Sie hatte nicht vor, so lange zu warten.
Ohne auch nur die geringste Rücksicht auf ihr verwundetes Knie zu nehmen, fuhr Pia herum und humpelte los, und diesmal musste sie Istvan nicht zwingen, ihr zu folgen.
Hinter ihnen erscholl ein wütendes Knurren und dann ein Geräusch, das sie an rostiges Metall denken ließ, das über Stein scharrte, aber sie verschwendete nicht einmal einen Sekundenbruchteil daran, hinter sich zu sehen. Ihre Fantasie reichte vollkommen, um ihr zu sagen, was sie gesehen hätte.
Fast wie durch ein Wunder erreichten sie eine der schmalen Straßen, die auf den Vorplatz der Zitadelle mündeten, während rings um sie die letzten Soldaten starben. Brandgeruch hing in der Luft, und die Schreie hier waren nicht die einzigen. Auch der Lärm des fernen Kampfes hatte noch einmal zugenommen, und er schien plötzlich aus verschiedenen Richtungen zugleich zu kommen. Das war kein Kampf zwischen drei Schattenelben und einer Handvoll Orks mehr, dachte sie entsetzt. Es war eine Schlacht und sie schien überall in der Stadt zu toben. Selbst wenn Torman und die beiden anderen Schattenelben so gut waren, wie Istvan behauptet hatte, würde das am Untergang der Stadt nichts mehr ändern. Die drei konnten schließlich nicht überall gleichzeitig sein.
»Da!«, keuchte Istvan plötzlich. »Da! Seht doch!«
Seine ausgestreckte Hand deutete nach vorne, und als Pias Blick der Geste folgte, sah sie tatsächlich schwarzen Rauch, der sich über die Dächer der Stadt erhob, und einen Moment später glosenden roten Feuerschein. Die Geräusche von Schreien und aufeinanderprallenden Waffen wurden lauter.
»Bei Kronn, sie … sie sind überall!«, keuchte Istvan. »Sie brennen die Stadt nieder!«
Da mochte etwas dran sein, dachte Pia, aber sie hatte keine besonders großen Hoffnungen mehr, die Antwort auf die Frage zu finden, ob WeißWald nun vom Feuer oder einer Meute randalierender Orks verwüstet werden würde. Aus einem Grund, den sie wohl niemals erfahren würde, hatte der Ork bisher darauf verzichtet, Istvan und sie zu verfolgen, aber das holte er jetzt nach. Der Boden unter ihren Füßen begann unter den stampfenden Schritten des Giganten zu zittern, und sein markerschütterndes Brüllen übertönte für einen Moment sogar das Tosen der Schlacht.
Pia riskierte nun doch einen Blick über die Schulter und bedauerte diese Idee sofort. Der Ork war mindestens viermal so schwer wie sie und wirkte ebenso grobschlächtig wie plump, aber zumindest Letzteres war er ganz und gar nicht. Und wenn, dann machte seine enorme Größe diesen Nachteil mehr als nur wett. Er stürmte mit gewaltigen Schritten hinter ihnen her und er war mindestens dreimal so schnell wie sie. Selbst doppelt so schnell, wie sie ohne ihr angeschlagenes Knie gewesen wäre. Pia blieben noch ein paar Sekunden, allerhöchstens.
Sie verschwendete keine Zeit damit, darüber nachzudenken, was sie mit diesen Sekunden anfangen sollte, sondern reagierte einfach. Blitzartig steppte sie nach links, rammte die erstbeste Tür kurzerhand mit der Schulter ein und zerrte Istvan hinter sich ins Haus. Ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer nahm sie auf. Von seinen Bewohnern war gottlob keine Spur zu sehen, aber auf dem Tisch vor dem Kamin standen eine halb aufgegessene Mahlzeit und eine brennende Öllampe, und noch während sie hindurchstolperte, klammerte sich Pia an die verzweifelte Hoffnung, dass die Tür eigentlich viel zu schmal war, um eine so massige Kreatur wie den Ork durchzulassen.
Das war sie auch, und der Ork musste wohl zu demselben Schluss gekommen sein, denn er rannte kurzerhand durch die Wand.
