»Alica kann schon auf sich aufpassen«, antwortete sie trotzig. Torman sagte nichts mehr dazu, aber sein Blick ließ sie auch nicht los, sondern löste sich nur von ihrem Gesicht und tastete ganz unverhohlen über ihre Gestalt, und Pia hatte das unangenehme Gefühl, weder der schwere Mantel noch das Kleid, das sie darunter trug, stellten ein nennenswertes Hindernis für ihn dar. Dass ihr die Art, auf die er sie anstarrte, nicht verborgen blieb, konnte ihm keineswegs entgehen, aber es schien ihn nicht zu interessieren. Er betrachtete sie aufmerksam weiter, dann erlosch sein Interesse so schnell, wie es gekommen war. Gewogen und zu leicht befunden, dachte Pia. Aber was hatte sie erwartet? Im Vergleich zu ihm und seinen beiden hünenhaften Begleitern war sie nicht mehr als ein Kind, und das wahrscheinlich nicht nur in körperlicher Hinsicht. Plötzlich glaubte sie zum ersten Mal wirklich zu verstehen, wie sich die Menschen in dieser Stadt fühlen mochten, wenn sie Alica und ihr gegenüberstanden.
Es ärgerte sie trotzdem.
»Beantwortet Ihr mir eine Frage, Schwert?«
»Das kommt auf die Frage an«, sagte Torman. Pia schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Immerhin sprach er mit ihr, und das war schon beinahe mehr, als sie vor ein paar Minuten noch zu hoffen gewagt hätte.
»Glaubt Ihr, dass ich die echte Prinzessin Gaylen bin?«
»Nein«, antwortete Torman. »Ich glaube es nicht. Ich weiß es.«
Pia war nicht einmal wirklich überrascht. »Wenn das so ist«, fragte sie, »warum erstarrt Ihr dann nicht vor Ehrfurcht und kriecht vor mir im Staub, statt mich wie eine Gefangene zu behandeln?«
»Warum sollte ich das tun?«, erwiderte Torman gelassen und ohne sie dabei anzusehen. »Was wir verehren, ist in Euch. Das Blut des alten Geschlechts, das in Euren Adern fließt. Nicht Ihr. Ihr seid nur ein Mensch, der mit Dingen spielt, die er nicht versteht. Es war Eure Magie, deren Wirken ich gespürt habe, habe ich recht? Was habt Ihr getan?«
»Ich glaube nicht, dass ich Euch das verraten möchte«, antwortete Pia.
Istvan, der nach wie vor neben ihrem Pferd herstolperte, riss die Augen auf und sah regelrecht entsetzt aus, aber Torman deutete nur ein Achselzucken an. Seine schwarze Rüstung klirrte leise.
»Ganz, wie Ihr meint«, sagte er. »Doch was immer es war, Ihr solltet es nicht wiederholen, solange wir draußen in der Wildnis sind.«
»Warum?«
»Weil es gefährlich ist«, antwortete Torman. »Magie ist kein Spielzeug, sondern eine mächtige Waffe, die in den falschen Händen ungeheuren Schaden anrichten kann. Und sie bleibt nicht unbemerkt. Ich habe sie gespürt, und andere könnten sie auch spüren. Sie könnte … Dinge anlocken.«
»Dinge?«
Torman wiederholte nur sein angedeutetes Schulterzucken. Vermutlich war diese Erklärung für seine Begriffe Antwort genug gewesen, und wenn es in seiner Absicht gelegen hatte, sie damit zu verunsichern, dann hatte er sein Ziel erreicht. Dinge? Was zum Teufel meinte er mit Dinge?
Sie betraten den freien Platz vor dem Torturm, und Pia sah, dass Istvans Soldaten seinen Befehl zumindest zum Teil bereits ausgeführt hatten: Auf dem Wehrgang waren noch weitere Männer erschienen, bei denen es sich um ausgesucht große und kräftige Soldaten zu handeln schien (wahrscheinlich, um Torman zu beeindrucken, dachte sie abfällig), und ein gutes Dutzend Gardisten war auf dem Platz zusammengelaufen und behinderte sich gegenseitig nach Kräften dabei, so etwas wie ein unordentliches Spalier zu bilden. Sie warf einen raschen Blick in Tormans Gesicht und stellte fest, dass er sichtliche Mühe hatte, nicht zu abfällig die Lippen zu verziehen.
Ein krächzender Schrei erklang. Torman blieb mitten im Schritt stehen und warf den Kopf in den Nacken, und zum allerersten Mal erschien so etwas wie ein echtes Gefühl auf seinem Gesicht: ein Ausdruck von abgrundtiefem Erschrecken. Pia sah ebenfalls auf, und nach dem, was sie gerade im Blick des Schattenelben gesehen hatte, wäre sie wahrscheinlich nicht einmal überrascht gewesen, einen ausgewachsenen Drachen oder irgendein anderes, noch fantastischeres Ungeheuer zu erblicken.
