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Pia runzelte die Stirn. Normalerweise ließen es die Männer bei einer flüchtigen Inspektion bewenden, und sie hätte eher darauf gewettet, dass sie es heute noch kürzer machten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen – mittlerweile waren sie eine gute Viertelstunde zu spät –, aber nun griff einer von ihnen in die Tasche, und sie hörte das Klimpern eines Schlüsselbundes.

Also gut, dachte sie, wenn der Bursche jetzt das Schloss aufsperrte, um die Baustelle zum ersten Mal gründlich zu inspizieren, dann würde sie auf Jesus (und ihre eigene innere Stimme) hören und abbrechen.

Die Hand mit dem Schlüsselbund kam wieder aus der Tasche, und Pia setzte dazu an, Jesus im Flüsterton ihre Entscheidung mitzuteilen. In diesem Moment summte das Celular des zweiten Mannes. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu melden, sondern klappte das Gerät wortlos auf und hielt es schweigend für wenige Sekunden ans Ohr, dann steckte er es wieder ein und gab seinem Begleiter aus der gleichen Bewegung heraus ein Zeichen, kehrtzumachen. Nur einen Moment später knallten die Türen zu, und der Wagen jagte mit kreischenden Reifen los. Kurz bevor er das Ende der Straße erreichte und abbog, begann das Blaulicht auf seinem Dach zu flackern.

»Was war das denn?«, murmelte Jesus.

»Glück?«, schlug Pia vor.

Jesus schwieg, und sie wusste auch, warum. Das hatte er nicht gemeint.

Sie ließ vorsichtshalber noch eine weitere Minute verstreichen, dann warf sie einen sichernden Blick nach rechts und links und trat aus ihrem Versteck in den Schatten heraus. Der Wind drehte sich und trug Musik und Gesprächsfetzen aus der Cantina an ihr Ohr, und für einen winzigen Augenblick hatte sie einen Eindruck von schattenhafter Bewegung über sich, aber sie ging trotzdem mit so schnellen Schritten weiter, wie sie es gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, streckte die Arme nach oben und schwang sich mit einer fließenden Bewegung über das Tor. Die altersschwache Konstruktion zitterte leicht unter ihrem Gewicht; dann ächzte sie hörbar und bog sich ein Stück weit durch, als Jesus ihr auf dieselbe Weise folgte. Nicht einmal dreißig Sekunden nachdem sie ihr Versteck verlassen hatten, schmiegten sie sich nebeneinander in den Schatten eines der großen Baufahrzeuge und wurden erneut vollkommen unsichtbar.

Und jetzt hieß es warten. Wenn alles so ablief wie die letzten drei Mal, als sie die Übergabe beobachtet hatten, dann würde der Kurier irgendwann innerhalb der nächsten Stunde auftauchen; eine lange Zeit, wenn man wartete, und eine Ewigkeit, wenn man darauf wartete, dass etwas schiefging.

Pia runzelte abermals die Stirn, verwirrt über ihre eigenen Gedanken. Während sie reglos und bewusst flach atmend in der Dunkelheit kauerte, Jesus’ Wärme und das beruhigende Wissen um seine bloße Gegenwart genoss und ihren Blick dabei über die Landschaft aus Schatten und ineinanderfließenden Umrissen und unheimlichen … Dingen vor sich tasten ließ, gestand sie sich ein, dass sie ganz genau das tat: Sie wartete darauf, dass etwas schiefging.

Das war neu. Und es war sehr beunruhigend.

Pia hatte nach dem dritten oder vierten Mal, als sie mit Jesus zusammen unterwegs gewesen war, aufgehört zu zählen. Sie hatten eine stattliche Anzahl Dinger zusammen gedreht, etliche klein, manche größer, und einige ihrer nächtlichen Raubzüge hatten sie sogar auf die Titelseite der Lokalzeitung gebracht (einer geradewegs in Hernandez’ Bett, aber das war auch der einzige Ausreißer in einer langen Erfolgsgeschichte gewesen, und außer dem Comandante und ihr selbst wusste niemand etwas davon). Doch eines hatte sie nie getan: gezweifelt. Sie hatte stets gewusst, wann eine Sache Aussicht auf Erfolg hatte und wann nicht, und prinzipiell die Finger von Letzterem gelassen.

