Hernandez überging die Bemerkung. »Ich kann mir nicht erklären, was sich diese Gaukler dabei gedacht haben, dorthin zu gehen«, fuhr er unbeirrt fort. »Es gibt dort draußen Gefahren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Selbst die Orks meiden die Eissümpfe, wenn sie es können.«
Pia konnte sich nicht an irgendwelche Sümpfe erinnern, aber die mochten weiter in Richtung des Tränensees gelegen haben, zu dem sie unterwegs gewesen waren. Dafür begriff sie eines umso deutlicher: Hernandez hatte nicht die geringste Ahnung von Valoren und ihrem geheimnisvollen Verbündeten, der angeblich am Ufer des Tränensees auf sie gewartet hatte. Und das sollte wohl besser so bleiben.
»Die Eissümpfe liegen nicht auf unserem Weg«, sagte Hernandez, »doch ich werde einen Suchtrupp losschicken. Wenn deine Freundin noch lebt, dann finden sie sie.« Sein Tonfall machte klar, wie wenig Hoffnung er hatte, Alica tatsächlich zu finden, aber Pia empfand trotzdem ein flüchtiges Gefühl von Dankbarkeit, dass er es wenigstens versuchte; ein Gefühl, das sie fast erschrocken verscheuchte. Sie würde sich auf keinen Fall auch nur irgendeine positive Regung Hernandez gegenüber gestatten. Nicht dass am Ende noch ihre Hand zitterte, wenn sie ihm ein Messer in die Brust rammte.
Ihr Trupp wuchs langsam, aber beständig weiter, während sie sich dem Stadttor näherten. Als der mächtige Turm in Sicht war, war ihre Zahl auf mehr als hundert angewachsen, gut ein Drittel davon Orks, von denen die Hälfte auf schuppigen Reitechsen saßen, und mit jedem Schritt, den sie sich dem Torturm näherten, stießen noch weitere Männer zu ihnen. In gleichem Maße nahm der Schlachtenlärm ab, der noch immer aus den Straßen der Stadt heranwehte, mittlerweile fast überlagert vom Tosen der Flammen und dem Schreien und Lärmen der Menschen, die ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchten das Feuer zu löschen, das ihre gesamte Stadt zu verschlingen drohte. Selbst wenn es ihnen gelang, dachte Pia schaudernd, würde WeißWald nie mehr die Stadt sein, die Alica und sie kennengelernt hatten. Sie würde Jahre brauchen, um sich von diesem einen Tag zu erholen. Und ihre Bewohner würden die beiden Frauen, die wie aus dem Nichts bei ihnen aufgetaucht waren, ganz bestimmt nicht in guter Erinnerung behalten. Wahrscheinlich würde die Geschichte von Prinzessin Gaylen hier in Zukunft etwas anders erzählt werden als im Rest des Landes.
Fünfzig oder sechzig Meter vor dem Tor ließ Hernandez anhalten, angeblich, um auf die restlichen Truppen zu warten, die noch in der Stadt unterwegs waren, und tatsächlich wuchs die Zahl der Krieger noch einmal auf gute zwei- bis dreihundert an; eigentlich ein lächerlich kleiner Trupp, um eine ganze Stadt zu erobern; selbst eine so kleine wie WeißWald.
Aber diese Männer waren schließlich nicht gekommen, um die Stadt zu erobern, sondern um sie zu verwüsten, und die Hälfte von ihnen waren keine Männer, sondern schuppige grüne Giganten, von denen jeder einzelne ein Dutzend von Istvans Soldaten aufwog.
Trotzdem waren auch sie nicht ungeschoren davongekommen. Pia sah zahlreiche Barbarenkrieger, die hastig improvisierte Verbände trugen oder auch gar nicht versorgte Wunden hatten, und auch der eine oder andere Ork kam nicht ganz ohne Blessuren zurück. Allerdings fiel ihr auf, dass es keine wirklich Schwerverwundeten zu geben schien. Sie sah nicht einen einzigen Barbaren oder Ork, der nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnte oder gar von seinen Kameraden gestützt oder getragen werden musste. Aber sie musste auch daran denken, was Hernandez’ Männer mit dem verwundeten Ork getan hatten. Vielleicht war es nicht nur reine Barmherzigkeit gewesen und auch nicht nur die Strafe dafür, dass der Schuppenkrieger gegen seinen ausdrücklichen Befehl verstoßen hatte.
Noch etwas fiel ihr auf. Das Heer sammelte sich vor dem offen stehenden Tor zum Abmarsch. Auf den Wehrgängen rechts und links des Torturmes standen jetzt Barbarenkrieger, die das Gelände vor der Stadtmauer beobachteten, ihre erhöhte Position aber auch nutzten, um die umliegenden Straßen im Auge zu behalten. Hernandez tauschte dann und wann ein Winken, eine komplizierte Geste oder ein einzelnes gerufenes Wort in einer ihr unbekannten Sprache mit den Wächtern, und obwohl er das heranrückende Heer so wenig vergessen haben konnte wie sie, schien ihn nichts von dem, was er zu hören bekam, wirklich zu beunruhigen. Dafür irrte sein Blick immer nervöser über das halbe Dutzend Straßen, das aus ebenso vielen Richtungen auf dem freien Platz vor dem Torturm mündete. Er wirkte beinahe schon ängstlich. Sie sparte sich eine entsprechende Frage, allein weil sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde, aber sie hätte schon blind sein müssen, um nicht zu begreifen, dass nicht alles so lief, wie Hernandez es geplant hatte.
