Derselbe gehässige Teil ihres Unterbewusstseins, der sie schon seit Tagen mit ungewollt logischen Fragen malträtierte, fragte sie nun ganz sachlich, wer eigentlich zuerst wieder auf die Beine kommen würde, der Ork oder sie; eine Frage, die vielleicht nicht nur theoretisch über Leben und Tod entscheiden mochte.
Wie es aussah, lief es auf ein Unentschieden hinaus.
Pia mobilisierte jedes bisschen Willenskraft, das sie noch in ihrem geschundenen Körper fand, um sich herum- und auf Hände und Knie zu wälzen, und der Ork stemmte sich kaum zwei Meter neben ihr hoch und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an, in denen Schmerz und blanke Mordlust einen stummen Kampf miteinander fochten, dessen Ausgang vielleicht noch nicht endgültig feststand, ohne dass sein Ergebnis irgendeinen Unterschied für sie gemacht hätte – er würde sie so oder so umbringen.
Pia kam zumindest als Erste wieder in die Höhe, was ihr nicht viel brachte, wie ihr ein einziger Blick in die Runde zeigte. Hinter der Wand, über die sie gerade so mühsam geklettert waren, lag eine weitere schmale Gasse, wie es sie hier zu Hunderten gab. Aber sie endete keine zehn Schritte hinter ihr vor einer fensterlosen Mauer, die sogar für sie entschieden zu hoch war, um sie ohne Hilfsmittel zu übersteigen, und der einzige Ausgang befand sich zehn oder zwölf Schritt entfernt am anderen Ende der Gasse. Hinter dem Ork.
Pia überschlug in Gedanken blitzschnell ihre Chancen, einfach mit einem beherzten Sprung über den Ork hinwegzusetzen, und kam zu einem Ergebnis, das deutlich unter null Prozent lag. Der grüne Koloss hatte sich auf Hände und Knie hochgestemmt, und sein gekrümmter Rücken befand sich nahezu auf der Höhe ihres Gesichts. Ohne ihr geprelltes Knie hätte sie sich diesen Satz möglicherweise zugetraut, auch wenn er nur den Arm auszustrecken brauchte, um sie zu packen, aber so? Diesmal saß sie tatsächlich in der Falle.
Aber es gab immer noch eine Sache, die sie tun konnte.
Hastig griff sie nach den Schatten, versuchte sie zu einem schützenden Mantel um sich zu weben und registrierte mit einem Gefühl von kaltem Entsetzen, dass es ihr nicht gelang.
Der Ork stöhnte grollend, begab sich wankend in eine kniende Position und drehte den Kopf in ihre Richtung. Er brannte nicht mehr, aber sein Oberkörper und sein Gesicht dampften, als wäre er gerade aus einer überhitzten Sauna in die Kälte hinausgetreten, und Pia sah, welch schreckliche Wunden ihm das Feuer zugefügt hatte. Von seinem Gesicht löste sich die Haut in großen, hässlichen Flecken, unter denen rotes, rohes Fleisch zum Vorschein kam, und eines seiner Augen war zu einer milchigen Kugel geworden. Auch wenn es vorher wahrscheinlich nicht anders gewesen war: Jetzt hatte sie von dieser verletzten Kreatur ganz bestimmt keine Gnade mehr zu erwarten.
Sie versuchte noch einmal die Schatten herbeizurufen, noch einmal vergeblich.
Panik machte sich in ihr breit. Irgendwie gelang es ihr, diese wenigstens weit genug zurückzudrängen, um noch halbwegs klar denken zu können. Sie machte einen hastigen Schritt zurück und sah sich mit immer größer werdender Verzweiflung um. Es war das zweite Mal, dass ihre magischen Kräfte sie im Stich ließen, und sie hatte sogar das Gefühl, eigentlich zu wissen, warum das so war, aber zugleich war sie auch viel zu sehr in Panik, um den Gedanken zu fassen und zu seinem logischen Ende zu verfolgen. Pia machte einen weiteren Schritt zurück und dann noch einen und …
… blieb verblüfft stehen, als ihr klar wurde, dass das fast ohne ihr eigenes Zutun geschehen war. Ihre Füße hatten sich ganz von selbst bewegt.
Genauer gesagt: ihre Stiefel.
Sie ließ sie gewähren, wich rasch weitere fünf, sechs Schritte vor dem Ork zurück und fragte sich, wohin ihre verzauberten Schuhe sie eigentlich führen wollten. Die Gasse endete wenige Schritte hinter ihr vor einer drei Meter hohen Mauer, und in den Wänden rechts und links gab es keine Fenster.
Sie leistete trotzdem keinen Widerstand, wich rückwärtsgehend weiter vor dem Ork zurück und stieß schließlich mit dem Rücken gegen die Wand. Der Ork knurrte, richtete sich zu seiner vollen Größe von mehr als zwei Metern auf und bückte sich noch einmal, um seine Axt aufzuheben, und Pia griff ganz instinktiv zum dritten Mal nach den Schatten, um sich darin zu verbergen, und diesmal eilten sie gehorsam herbei. Als sich der Ork wieder aufrichtete, erschien ein verwirrter Ausdruck in seinem verbliebenen sehenden Auge.
