Inzwischen genügte schon der Geruch von Met, und ihm wurde ganz schlecht. Wo immer sich die Gelegenheit bot, drückte er sich vor den Versammlungen in der Festhalle. »Festhalle« war ohnehin ein viel zu großspuriges Wort für die windschiefe Scheune, in der sein Vater zum König gekrönt worden war. Ulric wünschte, er wäre wieder daheim in Firnstayn. Wenn doch nur alles wieder so sein könnte wie im letzten Herbst, als der Elf Ollowain gekommen war. Er würde Fechtstunden beim Schwertmeister der Elfenkönigin bekommen. Vater hätte Zeit für ihn. Mutter würde kochen und ihm hin und wieder das Haar zerzausen. Ulric schluckte. Früher hatte er es gehasst, wenn sie ihm das Haar zerwühlte und ihn an sich drückte. Er war viel zu groß, um so behandelt zu werden. Aber jetzt würde er alles dafür geben, wenn sie in diesem Augenblick bei ihm wäre. Ja, es wäre ihm nicht einmal peinlich, wenn sie ihm das Haar kraulte, während Mag neben ihm stand.
»Ulric?«
Der Krieger wartete immer noch auf eine Antwort von ihm.
»Ich ...« Nein, er hatte keine Lust, in die Halle zu gehen. Aber ihm fiel keine gute Ausrede ein.
»Ich könnte es einrichten, dass in deinem Methorn warme Milch mit Honig ist. Niemand würde bemerken, was du trinkst.«
Ulric sah den gebrandmarkten Krieger erschrocken an. Er wusste es also! Ob die anderen Männer wohl auch bemerkt hatten, dass er das Trinken nicht vertrug? Sicher lachten sie hinter seinem Rücken über ihn! Mag grinste nicht. Er sah ihn geradeheraus an. Wollte er ihm wirklich helfen? War er ein Freund? Oder war das wieder diese undurchsichtige Art der Großen, ihn zu verspotten? Ulric wusste einfach nicht, was er von dem Kerl halten sollte. Und er war sich ganz sicher, dass er nicht in die Festhalle wollte! Wenn doch nur ... Was hatte sein Vater noch immer gesagt, wenn er seine Ruhe haben wollte?
»Geh nur schon vor. Ich brauch ein wenig Zeit, allein mit meinen alten Wunden.« Ulric hatte nie ganz verstanden, wie sein Vater das gemeint hatte. Seine alten Wunden waren alle gut verheilt. Aber Mutter hatte ihn dann stets in Ruhe gelassen, wenn er das sagte.
Mag sah ihn verblüfft an. Er machte den Mund auf und schien etwas sagen zu wollen, dann schüttelte er nur den Kopf. »Bleib nicht zu lange draußen. Es zieht übles Wetter auf.« Der Krieger stapfte durch den hohen Schnee davon.
Ulric war überrascht, wie gut das geklappt hatte. Er würde den Spruch seines Vaters in Zukunft öfter nutzen.
Der Junge ging zurück zu dem Baumstumpf, von dem aus er den Arbeitern zugesehen hatte. Er wischte den frischen Schnee zur Seite und setzte sich. Ganz in Gedanken versunken, tastete er nach dem Elfendolch. Hätte Eirik ihn wirklich damit niedergestochen? Wer glaubte diesen Unsinn vom Wiedergänger wohl noch? Oder war es die Wahrheit? Hatten er und Halgard den Schicksalsweber erzürnt? Hatten sie seine Fäden durcheinander gebracht, und lag nun sein Fluch auf ihnen?
Bevor sie nach Albenmark zurückgekehrt war, hatte Emerelle mit ihm gesprochen. Es war die Elfenkönigin gewesen, die ihm und Halgard das Leben wiedergegeben hatte, nachdem sie beide unter das Eis geraten waren. Wenn er Emerelles Worten glaubte, dann waren sie nicht wirklich tot gewesen. Sie hatte ihm erklärt, dass im kalten Wasser der Lebensfunke weniger schnell verging, ebenso wie Fleisch nicht so schnell verdarb, wenn man es in einer Höhle mit Eis lagerte. Sie hatte geschworen, dass sie niemals jemanden von den Toten zurückholen würde, keinen Elfen und auch keinen Menschen.