Sie tat dasselbe wie er, ohne irgendetwas Außergewöhnliches zu entdecken. Aus vier der sechs Straßen stießen noch immer Krieger und Orks zu ihnen, auch wenn aus dem anfänglichen Strom inzwischen eher ein Tröpfeln geworden war, die beiden anderen standen in Flammen, obwohl das Inferno dort nicht annähernd so gewaltig tobte wie in der, durch die sie selbst vorhin geritten waren.
Der krächzende Schrei eines Raben ließ nicht nur Pia mit einem Ruck aufsehen.
Gleich drei der riesigen Tiere waren über dem Platz erschienen und begannen dort schnelle gegenläufige Kreise zu ziehen; vermutlich dieselben, die sie gerade vor dem Ork gerettet hatten. Hernandez schrie einen knappen Befehl in der unverständlichen Sprache der Barbaren, und mindestens ein Duzend Pfeile zischten zu den Raben hoch. Die Tiere kreisten niedrig genug über dem Platz, um in Schussweite zu sein, aber kein einziger der gefiederten Todesboten kam ihnen auch nur nahe. Die Raben wichen mit schon fast spöttisch anmutender Leichtigkeit aus und schienen sich selbst in tanzende Schatten zu verwandeln, die nur manchmal da waren.
Dafür regneten etliche der gefährlichen Geschosse wieder auf den Platz zurück und verletzten die Männer, die sie gerade abgeschossen hatten.
»Hört auf!«, schrie Hernandez. »Das hat keinen Sinn! Genau das wollen sie doch!«
Einer der Raben krächzte laut, wie um ihm recht zu geben, und Hernandez starrte noch einmal zu den leeren Straßen hin, aus denen weiterhin Krieger herbeistürmten. Etwas änderte sich: Bisher war es ein Heer von Eroberern und Zerstörern gewesen, in dessen Mitte sie ritt. Jetzt war es ein Haufen verängstigter Männer auf der Flucht. Es war keine Veränderung des Sichtbaren, aber Pia konnte spüren, wie Furcht wie eine eisige Hand nach den Herzen der Männer griff. Die Mienen der Orks vermochte sie nicht zu deuten, doch auf den Gesichtern etlicher Männer in ihrer Umgebung erschien plötzlich ein Ausdruck blanker Angst.
»Was … ist das, Hernandez?«, murmelte sie verstört. Die Furcht ließ auch sie nicht unberührt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie hätte mit den Händen zu ringen begonnen, wären sie nicht fest am Sattelknauf angebunden gewesen.
»Das sind diese verdammten Schattenelben!«, fluchte Hernandez gepresst. »Sie schicken uns ihre Angst.« Zwei, drei endlose schwere Herzschläge lang starrte er geradewegs durch sie hindurch ins Nichts, dann richtete er sich im Sattel auf und schrie mit laut hallender Stimme:»Wir rücken ab! Auf der Stelle!« Die drei Raben oben am Himmel krächzten zustimmend, und das Heer setzte sich augenblicklich und sehr schnell in Bewegung.
Aber vielleicht war es trotzdem schon zu spät. Aus zwei der fünf Gassen strömten plötzlich keine Barbaren und Orks mehr heraus, dafür jedoch ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Gardesoldaten, bewaffneten Bürgern und Rittern in sonderbar anmutenden, aber einheitlichen Rüstungen; vielleicht Soldaten des Heeres, von dem Istvan vorhin gesprochen hatte. Anscheinend hatten sich Hernandez’ Orks doch nicht so gründlich um sie gekümmert, wie er so vollmundig behauptet hatte.
»Aber das ist unmöglich«, keuchte er. »Das ist vollkommen ausgeschlossen!« Und dann schrie er: »Das ist nicht echt! Bleibt zusammen! Das ist nur ein Trugbild!«
Seine Worte gingen im Lärm der ausbrechenden Panik unter. Barbarenkrieger und Orks prallten gleichermaßen entsetzt zurück und suchten in überstürzter Flucht das Weite. Manche warfen gar ihre Waffen weg, und nicht wenige wurden von ihren eigenen Kameraden niedergetrampelt oder starben unter gewaltigen krallenbewehrten Pfoten, als auch die Reitechsen in Panik gerieten und eine nach der anderen durchzugehen begannen. Mehr und mehr Soldaten strömten aus den Straßen heraus, und hinter ihnen waren noch einmal Hunderte, wenn nicht Tausende, ein unendlicher blitzender Strom aus Helmen, Speerspitzen und emporgereckten Schwertern.