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Aber der gefährliche Moment verging, ohne dass irgendjemand schoss, und die Mischung aus Schrecken, Überraschung und Beinahe-Panik im Gesicht des Burschen mit der Geldtasche verwandelte sich in etwas anderes. Es gefiel ihr nicht besonders, führte aber trotzdem dazu, dass sie unter ihrer Maske erleichtert aufatmete. Ganz langsam ließ er die Hand sinken, die das Geldpäckchen hielt, und Pia machte eine rasche, drohende Geste mit dem Revolver.

»Ich habe gesagt, du sollst dich nicht rühren!«

»Ganz genau hast du gesagt, dass ich das Geld wieder in die Tasche legen und sie dir geben soll«, antwortete er. Seine Stimme klang rau, aber auch sehr fest. Pia lauschte vergeblich auf Angst darin. Er sah die Waffe und war sich vermutlich auch darüber im Klaren, dass sie sie benutzen würde, wenn er irgendetwas Unbedachtes tat. Dennoch spürte sie nur Trotz in ihm.

»Stell sie hin«, sagte sie ruppig. Er gehorchte, und Pia fügte mit einem auffordernden Wedeln des Revolvers in ihrer rechten Hand hinzu: »Und jetzt sag deinem Freund, er soll die Waffe weglegen.«

»Und wenn nicht?«, fragte er. »Erschießt du mich dann?« Er beantwortete seine eigene Frage, indem er überzeugt den Kopf schüttelte. »Du siehst nicht aus wie jemand, der einen anderen einfach so umlegt. Ist nicht leicht, jemanden zu erschießen, weißt du? Schon gar nicht, wenn er mit erhobenen Händen vor dir steht.«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Pia. Sie senkte die Waffe, nur ein wenig und eigentlich hauptsächlich, weil sie so schwer war und sie nicht wollte, dass der Kerl sah, wie ihre Hand unter dem Gewicht langsam zu zittern begann. Für ihren Geschmack hatte er ohnehin schon viel zu viel gesehen. Sie hatte nicht vorgehabt, so lange mit den Kerlen zu reden. Wäre es nach ihrem ursprünglichen Plan gegangen, wären sie jetzt schon längst wieder weg, und die beiden Typen würden bis zum Hintern im Schlamm stecken.

»Ich erschieße dich nicht«, sagte sie noch einmal, »aber ich habe kein Problem damit, dir ins Knie zu schießen.«

Sie konnte ihrem Gegenüber ansehen, dass er diese Drohung ernst nahm. Er war ein dunkelhaariger, drahtiger Bursche Mitte zwanzig, der nicht einmal unsympathisch aussah und durchaus in ihr Beuteschema gepasst hätte, wären sie sich unter anderen Umständen begegnet – und hätte es Jesus nicht gegeben. Schade eigentlich.

»Geh einen Schritt zur Seite, und ich lege den Knirps um«, sagte sein Begleiter. »Das ist doch nur ein Kind!«

»Ein Kind mit einer Waffe«, erwiderte der Dunkelhaarige. Er schüttelte erneut den Kopf, was diesmal aber nicht Pia galt. »Lass den Quatsch. Das lohnt sich nicht.«

»Würde auch nicht funktionieren«, sagte eine dritte Stimme.

Pia ließ den Dunkelhaarigen nicht eine Sekunde aus den Augen, aber sie sah trotzdem, wie ein weißer Schemen hinter dem anderen Typen auftauchte, dann hörte sie ein Ächzen und ein knirschendes Geräusch, als würde ein nasses Holzscheit in einen Schraubstock gespannt. Der Dunkelhaarige wandte hastig den Kopf und sah ziemlich erschrocken aus, und auch Pia riskierte einen schnellen Blick. Allem Anschein nach hatte sie Jesus unterschätzt; oder doch zumindest sein Improvisationstalent. Der Bursche mit der Pistole hatte jedenfalls keine Pistole mehr, sondern hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien und umklammerte seine rechte Hand. Jesus’ linke Hand umklammerte seinen Nacken und sorgte dafür, dass er nicht auf dumme Ideen kam, mit der anderen drückte er eine Karnevalsmaske vor sein Gesicht, die wie Pias aussah, aber ungefähr doppelt so groß war.

»Tja, da haben wir euch wohl unterschätzt«, seufzte der Dunkelhaarige. In seiner Stimme war immer noch nicht die mindeste Spur von Furcht zu hören, was Pia ziemlich beunruhigend fand. Er hob die Schultern und versetzte dem Leinenbeutel einen Tritt, der ihn zielsicher durch den Morast bis vor Pias Füße schlittern ließ.

»Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut, Freunde«, sagte er.

»Euch ausrauben?«, fragte Pia.

»Uns?« Der Dunkelhaarige lachte. »Wohl kaum. Ihr legt euch gerade mit den Leuten an, denen das Zeug hier gehört. Ich an eurer Stelle hätte nicht die Chuzpe. Ihr müsst entweder gewaltige Colhões haben, oder ihr sei total bescheuert.« Er legte den Kopf schräg und sah Pia aus kalt glitzernden Augen an, noch immer ohne eine Spur von Angst, aber auf eine plötzlich sehr nachdenkliche Art … als wäre ihm klar geworden, dass sie gar keine Colhões hatte. Pia fühlte sich unter ihrer Maske von Sekunde zu Sekunde unwohler. Das hier lief überhaupt nicht so, wie es sollte. Ihre Verkleidung war alles andere als perfekt, und sie war auch nicht dafür gedacht gewesen, länger als die Schrecksekunde zu halten, die sie ihren beiden potenziellen Opfern zugedacht hatten.

»Hör auf zu quatschen«, sagte sie ruppig. »Hast du eine Waffe?«

»Sicher.«

»Dann nimm sie heraus und leg sie auf den Boden. Ganz langsam.«

Der Bursche gehorchte und richtete sich dann unaufgefordert und mit erhobenen Händen wieder auf. Zu Pias Verwirrung lächelte er, als fände er die ganze Situation aus irgendeinem Grund äußerst amüsant.

»Was ist so komisch?«, fragte sie.

»Eigentlich nichts«, antwortete er. »Mein Boss wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn ich ihm erzähle, was passiert ist. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht wirklich in meiner Haut stecken, wenn er es erfährt … aber noch sehr viel weniger in eurer.« Sein Lächeln erlosch. »Ihr seid tot, das ist dir doch klar, oder?«

»Ach? Ist das so?«

Der Dunkelhaarige antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem fragenden Blick an Jesus. »Was hast du mit Miguel gemacht? Lebt er noch?«

Jesus war klug genug, nicht laut zu antworten, sondern nur zu nicken, und der Dunkelhaarige drehte sich wieder ganz zu ihr herum. »Dann habt ihr noch eine Chance«, sagte er sehr ernst. »Packt eure Kanonen ein und verschwindet. Du hast mein Wort, dass wir euch nicht verfolgen. Und niemand wird erfahren, was hier gerade passiert ist.«

»Wie großzügig«, sagte Pia spöttisch. »Und warum sollte ich dir glauben?«

»Weil du anscheinend keine Ahnung hast, mit wem du dich da gerade anlegst, Kleiner«, erwiderte der Dunkelhaarige ernst. »Weder Miguel noch Antonio oder ich haben Lust, unserem Boss zu erklären, wie es zwei Amateuren wie euch gelungen ist, uns zu übertölpeln, und ihr beide wollt doch auch ganz bestimmt noch ein bisschen am Leben bleiben, oder? Also, warum tun wir nicht alle einfach so, als wäre das hier gar nicht passiert, und jeder kümmert sich wieder um seine eigenen Angelegenheiten?«

»Aber genau das tue ich doch gerade«, antwortete Pia. Sie wedelte auffordernd mit der mit Platzpatronen geladenen Waffe. »Geh ein paar Schritte zurück.« Eine letzte, sehr unangenehme Sekunde verstrich, in der der Trotz in den Augen ihres Gegenübers nicht nur die Furcht eindeutig überwog, sondern sie sich auch fast verzweifelt fragte, was sie eigentlich tun sollte, wenn er einfach stehen blieb. Mit Platzpatronen auf ihn schießen? Dann gewann – zu ihrer Erleichterung – die Vernunft doch die Oberhand. Der Dunkelhaarige ließ zwar die Arme ein gutes Stück sinken, machte aber gehorsam einen Schritt nach hinten, und dann noch einen, als sie ihre auffordernde Geste wiederholte. Jesus mobilisierte ein weiteres Prozent seiner Körperkräfte, um den anderen am Nacken in die Höhe zu ziehen. Der Anblick erinnerte Pia an eine Katze, die ein störrisches Junges trägt.

»Und noch ein Stückchen«, sagte Pia. »Nur Mut. Ist nicht sehr weit.«

Diesmal vergingen mehrere Sekunden, bis der Bursche begriff – und auch dann gehorchte er nicht sofort, sondern starrte sie nur aus großen Augen an. »Das ist nicht dein Ernst!«, krächzte er. Sein Blick irrte zwei- oder dreimal unstet zwischen dem schwarzen Schlund der Baugrube und der Maske vor ihrem Gesicht hin und her.