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»Eigentlich schon«, antwortete Pia. Die lautlos mahnende Stimme hinter ihrer Stirn wurde immer drängender. Jede Sekunde, die sie mit Reden verschwendete, kostete nur unnötig kostbare Zeit. »Aber es ist deine Entscheidung. Dein Knie oder ein Schlammbad. Soll ja angeblich sehr gesund sein.«

»Ganz wie du willst«, antwortete er. »Es ist schließlich eure Beerdigung.« Aber er drehte sich gehorsam um und ging zum Rand der Baugrube. Jesus bugsierte sein zappelndes Katzenjunges neben ihn. In der Nacht, in der es reichlich Smog und den Widerschein der unzähligen Lichter der Stadt auf den tief hängenden Wolken gab, aber keinen nennenswerten Mond, wirkte das schwarze Rechteck der Baugrube bodenlos, ein Abgrund, der nur darauf wartete, jeden zu verschlingen, der dumm genug war, ihm zu nahe zu kommen. Aber Pia wusste auch, dass sie in Wirklichkeit nicht einmal ganz zwei Meter tief und fast hüfthoch mit dem zähen Schlamm gefüllt war, in den der Dauerregen der letzten Tage den Boden verwandelt hatte. Ziemlich kalt, ziemlich ekelig, mehr aber auch nicht. Die beiden würden mit Sicherheit ihre Schuhe, mit einiger Wahrscheinlichkeit ihre Strümpfe und ganz bestimmt einen Großteil ihres Stolzes einbüßen, aber sonst weiter nichts.

O ja, und zumindest der Bursche, mit dem sie gesprochen hatte, einen Gutteil seines Hinterkopfs.

Er explodierte in einer fast lautlosen Wolke aus Blut, Knochensplittern und Gehirnmasse, die in alle Richtungen davon spritzte und Pias Brust und Schultern, ihre Hand und die Plastikmaske vor ihrem Gesicht besudelte, und das alles, bevor sie das weiche Plopp des schallgedämpften Schusses hörte, der den Mann getroffen hatte. Fast ohne Kopf, trotzdem stocksteif und mit immer noch halb erhobenen Armen kippte er nach vorne und verschwand in der Baugrube, und noch bevor er mit einem schmatzenden Laut in dem Morast dort drinnen aufschlug, erscholl das geflüsterte Plopp noch einmal, und auch der Bursche vor Jesus wurde nach vorne gerissen und verschwand in der Tiefe, wahrscheinlich schon tot, sein Hals eine einzige grauenhafte Wunde. Wer immer auf die Männer geschossen hatte, dachte Pia mit schon fast hysterischer Sachlichkeit, benutzte ein ziemlich großes Kaliber.

Erst dann begriff sie wirklich, was gerade vor ihren Augen geschehen war, und tatsächlich erst danach schlug die Angst zu, verspätet, aber dafür mit doppelter Wucht. Sie fuhr herum, ließ die Plastikmaske fallen und riss den Revolver mit beiden Händen in die Höhe, vollkommen gleichgültig, ob er nur mit Platzpatronen geladen war oder nicht, hielt in blinder Angst nach einem Ziel Ausschau und fand sich längst auf der falschen Seite der Grenze zu echter Panik.

Sie sah nichts, worauf sie zielen konnte, und kaum eine Sekunde später sah sie überhaupt nichts mehr, als zwischen den Baumaschinen ein grelles Scheinwerferlicht aufflammte und sich direkt auf ihr Gesicht richtete. Das sonderbare Ploppen wiederholte sich, und unmittelbar vor ihren Füßen spritzte der Boden auf.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt die Waffe runternehmen, Liebling«, sagte eine Stimme, die ihr auf schreckliche Weise bekannt vorkam. Als sie weitersprach, klang sie fast ein bisschen amüsiert. »Außerdem weiß ich, dass sie nicht geladen ist. Du hast doch in deinem ganzen Leben noch keine einzige scharfe Patrone in der Hand gehabt, habe ich recht?«

Und damit trat Comandante Juan Hernandez ins Licht des Scheinwerfers und auf sie zu.

Pia schloss die Augen und presste die Lider für einen Moment so fest aufeinander, dass bunte Sterne über ihre Netzhaut flimmerten. Sie sollte in Panik geraten, und im allerersten Moment hatte sie auch geglaubt, sie wäre es, doch nun wurde ihr klar, dass sie etwas ganz anderes, sehr viel Schlimmeres verspürte: ein kaltes Entsetzen, das mit dem vollkommenen und zweifelsfreien Wissen um ihre Niederlage einherging. Sie hatten verloren. Sie hätte auf ihre innere Stimme – und auf Jesus! – hören und verschwinden sollen, solange sie es noch konnten. Jetzt war es zu spät.