Beging sie heute ihren ersten wirklichen Fehler?

Die Antwort, wie sie sich bekümmert eingestand, lautete ganz eindeutig vielleicht, und ein Vielleicht war von einem klaren Nein eigentlich zu weit entfernt, um akzeptabel zu sein. Was zum Teufel also tat sie hier?

Wieder hörte sie ein Geräusch; dasselbe gleichzeitig metallisch wie irgendwie … lebendig wirkende Scharren, das sie schon einmal vernommen und als so sonderbar unpassend für diesen Moment empfunden hatte, und diesmal war es zu deutlich, um es als bloße Einbildung abzutun. Und außerdem kam es ganz eindeutig von oben.

Pia sah so erschrocken auf, dass auch Jesus neben ihr zusammenfuhr und sie spüren konnte, wie er sich anspannte. Ihr Blick suchte den Himmel ab, der selbst jetzt, lange nach Dunkelwerden, noch nach dem erstickenden Smog des Tages aussah, und während sie es tat, lief ihre Fantasie zwar nicht unbedingt Amok, gaukelte ihr aber dennoch die verrücktesten Dinge vor, und nicht wenige davon waren flach und rund und hatten ein winziges rot glühendes Auge in der Mitte.

Es konnte nicht die Drohne sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Die Dinger flogen nicht nachts. Seit sie in den ersten Nächten gleich reihenweise gegen Wände, Dächer, Stromleitungen und Antennenmasten geprallt und ebenfalls reihenweise abgestürzt waren und sich herausgestellt hatte, dass die preiswerten chinesischen Infrarot-Augen noch weniger funktionierten als der Rest, kehrten die fliegenden Spitzel pünktlich mit Einbruch der Dämmerung in ihre Garagen zurück. Außerdem durfte es nicht die Drohne sein, ganz einfach deshalb, weil Jesus und sie dann gründlich im Arsch wären.

Sie war es auch nicht, aber es war Jesus, der die Ursache des Geräusches entdeckte und sie mit einer entsprechenden Geste darauf aufmerksam machte.

Der Rabe saß nahezu direkt über ihnen auf einem der stählernen Baggerzähne, und obwohl er sich nur als schwarze Silhouette gegen den Nachthimmel abhob und Pia seine Augen nicht erkennen konnte, spürte sie ganz deutlich, dass er Jesus und sie anstarrte.

Nein. Sie verbesserte sich in Gedanken.

Nicht Jesus und sie.

Sie.

Sie versuchte zwar, sich selbst davon zu überzeugen, dass dieser Gedanke nichts als blühender Unsinn war, aber er blieb hartnäckig, und er löste ein eisiges Frösteln der Furcht aus, das auf Millionen dürren Insektenbeinen über ihren Rücken lief. Der Rabe war riesig, mindestens einen Meter groß, wenn nicht mehr, und er saß nicht einfach nur so da, sondern beobachtete sie aus wachen, unsichtbaren Augen.

Jesus berührte sie erneut an der Schulter und deutete nach links. Dort saß der zweite Rabe, so schwarz und stumm wie der erste und sogar noch größer. Und auch er starrte sie an.

»Was sind das für Viecher?«, murmelte Jesus, und Pia hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung und ohne das mindeste Zögern antworten:

»Eiranns Raben.«

»Wie?«, fragte Jesus.

»Ähm …irgendwelche Raben eben«, antwortete Pia. Eiranns Raben? Wie kam sie auf dieses Wort? Sie war sicher, es noch nie zuvor gehört zu haben, aber es klang ungemein vertraut und einfach … passend. Eine Spur lauter und mit dem (verunglückten) Versuch eines Lachens fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich haben sich die beiden nur verflogen und wissen jetzt nicht mehr, wie sie nach Hause kommen. Pass bloß auf, dass sie dich nicht für eine fette Ratte halten.«

Jesus schenkte ihr einen schrägen Blick und setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment klimperte es vorne am Tor, und für eine halbe Sekunde blitzte der Strahl einer Taschenlampe auf, um gleich wieder zu erlöschen. Jesus erstarrte zur Salzsäule, und auch Pia drängte sich enger an ihn, während sie versuchte, noch weiter in den Schatten zurückzuweichen und gänzlich unsichtbar zu werden. Sie vergaß die Raben. Oder versuchte es wenigstens.