das kommt jetzt doch ein bisschen überraschend, Schwert. Ihr wisst ja, wie wir Frauen sind. Wir gehen nie ohne das Nötigste aus dem Haus. Ein bisschen Schminkkram, unser Handtäschchen, den einen oder anderen Schrankkoffer voller Kleider und …«

Torman legte ihr kurzerhand beide Hände um die Hüften, hob sie ohne die geringste Mühe hoch und setzte sie in den Sattel seines schwarzen Schlachtrosses.

»He!«, protestierte Pia. Sogar jetzt, da sie auf dem Pferd saß, hatte es immer noch etwas von einem Schatten; ein Schatten, der etliche Zentner wog und die Kraft eines Elefantenbullen haben musste, trotzdem aber auf fast unheimliche Weise zugleich substanzlos wirkte. Und was vielleicht noch viel schlimmer war: Tief in sich spürte Pia, dass diese verwirrende Gefühl nicht nur vollkommen richtig war, sondern sie eigentlich auch ganz genau wusste, was es bedeutete.

»Aber Herr!«, stammelte Istvan. »Geehrtes Schwert! Ich bitte Euch! Ich hatte gehofft, dass Ihr mir die Ehre erweist, mit mir zu speisen und …«

»Ich erwarte einen ausführlichen Bericht von Euch, Istvan«, sagte Torman, während er bereits nach dem Zaumzeug seines Pferdes griff. »Wenn Ihr des Schreibens mächtig seid, dann verfasst ihn noch heute und in aller Ausführlichkeit, und wenn nicht, dann sucht Euch jemanden, der es für Euch tut. Wir machen uns sofort auf den Rückweg, aber ein schneller Reiter dürfte uns ohne Mühe bis morgen Abend einholen.«

Pia griff hastig nach den Zügeln, als sich das Pferd in Bewegung setzte, sah beinahe sofort ein, dass das keine besonders gute Idee war, und grub stattdessen die Finger in die schwarze Mähne des Tieres. Gleichzeitig versuchte sie die Schenkel zusammenzupressen, um sich irgendwie im Sattel festzuhalten, aber dafür war das Tier einfach zu massig. Sie hatte die Wahrheit gesagt, als sie behauptet hatte, noch niemals auf einem Pferd gesessen zu haben, aber vermutlich hatte noch niemand in ihrer Welt auf einem solchen Pferd gesessen. Das Tier war riesig.

»Dann begleite ich Euch wenigstens noch bis zum Tor«, sagte Istvan hastig. »Könntet Ihr … ich meine … würdet Ihr mir die Gnade erweisen, mir zu erklären, was Ihr mit Euren Worten gemeint habt? Von welcher Gefahr habt Ihr gesprochen? Müssen wir uns auf einen Angriff vorbereiten? Von wem? Den Barbaren?«

»Wäre mir die Natur dieser Gefahr bekannt, Istvan, so hätte ich bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen.« Torman ging los. Irgendwie war es seinen beiden Begleitern gelungen, ihre Tiere herumzudrehen, ohne dass Pia auch nur eine Art von Bewegung registriert hätte, und auch sie setzten sich im gleichen Moment in Bewegung. Anders als vorhin, als sie nahezu lautlos herangaloppiert waren, erzeugten die Hufe ihrer Pferde jetzt lang anhaltende, klackende Echos auf dem Boden, die von den Häusern beiderseits der Straße vielfach verzerrt zurückgeworfen wurden. Ihr eigenes Pferd bewegte sich so sanft, dass Pia kaum etwas spürte; trotzdem krallte sie die Finger weiter mit aller Kraft in die Mähne des Tieres und presste auch die Schenkel weiter mit solcher Gewalt zusammen, dass sie in spätestens fünf Minuten einen Krampf bekommen würde.

Istvan eilte nervös neben ihnen her, wobei er jedes Mal drei Schritte machen musste, wenn Torman einen tat. »Lauf los, Dummkopf!«, fuhr er einen der beiden Gardisten an, die sie begleiteten. »Die Wachen auf den Mauern werden verdoppelt. Und sie sollen eine Eskorte schicken, die das ehrbare Schwert und seine Begleiter zum Tor begleiten!«

Torman sagte nichts, aber Pia meinte zum ersten Mal eine Reaktion auf seinem schmalen Gesicht zu erkennen; etwas wie ein ganz sachtes abfälliges Verziehen der Lippen. Seine Hand schloss sich ein wenig fester um das mit schwarzem Metall beschlagene Zaumzeug des gewaltigen Schlachtrosses, und das Tier schnaubte leise. Irgendwie klang der Laut amüsiert, dachte Pia, obwohl eine solche Regung bei einem Tier wie diesem absolut unpassend schien.