Alles, was sie sah, war ein schwarzer Rabe, der mit ausgebreiteten Flügeln reglos über dem Platz schwebte.
Das Krächzen wiederholte sich, und ein schattenhafter Schemen jagte zu dem Raben hoch, spießte ihn auf und schmetterte ihn aus der Luft. Noch bevor er mit wild schlagenden Flügeln auf dem Boden aufschlug, ertönte ein gellender Schrei, und einer von Istvans Soldaten kippte rücklings von der Mauer und stürzte auf den hart gefrorenen Boden. Unter den anderen Kriegern schien aus irgendeinem unbegreiflichen Grund ein wildes Handgemenge auszubrechen. Alles geschah gleichzeitig und rasend schnell. Torman schrie irgendetwas, das sie nicht verstand, und tat irgendetwas noch viel Unbegreiflicheres, woraufhin sich Pia plötzlich wieder auf ihren Füßen stehend und auf dem Boden wiederfand, während er im Sattel seines gewaltigen Schlachtrosses saß (und das alles, ohne dass sie auch nur eine Bewegung gespürt hätte!), und Pia erkannte, dass sie sich getäuscht hatte. Bei den zusätzlichen Männern, die auf dem Wehrgang erschienen waren, handelte es sich nicht um weitere Soldaten, sondern um große, bärtige Gestalten mit langem Haar und schweren Fellmänteln, und sie waren nicht gekommen, um Istvans Truppen zu verstärken, sondern machten sie erbarmungslos mit Äxten, Keulen, primitiven Schwertern und sogar bloßen Händen nieder.
Dann flog das riesige Tor wie vom Hieb einer gewaltigen unsichtbaren Faust getroffen in Stücke, und die Heerscharen der Hölle brachen hervor.
XXXIII
Jedenfalls war das der Eindruck, den Pia im ersten Moment hatte.
Die Krieger oben auf der Stadtmauer gehörten ganz eindeutig zu den Barbaren, die sie in Hernandez’ Begleitung gesehen hatte, aber die brüllende, Waffen schwingende grüne Flut, die aus dem zerborstenen Tor quoll, war … etwas anderes. Pia konnte nicht einmal sicher sagen, ob es wirklich Menschen waren.
Sie waren riesig. Keiner von ihnen schien nennenswert kleiner zu sein als die drei Schattenelben, und soweit sie es über die große Entfernung hinweg und in ihrer Aufregung erkennen konnte, waren sie in barbarische Rüstungen und groteske Helme gehüllt, hatten grässlich entstellte Gesichter mit fürchterlichen Zähnen und waren bis an dieselben bewaffnet.
»Lauft, Gaylen!«, schrie Torman. In seiner Hand erschien wie hingezaubert ein gewaltiges Schwert, lang und bösartig wie Eiranns Zorn, nur dass seine Klinge nicht durchsichtig war, sondern von der Farbe der Nacht. »Flieht in die Schatten! Ich finde Euch, sobald wir die Orks geschlagen haben!«
Pia starrte ihn an. Orks? Hatte er gerade Orks gesagt?
Augenscheinlich hatte er das, und ebenso augenscheinlich war er wild entschlossen, seine Worte unverzüglich in die Tat umzusetzen, denn seine beiden Begleiter und er rammten ihren Pferden die Sporen in den Leib und sprengten den Angreifern entgegen.
In den knappen zwei Sekunden, die tatsächlich erst verstrichen war, seit der Pfeil Eiranns Raben vom Himmel gefegt hatte, war auf dem Platz vor dem Tor bereits ein verbissener Kampf entbrannt. Eine der beiden riesigen Torhälften war einfach verschwunden und hatte sich in einen Splitterregen verwandelt, der zwei von Istvans Soldaten und mindestens einen der schwarzen Reiter niedergestreckt hatte, der zweite Torflügel war zur Gänze umgefallen und hatte einen zweiten Reiter samt seinem Tier zerquetscht.
Die Überlebenden starben innerhalb der nächsten beiden Sekunden.
Die grüne Flut verschlang sie einfach. Wenn die Soldaten tatsächlich versuchten, so etwas wie Widerstand zu leisten, so sah Pia jedenfalls nichts davon. Die Orks überrannten sie einfach, ohne dabei auch nur langsamer zu werden. Blut stob wie aus schrecklichen roten Geysiren aus der heranrasenden grünen Meute, und sie glaubte zerborstene Waffen und abgeschlagene Körperteile davonfliegen zu sehen. Eine lebendige grüne Lawine donnerte auf sie zu und musste sie binnen weniger Sekunden ebenfalls erreichen und verschlingen.