»Warum führen Sie ihn dann?«
»Ich führe ihn nicht«, behauptete Hernandez. »Wir tun lediglich das, was jeder andere an unserer Stelle auch tun würde; dich eingeschlossen. Wir verteidigen uns.«
»Verteidigen? Gegen Frauen und Kinder?«
Hernandez machte ein trauriges Gesicht. »Du hast Mitleid mit Ihnen? Mit einer Stadt, deren Bewohner ihre eigenen Kinder schlachteten und dafür sorgten, dass ein ganzes Volk verhungert?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Pia. »Das mit den Kindern …«
»Ich weiß nicht, weshalb sie ihre eigenen Kinder zum Abschuss freigeben, und es ist mir ehrlich gesagt auch gleich! Und weißt du, warum?« Er deutete erregt auf die nächsten Krieger. »Ihretwegen! Unter meinen Männern ist nicht einer, der nicht einen Bruder oder Vater oder Sohn an die Truppen deiner Freunde verloren hätte, und auch nicht einer, der nicht schon sein totes Kind in Armen gehalten oder seine Frau oder Schwester beerdigt hätte, die verhungert sind, weil ihrem Volk die Weidegründe gestohlen werden und die Herren im fernen Apulo systematisch alle Lebensmittellieferungen unterbinden lassen. Also erzähl mir bitte nichts von Mitgefühl!«
»Selbst wenn das alles stimmt«, antwortete Pia, »rechtfertigt es das hier nicht!«
Sie rechnete fest mit einer noch schärferen Antwort, und Hernandez setzte auch tatsächlich zu einer solchen an – aber dann hob er nur die Schultern und machte ein eher betroffenes Gesicht. »Vielleicht hast du sogar recht.«
»Aber?«
Hernandez hob noch einmal die Schultern. »Wie soll ich etwas in ein paar Minuten erklären, was ich nicht einmal in zwölf Jahren ganz verstanden habe?«, fragte er. »Ich versuche es gern, aber jetzt ist wirklich nicht der richtige Moment dafür.« Er brachte sein Reittier mit einer abrupten Bewegung zum Stehen, bedeutete Pias Führer, dasselbe zu tun, und zog ein dünnes Lederband aus der Tasche, als der Mann ihr Pferd wieder dichter an ihn heranführte. Das Tier scheute und begann unruhig mit den Hinterläufen zu stampfen, und Pia klammerte sich hastig am Sattelhorn fest, hatte aber trotzdem alle Mühe, sich auf seinem Rücken zu halten.
»Wenn ich um Eure Hände bitten dürfte, Erhabene.«
Pia starrte die Lederriemen in seinen Händen an. »Habe ich die falschen Fragen gestellt?«
Hernandez wiederholte seine auffordernde Geste. Pia sah aus den Augenwinkeln, wie der Barbar neben ihr dazu ansetzte, seinem Herrn zu Hilfe zu kommen, und streckte Hernandez hastig die aneinandergelegten Handgelenke entgegen.
»Nur eine kleine Sicherheitsvorkehrung, Erhabene«, sagte er, während er ihre Hände rasch (und eindeutig fester als notwendig) zusammenband und den Rest des Lederriemens dann benutzte, um sie am Sattelknauf festzubinden. »Wir verlassen gleich die Stadt, und in diesem verdammten Tor gibt es für meinen Geschmack eindeutig zu viele Schatten. Wir wollen doch nicht, dass Ihr uns im letzten Moment noch abhandenkommt, nicht wahr, Erhabene?«
Pia gab sich Mühe, ihn mit Blicken aufzuspießen, aber Hernandez grinste nur knapp und überprüfte noch einmal sorgfältig den Sitz ihrer Fesseln. Dann reichte er ihrem Führer einen zweiten, deutlich längeren Riemen, den dieser benutzte, um ihn um ihr linkes Fußgelenk zu knoten und sich anschließend unter dem Pferd hindurchzuducken und das andere Ende um ihr rechtes Bein zu binden.
»Sie scheinen ja richtig Respekt vor mir zu haben«, sagte Pia.
»Den habe ich in der Tat«, antwortete Hernandez. »Das Erste, was ich auf dieser ungastlichen Welt gelernt habe, war, meine Gegner niemals zu unterschätzen. Und das solltest du auch nicht … und wo wir schon einmal dabei sind: Nur falls dir irgendwelche verzweifelten oder dummen Ideen kommen sollten, unsere Lizards laufen doppelt so schnell wie das schnellste Pferd.«
Er wartete vergeblich auf irgendeine Antwort, bedeutete dem Mann, der sie gefesselt hatte, mit einer Geste, seine Arbeit noch einmal zu überprüfen, und wandte sich dann in befehlendem Ton an einen der Orks in seiner Nähe. »Sag deinen Leuten Bescheid, dass wir abziehen. Wir haben, worum wir gekommen sind.«
»Und die Elben?«, fragte die riesige Kreatur.