Lehm, Stroh, Steinbrocken und Holzsplitter explodierten in einer gewaltigen Wolke nach innen, und in ihrem Zentrum erschien ein vor Wut brüllender Gigant, der eine noch weitaus gigantischere doppelklingige Axt schwang – die sich zu seinem Pech noch außenhalb des Gebäudes befand. Vom Türrahmen und dem ihn umgebenen Mauerwerk war nicht mehr besonders viel übrig geblieben, doch der kümmerliche Rest reichte noch, um die Axtschneide aufzufangen und den Ork unter der Wucht seines eigenen Hiebes zurückzureißen.
Mehr Zeit brauchte Pia nicht. Ihrer Hand war nichts im Weg, als sie nach der Öllampe griff und sie der Grünhaut ins Gesicht warf.
Der improvisierte Molotow-Cocktail funktionierte sogar noch besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Der dünne Tonkrug zerbarst und verschüttete seinen Inhalt über Gesicht, Schultern und Brustkorb des Orks, und der brennende Docht hatte es ausgesprochen eilig, das Öl in Brand zu setzen. Das Ergebnis war eine krachende Explosion, die nicht nur wie ein Pistolenschuss durch den winzigen Raum hallte und eine Woge intensiver Hitze über Istvan und ihr zusammenschlagen ließ, sondern ihre Augen auch mit unerträglich grellem Licht marterte.
Ihre Ohren musste die Explosion nicht quälen. Das erledigte der Ork.
Sein Brüllen erschütterte die ganze Stadt in ihren Grundfesten. Mindestens. Und diesmal kreischte er nicht vor Wut, sondern vor schierer Qual.
Pia fuhr auf dem Absatz herum, packte Istvans Arm und sprintete los.
Mehr durch Glück oder Zufall als aus irgendeinem anderen Grund stolperten sie durch eine zweite Tür, fanden sich in einem noch kleineren Raum wieder, und sie sah etwas vor sich, auf das sie kaum noch zu hoffen gewagt hatte: eine weitere Tür, durch deren Ritzen blasses Tageslicht schimmerte.
Hinter ihnen wurde das kreischende Brüllen des Orks noch lauter, und ein Geruch wie von schmorendem Fleisch lag mit einem Mal in der Luft, als sie weiterstürmten und sich in einem winzigen, an drei Seiten von verfallenen Mauern umgebenen Innenhof wiederfanden.
Pia flankte mit einer kraftvollen Bewegung über die Mauer und hatte im nächsten Moment das Gefühl, Istvan den Arm aus dem Gelenk zu reißen. Aber dennoch: Er schaffte es zwar nicht halb so elegant über die Mauer wie sie, doch er schaffte es, und sein Arm war auch noch (ungefähr) da, wo er sein sollte. Keuchend vor Schmerz sank er neben ihr auf die Knie, presste die Hand gegen seine Schulter, und Pia gewährte ihm zwei oder drei unendlich kostbare Sekunden – die sie ganz und gar nicht hatten –, um seinen Schmerz zu bewältigen und wieder halbwegs zu sich zu kommen.
Der kleine Mann fand seine Fassung deutlich schneller wieder, als sie erwartet hätte. Zwar noch immer mit zuckenden Mundwinkeln, aber erstaunlich kraftvoll stemmte er sich auf die Beine und zwang sich sogar zu so etwas wie einem Lächeln.
»Danke, Erhabene«, sagte er. »Ohne Euch wäre ich jetzt tot.«
Mit ihr auch, aber das begriff er wahrscheinlich nicht einmal mehr. Die Wand hinter ihm flog in einer Wolke aus Ziegelsteinen und Staub auseinander, und ein brennender Ork brach daraus hervor, schlug Istvan mit der bloßen Faust den Kopf von den Schultern und hätte auch sie einfach in den Boden getrampelt, wäre sie ihm nicht im allerletzten Moment mit einer verzweifelten Bewegung ausgewichen.
Pia verlor durch die hastige Bewegung das Gleichgewicht und fiel schwer (natürlich auf das verletzte Knie), und der Ork raste wie eine lebende Dampfwalze an ihr vorbei und krachte in die gegenüberliegende Wand. Seine Wucht reichte nicht aus, sie zu durchbrechen, aber immerhin, ihn selbst zurücktaumeln und benommen zu Boden sinken zu lassen.