Jetzt hatte es Istvan mit einem Male sehr eilig, herumzufahren und mit schnellen Schritten vorauszueilen.
Schreie und Schlachtengetümmel wurden lauter und schienen noch näher zu kommen, aber auf dem ersten Stück wurden sie nicht aufgehalten, und für den ersten Ork, der aus einer Seitenstraße stürmte und brüllend ein Schwert hob, dessen Klinge tatsächlich länger war als ganz Istvan, war der Anblick ihres schreckensbleichen Gesichtes zugleich auch das Letzte, was er in seinem Leben sah. Eine ganze Abteilung Stadtgardisten tauchte plötzlich wie aus dem Nichts rings um sie herum auf und machte ihn nieder. Noch im Zusammenbrechen tötete der grünhäutige Gigant zwei der Männer, aber die anderen stachen ihn mit ihren Hellebarden und Schwertern nieder und hackten, stachen und droschen auch dann noch rasend vor Wut auf ihn ein, als er sich schon lange nicht mehr rührte. Schließlich machte Istvan dem grausamen Geschehen mit einem scharfen Befehl ein Ende und scheuchte die Soldaten beiseite, ließ es sich aber trotzdem nicht nehmen, dem leblosen Ork selbst einen wuchtigen Fußtritt zu verpassen.
»Verdammtes Ungeheuer!«, knurrte er. Schon im nächsten Moment machte sich jedoch ein eher betroffener Ausdruck auf seinem Gesicht breit. »Er hätte nicht hier sein dürfen«, sagte er.
»Was meint Ihr damit, dass er nicht hier sein dürfte?«, fragte Pia ernst.
»Wir sind zu tief in der Stadt«, antwortete Istvan, der besorgt klang. »Es sind nur noch wenige Straßen bis zur Zitadelle. So weit hätten sie nicht kommen dürfen. Was bei Kronn treibt dieses verdammte Elbenpack dort?«
Verdammtes Elbenpack?, dachte Pia. Interessant. Laut sagte sie: »Ich werde Schwert Torman Eure Beschwerde ausrichten, Kommandant. Aber jetzt sollten wir versuchen die Zitadelle zu erreichen.«
Sie eilten weiter. Pia hatte längst ihr bisschen Orientierung verloren, aber sie registrierte immerhin, dass sie sich wieder in Richtung des Stadtzentrums bewegten. Ganz kurz hatte sie den unangenehmen Verdacht, dass Istvan mit dem Wort Zitadelle vielleicht einen gewissen schwarzen Turm meinte, der die strohgedeckten Dächer von WeißWald überragte, aber dann bogen sie in nahezu rechtem Winkel ab und näherten sich einem anderen Bereich der Stadtmauer. Weitere Soldaten gesellten sich zu ihnen, was sie eigentlich hätte beruhigen müssen, denn die vermeintlichen Operettensoldaten hatten ihr gerade bewiesen, dass sie durchaus imstande waren, selbst mit einem solchen Monstrum fertig zu werden. Aber gleichzeitig geschah auch etwas, das das trügerische Gefühl von Sicherheit mehr als nur negierte: Der Kampflärm wurde lauter und er kam ganz eindeutig näher. Pia konnte Istvans Bemerkung von gerade jetzt ein bisschen besser verstehen. Torman und seine beiden Mitstreiter machten ganz offensichtlich keinen besonders guten Job.
Wie schlecht er wirklich war, wurde ihr erst klar, als sie die Zitadelle fast erreicht hatten.
Pia hatte eine Festung oder etwas wie eine kleine Burg erwartet, aber das einzig Martialische an der Zitadelle war tatsächlich ihr Name. Das Gebäude war zweigeschossig und hatte ein flaches, zinnengesäumtes Dach, statt der hier ansonsten üblichen strohgedeckten Schrägen, unterschied sich darüber hinaus aber nicht von den anderen Gebäuden hier; einschließlich der Fensterscheiben aus Papier.
»Und hier sollen wir sicher sein?«, keuchte sie, während sie neben Istvan so schnell über den freien Platz vor der Zitadelle eilte, wie es gerade noch ging. Für sie. Istvan und seine Soldaten waren in einen ebenso schnellen wie kräftezehrenden Trab verfallen, den sie ganz bestimmt nicht sehr lange durchstehen würden.
»Das Verlies«, antwortete Istvan kurzatmig. »Ich nehme an, Ihr erinnert Euch noch daran?«
Vielleicht wäre der Turm des Hochkönigs doch keine so schlechte Alternative gewesen, dachte Pia schaudernd. »Wollt Ihr Hernandez und seinen Orks die Mühe abnehmen, uns in Ketten zu legen?«, fragte sie.
»Die Mauern sind dick, und die Türen halten selbst einem wütenden Ork stand«, behauptete Istvan. »Dort können wir uns auf jeden Fall halten, bis Torman und die beiden anderen kommen.«
»Falls sie noch leben.«
Istvan machte ein Gesicht, als hätte sie gerade etwas ebenso Unmögliches wie Absurdes gesagt, antwortete aber dennoch: »Selbst wenn. Der Kampf kann nicht unbemerkt geblieben sein. Das Heer ist schon auf dem Weg hierher.«
Ja, und ganz bestimmt gleich da, dachte Pia. In allerspätestens einer Stunde. Oder auch zwei. Bildete Istvan sich tatsächlich ein, diese lächerlichen Kellertüren würden eine der gewaltigen Kreaturen auch nur zehn Minuten lang aufhalten?