Vielleicht, dachte sie albern, half es ja, wenn sie einfach die Augen schloss und sich weigerte, seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Es half nicht. Das Licht wurde plötzlich so grell, dass es selbst durch ihre geschlossenen Lider drang und dem grellen Funkeln auf ihrer Netzhaut neue, noch grellere Schmerzblitze hinzufügte, und sie öffnete widerwillig die Augen. Hernandez stand unmittelbar vor ihr, ein vollkommen unpassendes, fast jungenhaftes Grinsen im Gesicht und ein tückisches Funkeln in den Augen.

»Du hättest auf mich hören sollen, Piamaria«, sagte er kopfschüttelnd, während er die Hand ausstreckte und ihr den Revolver abnahm. »Ich habe dir gesagt, dass ich dein Freund bin, und ich habe das wirklich ernst gemeint. Warum hast du nur nicht auf mich gehört?« Er seufzte, tief und hoffnungslos theatralisch. »Jetzt weiß ich allmählich auch nicht mehr, wie ich dir und deinem Freund noch helfen soll.«

Pia sagte das Einzige, was ihr einfiel – nämlich nichts –, und versuchte, trotz des schmerzhaft grellen Lichts hinter Hernandez irgendetwas zu erkennen. Viel konnte sie nicht sehen, aber sie identifizierte immerhin zwei oder drei schattenhafte Gestalten, die sich hinter dem Comandante bewegten, vermutlich mehr. Und sie musste sich nicht eigens umdrehen, um zu wissen, dass auch hinter ihr Männer aufgetaucht waren; entweder viele oder bewaffnete. Vermutlich beides. Jesus hatte bisher keinen Laut von sich gegeben.

»Also, was soll ich jetzt deiner Meinung nach mit dir tun, Pia?«, fragte Hernandez, als er endlich einsah, dass sie nicht von sich aus sprechen würde.

»Warum erschießen Sie mich nicht einfach?«, erwiderte Pia trotzig. Ein Teil von ihr fragte sie fast hysterisch, ob sie den Verstand verloren hatte. »Das haben Sie doch sowieso vor, und so muss ich mir wenigstens diese dummen Sprüche nicht mehr länger …«

Hernandez schlug zu. Der Hieb war so schnell, dass sie ihn nicht einmal kommen sah, und hart genug, um ihren Kopf in den Nacken zu werfen und ihre Unterlippe aufplatzen zu lassen. Sie stolperte, fühlte plötzlich nichts mehr unter ihrem rechten Fuß und wäre wahrscheinlich rücklings in die Baugrube und zu den beiden Toten hinabgestürzt, hätte Hernandez sie nicht mit derselben Hand, mit der er sie gerade geschlagen hatte, blitzschnell festgehalten und wieder auf sicheren Boden zurückgezerrt. Der Schmerz trieb ihr endgültig die Tränen in die Augen, aber sie tat ihm nicht den Gefallen, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, sondern wischte sich nur mit dem Handrücken das Blut vom Kinn.

»Das war jetzt nicht besonders nett von dir«, fuhr Hernandez fort, beinahe im Plauderton. »Ich meine: Versuch dir doch nur vorzustellen, wie ich mich jetzt fühlen muss! Ich mag dich wirklich. Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um dich zu warnen! Es gibt ein paar einflussreiche Leute, die schon lange ein Auge auf dich und deinen großen Freund geworfen haben, und ich habe die ganze Zeit über meine schützenden Hände über euch gehalten. Ich riskiere nicht nur meinen Job und mein Ansehen für euch, sondern sogar mein Leben – und zum Dank unterstellst du mir, dass ich dich umbringen will? Das verletzt mich wirklich!«

Pia schwieg. Hernandez würde sie so oder so umbringen, das war ihr klar, aber sie würde ihm nicht die Genugtuung lassen, sie weinen und um ihr Leben betteln zu hören.

Jedenfalls noch nicht.

Hernandez seufzte noch einmal und noch tiefer, machte einen Schritt nach hinten und wedelte gleichzeitig mit der freien Hand, und Pia wagte es zum ersten Mal, hinter sich und zu Jesus hinzusehen. Immerhin war er am Leben, auch wenn sie nicht vorherzusagen wagte, wie lange noch. Sein Anzug war fast ebenso sehr mit Blut besudelt wie ihre Jacke und Hände, und er stand in einer schon fast komisch aussehenden Haltung da – die Hände erhoben und den Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass er eigentlich nach hinten hätte umfallen müssen. Richtig komisch wäre sein Anblick allerdings erst ohne den Kerl gewesen, der vor ihm stand und ihm den Doppellauf einer abgesägten Schrotflinte unter das Kinn drückte.