Pia hätte um ein Haar vor Erleichterung laut aufgestöhnt und sich damit gleich wieder verraten, als ihr klar wurde, was sie schon einmal begriffen und gleich wieder vergessen hatte. Die Gasse lag im hellen Sonnenlicht da, und dort funktionierte ihr Zauber nicht. Es musste Schatten geben, um in die Schatten zu fliehen, so wie hier am Fuß der Mauer. Noch einmal würde sie das ganz gewiss nicht vergessen.
Falls es ein noch einmal gab.
Der Ork machte einen einzelnen stampfenden Schritt, und Pia begriff, dass sie keineswegs außer Gefahr war. Das Ungeheuer sah sie nicht mehr, aber sie saß nach wie vor in der Falle. Wenn sie sich auch nur einen einzigen Schritt von der Wand entfernte, würde sie wieder sichtbar werden, und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Gasse war so schmal, dass der verwundete Gigant sie fast zur Gänze mit seinen breiten Schultern ausfüllte. Selbst unsichtbar hätte sie keine Chance, unbemerkt an ihm vorbeizukommen.
Pia sah auf ihre Stiefel hinab. Irgendwelche Vorschläge?
Ihre Füße bewegten sich nicht, aber dafür kam der Ork jetzt mit tappend – schwerfälligen Schritten näher. Er schien es nicht besonders eilig zu haben, und auf seinem verheerten Gesicht lag noch immer ein verwirrter Ausdruck. Aber es wirkte auch … lauernd, und Pia glaubte regelrecht sehen zu können, wie es hinter seiner verbrannten Stirn arbeitete. Vielleicht witterte er sie, dachte sie, und vielleicht wusste er auch einfach, was sie getan hatte, und dass sie in Wahrheit immer noch da und nur seinen Blicken entzogen war. Das monströse Aussehen und die schlechten Umgangsformen dieses riesigen Geschöpfes führten dazu, dass sie es für ebenso dumm wie groß hielt … doch das musste keineswegs so sein. Vielleicht stand sie ja einem durchaus intelligenten Gegner gegenüber.
Ob intelligent oder nicht, eines war er auf jeden Falclass="underline" groß. Er machte einen weiteren tapsenden Schritt in die Richtung, in der sie gerade vor seinen Augen verschwunden war. Die Axtklinge schleifte scharrend hinter ihm her und riss Funken aus dem hart gefrorenen Boden, den anderen Arm hatte er halb zur Seite gestreckt, sodass seine Fingerspitzen an der Wand entlang schrammten. Pia überlegte einen Moment lang trotzdem, alles auf eine Karte zu setzen und einfach einen todesmutigen Sprint an ihm vorbei zu riskieren, verwarf den Gedanken aber auch beinahe sofort wieder. Es gab einen kleinen, jedoch entscheidenden Unterschied zwischen todesmutig und selbstmörderisch. Selbst wenn sie ihn damit überraschte, wie aus dem Nichts vor ihm aufzutauchen und loszurennen, würde er sie erwischen.
Ihre Gedanken rasten. Sie musste hier raus, egal wie … aber es gab kein wie. Der Ork füllte die Gasse vor ihr aus wie eine lebende Mauer aus grünen Schuppen und Muskeln und Wut und kam unerbittlich näher. Noch drei oder vier stampfende schwere Schritte und er hatte sie erreicht. Er sah sie immer noch nicht, wie sein hilfloser Blick verriet, aber er musste sie auch nicht sehen, um sie zu packen und zu Mus zu zerquetschen.
Ein krächzender Schrei wehte vom Himmel zu ihnen herab, und ein verschwommener Schatten huschte durch die Gasse, berührte die riesige Gestalt des Orks und verschwand wieder.
Pia und die gigantische Kreatur blickten gleichzeitig hoch und sahen einen gewaltigen schwarzen Raben, der so dicht über die spitzen Dächer hinweg flog, dass seine Flügelspitzen pulverfeinen Schnee aufstieben ließen, für einen Moment verschwand und dann zurückkehrte.
Es war nicht irgendein Vogel. Eirann hatte einen weiteren seiner Raben geschickt. Und er war nicht allein gekommen. Noch während er herumschwenkte und seine Flügel zu ihrer ganzen gewaltigen Spannweite von beinahe zwei Metern entfaltete, gesellten sich ein zweiter und dritter schwarzer Riesenrabe hinzu. Gemeinsam stießen die Tiere auf die schmale Gasse herab, bis es fast den Anschein hatte, als wollten sie den Ork angreifen. Im letzten Moment brachen sie ihren verwegenen Sturzflug ab und gewannen heftig mit den Flügeln schlagend wieder an Höhe, aber die schuppige Kreatur richtete sich mit einem zornigen Knurren zu ihrer ganzen gewaltigen Größe auf, schwang ihre Axt und versuchte sogar in die Höhe zu springen, um die frechen Angreifer zu erreichen. Es sah einigermaßen grotesk aus, doch dafür hatte Pia in diesem Moment keinen Blick übrig. Sie starrte die Schatten an, die die drei Riesenraben in die Gasse warfen. Es waren keine richtigen Schatten, jedenfalls keine der Art, wie sie sie sich gewünscht hatte; keine scharf abgegrenzten Bereiche zwischen Dunkelheit und Licht, und sie hielten nicht einmal still, sondern vollführten einen hektischen Tanz, verschmolzen miteinander, verschwanden und tauchten wieder auf, wie rauchige Schemen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun wirklich existierten oder nicht … aber es war eine Chance. Und gottlob blieb ihr nicht einmal die Zeit, wirklich darüber nachzudenken oder gar ihre Chancen abzuschätzen.