Ulric hatte das Gefühl gehabt, dass allein der Gedanke daran die Königin mit tiefer Furcht erfüllte. Wer die Toten zurückholte, der war verflucht! Jedenfalls galt das hier im Fjordland. Wer sich gegen die Ordnung der Götter stellte, der forderte ihren Zorn heraus. Sie würden einem solchen Frevler alles nehmen, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Er wäre lieber tot als ein Wiedergänger, dachte Ulric. Aber Emerelle hatte ihn gewiss nicht belogen! Sie war die Königin der Elfen. Sie musste wissen, was es hieß, die Götter herauszufordern. Eirik war der Lügner!
Wenn doch nur Gundar hier wäre! Der alte Luthpriester aus Firnstayn war sein Freund gewesen. Gundar war gestorben, weil er ihn in den Bergen nicht allein gelassen hatte. Ihn zu tragen hatte die Kräfte des Priesters aufgezehrt.
Ulric schluchzte leise. Er brachte allen Unglück. Er hätte Gundar nicht folgen dürfen, dann würde der Priester vielleicht noch leben. Und wenn er in Honnigsvald nicht vom Schlitten seiner Mutter gesprungen wäre, dann wäre gewiss alles ganz anders gekommen. Mutter hatte alle, die ihr folgen wollten, hinaus aufs Eis geführt. Aber sie hatten Halgard verloren. Halgard war blind, und im Durcheinander der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt hatte sie nicht rechtzeitig zu den Schlitten zurückgefunden. Ulric hatte sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können! Deshalb hatte er sich davongestohlen. Er war sich ganz sicher gewesen, es rechtzeitig zurückzuschaffen. Er hatte den letzten der Schlitten sogar fast noch berühren können. Seit diesem Tag in Honnigsvald hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen.
Ulric kämpfte mit den Tränen. Sein Vater sagte, dass Asla nur in die Berge gegangen sei, um sich zu verstecken. Auch Sunnenberg war zuletzt von den Trollen erobert worden. Aber die Mehrheit der Frauen und Kinder hatte es geschafft, über den Rentiersteig in die Hochtäler zu flüchten. Noch immer waren Suchtrupps in den Bergen unterwegs. Trotz all der Wochen, die seit der Flucht vergangen waren. Ulric wusste, was die Verzagten hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Dass niemand dort oben überleben konnte, wenn er keinen Unterschlupf und einen Vorrat an Holz und Lebensmitteln hatte. Man hatte viele Leichen in den Tälern gefunden. Die Flüchtlinge waren lieber erfroren, als den Trollen in die Hände zu fallen.
Der Junge blickte zu dem steilen Pfad, der unweit der neuen Hütten den Hang hinaufführte. Es war der Weg, den die Rentiere nahmen, wenn sie zu Beginn des Winters die kalten Hochtäler verließen. Das Schneetreiben verwischte die Sicht.
Dort würde Mutter kommen, da war sich Ulric ganz sicher. Und sie würde Kadlin mitbringen. Er war oft wütend auf seine kleine Schwester gewesen, weil seine Eltern nur noch sie beachtet hatten. Aber jetzt wäre ihm sogar Kadlin willkommen. Er dachte daran, wie sie sich manchmal an ihn gedrückt hatte. Mit ihren kleinen Armen seine Beine umarmt hatte, dann den Kopf in den Nacken gelegt und ihn stumm angehimmelt hatte ... Ulric biss sich auf die Lippen und kämpfte mit den Tränen. Sie waren nicht tot! Sie würden den Rentierpfad wieder hinabkommen. Vielleicht sogar heute noch.
Ulric saß ganz still. Er beobachtete, wie der Schnee einen weißen Schleier über seinen Umhang wob. Erst war er nur ein zartes, löchriges Netzwerk, dann wurde er langsam zu einem zweiten, weißen Mantel.
Die Kälte kroch dem Jungen langsam in die Glieder. Sie kam vom Nacken und fraß sich den Rücken hinab. Ulric schloss die Augen. Noch würde er nicht gehen! Er wollte Wache halten am Rentiersteig, gerade jetzt, wo alle anderen in ihre warmen Hütten flohen. Niemand wäre da, wenn Mutter und Kadlin jetzt kämen. In Honnigsvald war er verloren gegangen ... Aber jetzt würde er alles wieder gut machen. Er wäre da, wenn sie käme.
Fröstelnd zog er den Umhang enger um die Schultern. So ein bisschen Schnee würde ihn nicht von seinem Posten vertreiben. Angestrengt blickte er ins Schneegestöber. Keine fünfzig Schritt weit konnte er sehen. Es war unheimlich still. Selbst der Wind schwieg. Die dicke Schneedecke erstickte jedes Geräusch.