Pia war nicht nur überrascht, das Wesen sprechen zu hören, sondern das auch noch mit einer zwar sehr tiefen, aber durchaus menschlich klingenden Stimme. Was hatte Hernandez gerade gesagt? Man sollte seine Gegner niemals unterschätzen?
»Wenn sie sie erledigt haben, umso besser. Aber sucht nicht nach ihnen. Wenn sie deine Leute in dieses Labyrinth hier locken, dann töten sie sie einen nach dem anderen. Wir erwischen sie schon noch.«
Der Ork nickte abgehackt, zwang sein reptilienhaftes Reittier mit einem Ruck herum und sprengte davon. Pia glaubte plötzlich ein bisschen besser zu verstehen, was Hernandez gerade gemeint hatte. Das Tier rannte nicht so, wie ein Pferd es getan hätte, sondern sprintete los wie eine zu groß geratene Eidechse, mit weit nach vorne gestrecktem Hals und waagerecht ausgestrecktem Schwanz. Es war in der Tat mindestens doppelt so schnell wie jedes Pferd, das sie je gesehen hatte.
»Beeindruckend, nicht?«, fragte Hernandez. »Sie stammen aus Ursa, der Heimat der Orks. Und das sind noch die friedlichsten Haustiere, die sie sich halten. Du solltest erst einmal die Schätzchen sehen, die sie schlachten.«
»Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie kennenlernen werde?«, sagte Pia. »Ob ich will oder nicht.«
»Ursa?« Hernandez schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Bei Kronn, wie kommst du auf diese Idee? Niemand geht nach Ursa. Die Orks halten nicht viel von Besuch.«
Sie ritten weiter. Nach und nach gesellten sich weitere Krieger zu ihnen und auch mindestens zwei oder drei Dutzend Orks, die auf schuppigen Lizards ritten.
Pia versuchte, sich einen genaueren Eindruck von den riesigen Kreaturen zu verschaffen. Immerhin konnten diese Wesen sprechen, waren offensichtlich in der Lage, Tiere zu domestizieren und abzurichten, und verfügten über eine eigene Kultur und Zivilisation. Sie waren ausnahmslos groß und sehr muskulös, aber längst nicht alle waren solche Giganten wie der, mit dem sie es vorhin zu tun gehabt hatte. Manche waren kaum größer als Hernandez’ Barbarenkrieger, und nicht wenige von ihnen wirkten sogar verblüffend menschlich, wenn man sich die grüne Schuppenhaut, das eine oder andere Horn und ungefähr zweihundert Zähne wegdachte. Diese Geschöpfe hatten jedenfalls nichts mit dummen Tieren gemein, die nur Gewalt und Töten kannten.
Pia fragte sich, in welcher Beziehung Hernandez zu den Orks stand. Die Worte, die er gerade mit dem Echsenreiter gewechselt hatte, hatten nicht unbedingt den Charakter eines Befehls gehabt; jedenfalls nicht die Art von Befehl, wie sie ihn von dem Hernandez erwartet hätte, an den sie sich von früher erinnerte. Der Comandante war es nicht gewohnt, seine Entscheidungen zu erklären.
Die Frage, die sie dann laut stellte, war jedoch eine ganz andere. »Was habt Ihr mit Alica gemacht? Ist sie noch am Leben?«
»Deine Freundin?« Der Ausdruck gelinder Ratlosigkeit auf seinem Gesicht wirkte echt. »Was soll mit ihr sein?«
»Sie ist nicht bei Euch?«
Hernandez schüttelte nur den Kopf, und Pia fuhr schon fast ein bisschen verzweifelt fort: »Aber Ihr müsst sie gesehen haben! Sie war bei mir, als Ihre Männer uns auf der Waldlichtung überfallen haben.«
»Das mag sein«, antwortete Hernandez. »Ich war nicht dabei, und meine Männer haben nichts von ihr erzählt. Vielleicht haben Istvans Soldaten sie … mitgenommen.«
Das winzige Zögern in seinen Worten entging Pia nicht. Er hatte etwas anderes sagen wollen. »Er hat dasselbe von Ihren Leuten angenommen.«
»Dann muss sich einer von uns täuschen«, antwortete Hernandez, »oder lügen. Meine Männer haben nichts erzählt …die wenigen, die den Kampf überlebt haben, heißt das.« Er machte eine wenig überzeugende Geste. »Ich werde einige Männer losschicken, die nach ihr suchen … aber du solltest dir keine allzu großen Hoffnungen machen. Die Wälder dort draußen sind sehr gefährlich.«
»Es gibt Räuber und mörderische Barbaren«, sagte Pia. »Man kann überfallen werden. Ich weiß.«