Wie sich zeigte, sollten sie es niemals herausfinden. Einer von Istvans Soldaten war vorausgeeilt, stürmte durch die Tür und stolperte im nächsten Augenblick rückwärts wieder heraus, allerdings nicht mehr in einem Stück. Sein Kopf, die rechte Schulter und der dazugehörige Arm fehlten, und aus den durchtrennten Arterien schoss Blut in einer Fontäne wie aus einem unter Hochdruck stehenden Wasserschlauch und verteilte sich als feiner roter Nebel in der Luft. Der verstümmelte Torso machte noch drei weitere komplette Schritte rückwärts, bis er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Sein Mörder erschien mehr als zwei Meter groß und brüllend und mit rot besudeltem Schuppengesicht unter der Tür des Gebäudes.
Hinter ihm drängten weitere Orks aus der Zitadelle, und plötzlich erscholl auch auf der anderen Seite des Platzes ein kreischender Schrei, wie ihn keine menschliche Kehle jemals hervorbringen konnte, gefolgt vom Klirren von Waffen und den typischen Geräuschen eines losbrechenden Kampfes. Pia musste sich nicht herumdrehen, um zu wissen, dass sie in eine Falle gelaufen waren.
Sämtliche Fenster der Zitadelle barsten in einer einzigen Explosion aus Holz und zerfetztem Papier und schuppigen grünen Leibern, und ein weiteres halbes Dutzend Orks sprang auf die Straße heraus. Die Ungeheuer hatten sie erwartet. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie schon vorher in der Stadt gewesen sein mussten.
Neben ihr riss Istvan mit einem Fluch sein Schwert aus dem Gürtel, und Pia hätte um ein Haar zu spät reagiert, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass er tatsächlich irre genug war, den mehr als zwei Meter großen Giganten vor sich mit einem besseren Brotmesser anzugreifen.
Aber er war es, und Pia konnte gerade noch im allerletzten Moment zupacken und ihn zurückreißen, als der Ork ihn mit seiner Axt der Länge nach zu spalten versuchte. Die doppelseitige Klinge bohrte sich zwischen Istvans Füßen tief genug in den Boden, um selbst den riesigen Ork nach vorne zu reißen, und Pia nutzte die Gelegenheit, der schuppigen Grünhaut das Knie mit solcher Gewalt ins Gesicht zu knallen, dass sie glaubte, das Geräusch brechender Knochen zu hören.
Vielleicht stimmte das sogar, aber wenn, dann waren es allerhöchstens ihre Knochen. Der Ork ließ nur ein ärgerliches Knurren hören, während sie selbst zu spüren glaubte, wie sich ihre Kniescheibe verschob und dann in mehrere Stücke zerbrach. Wimmernd vor Schmerz taumelte sie zurück, versuchte die Tränen wegzublinzeln und musste sich nun ihrerseits auf Istvan stützen, um nicht zu fallen, als ihr geprelltes Bein plötzlich nicht mehr in der Lage war, ihr Gewicht zu tragen.
Der Ork riss mit einem grunzenden Knurren seine Axt aus dem Boden, machte einen halben Schritt zurück und blinzelte auf sie herab. Anscheinend hatte sie ihn doch härter getroffen, als sie geglaubt hatte. Sein Gesicht wirkte ein bisschen verschoben, und aus seinem Mundwinkel tropfte Blut. Vielleicht hatte er sich ja an einem Splitter ihrer zertrümmerten Kniescheibe verletzt.
Pia sagte sich nicht nur selbst, dass dieser Gedanke ziemlich albern war, sondern fragte sich auch, wieso sie ihn überhaupt noch denken konnte. Immerhin war der Ork nicht allein.
Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie sich gehetzt um. Sie erkannte, warum die anderen Orks die Gelegenheit nicht genutzt hatten, sich auf sie zu stürzen. Sie waren damit beschäftigt, Istvans Männer abzuschlachten.
Die Soldaten waren ihnen zahlenmäßig mindestens um das Dreifache überlegen, aber das zögerte ihren Tod allenfalls um wenige Augenblicke hinaus. Istvans Krieger wehrten sich mit dem Mut von Männern, die längst begriffen hatten, dass sie sterben würden, und mit ihren langen Hellebarden und Schwertern gelang es tatsächlich dem einen oder anderen, sich die schuppigen Riesen vom Leib zu halten oder ihnen auch tiefe blutende Wunden zuzufügen. Doch die Oks schienen keinen Schmerz zu kennen, und wenn, dann stachelte er ihre Wut allerhöchstens zu noch größerer Raserei an. Einer der grünen Giganten fiel, aber die anderen wüteten wie die Berserker unter den bedauernswerten Männern. Der ungleiche Kampf würde höchstens noch eine Minute dauern, wenn überhaupt, und spätestens dann war es um Istvan und sie geschehen … wenn der Ork mit der Axt sich nicht vorher wieder daran erinnerte, warum er das Ding mitgebracht hatte, und es benutzte.