Ihr selbst war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Sie war … verstört. Einem Teil von ihr war vollkommen klar, dass sie die Stadt innerhalb der nächsten Minuten verlassen und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nie mehr wiedersehen würde. Alles war so schnell gegangen, dass sie sich wie überfahren fühlte. Wahrscheinlich würde sie erst wirklich verstehen, was mit ihr geschah, wenn sie schon lange unterwegs zur Hauptstadt war.

Auf dem gesamten Weg zum Stadttor begegnete ihnen kein Mensch. Die Stadt wirkte wie ausgestorben, aber Pia hatte das Gefühl, dass es diesmal nicht an ihr lag oder daran, dass Istvan seinen Männern Befehl gegeben hatte, die Straßen zu räumen. Es waren die drei lebenden Schatten in ihrer Begleitung, vor denen die Menschen sich fürchteten. Ewas wie eine Aura unsichtbarer Kälte umgab sie und ihre Tiere, ein Mantel aus lautlos flüsternden Schatten, der etwas in ihrer Seele berührte und zum Erschauern brachte. Eigentlich sollte es auch ihr Angst machen, überlegte sie, aber seltsamerweise tat es das nicht.

Sie bogen abermals ab, und am Ende der langen Straße, die nun vor ihnen lag, erhob sich die Stadtmauer und der gedrungene Torturm. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Pia erkennen, dass das innere Tor geschlossen war. Zahlreiche Soldaten hatten auf dem Zinnengang darüber Aufstellung genommen und sahen ihnen entgegen, und direkt vor dem Tor wartete ein halbes Dutzend weiterer Reiter auf sie, auch sie sehr groß und vollkommen in Schwarz gekleidet, aber Menschen, keine Schattenkreaturen.

Es war erst dieser Anblick, der ihr wirklich klarmachte, dass sie die Stadt nun tatsächlich verlassen würden, und das unwiderruflich. Endgültig und für immer. Sie würde nicht nur WeißWald und Lasar und Brack und alle anderen hier nicht mehr wiedersehen, sondern auch …

»Istvan?«

Der Stadtkommandant stolperte vor lauter Hast beinahe über seine eigenen Füße, während er sich im Gehen herumzudrehen und zu ihr hinaufzusehen versuchte. »Erhabene?«

»Darf ich Euch noch um einen letzten Gefallen bitten, Istvan?«, fragte Pia.

»Wenn es in meiner Macht steht.«

Torman machte eine Bewegung, wie um den Kopf zu drehen und sie anzusehen, beließ es dann aber bei einem angedeuteten Blick aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht blieb so ungerührt, wie es die ganze Zeit über gewesen war, aber Pia hatte trotzdem das Gefühl, dass es ihm nicht gefiel, sie mit Istvan reden zu sehen.

»Könnt Ihr weiter versuchen, etwas über Alica herauszufinden?«, bat sie. »Ich will nicht, dass Ihr Euch oder Eure Leute in Gefahr bringt, aber vielleicht kommt Euch ja irgendetwas zu Ohren.«

Istvan nickte zwar, machte aber trotzdem ein betrübtes Gesicht. »Ich werde tun, was mir möglich ist, Erhabene«, versprach er. »Aber Ihr solltet Euch nicht zu viele Hoffnungen machen. Meine Männer haben den ganzen Bereich abgesucht, ohne eine Spur von ihr zu finden.«

»Aber sie haben auch ihre Leiche nicht gefunden.«

»Nein«, räumte Istvan ein. »Aber ich weiß nicht, ob Ihr Euch wünschen solltet, dass sie noch lebt. Wenn die Barbaren sie mitgenommen haben …« Er ließ den Satz absichtlich unbeendet und unheilschwanger in der Luft hängen, doch Pia reagierte nur mit einem Kopfschütteln.

»Glaubt mir, Istvan, wenn die Barbaren Alica tatsächlich gefangen genommen haben, dann solltet Ihr Euch vielleicht lieber Sorgen um siemachen.«

Istvan lächelte, doch es wirkte eher pflichtschuldig als überzeugt, und natürlich war Pia auch klar, dass sie Blödsinn redete. Alica war ganz zweifellos in der Lage, sich ihrer Haut zu wehren, wie der eine oder andere Bewohner WeißWalds am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, aber die Kerle, die sie dort draußen im Wald überfallen hatten, waren ein ganz anderes Kaliber.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Torman im nächsten Moment: »Vielleicht solltet Ihr Eurer Freundin nicht wünschen, noch am Leben zu sein, Gaylen.« Er drehte nun doch den Kopf und sah sie aus seinen sonderbaren Augen an, wozu er nicht einmal den Kopf in den Nacken legen musste: Obwohl sie im Sattel saß und er neben ihr ging, befanden sich ihre Gesichter nahezu auf gleicher Höhe. Er war wirklich groß. »Die Barbaren sind für ihre Grausamkeit bekannt.«