Выбрать главу

»Welcher Teil von dir ist eigentlich für deine altkluge Ader verantwortlich, der Stier, der Adler oder jenes obskure Wesen, dem du das Gesicht verdankst, das du hinter deinem Bart versteckst?«

»Ist das ein Anflug von Bartneid? Ein Freund von mir hat darüber einen hübschen Aufsatz verfasst. Er glaubt, Elfen als bartlose Geschöpfe hätten generell die Neigung, sich Bartträgern gegenüber intellektuell unterlegen zu fühlen. Er ist auch der Auffassung, viele von ihnen kompensieren das durch Pferdeschweife oder üppige Federbüsche auf ihren Helmen. Das halte ich persönlich für zu weit gegriffen, aber ...«

»Blablabla.« Melvyn wandte sich lachend an Nestheus. »Man sollte einem Lamassu niemals die Gelegenheit geben, mit seiner Weisheit zu prahlen. Die quatschen dir die Ohren vom Kopf ... Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

»Unser niedliches Fohlen verrenkt sich sicher den Hals nach der kleinen Stute, mit der er gestern auf der Weide bei dem Birkenhain zugange war. Soll ich mal ‚ne Runde über das Lager drehen und mich nach dem Mädel umsehen? Das wäre vielleicht weniger umständlich. Deine Zappelei schlägt mir allmählich auf den Magen.«

Der Kentaur blickte erschrocken zu Artaxas auf. »Du hast ...«

»Wenn man Freunde hat, die fliegen können, sollte man auch den Himmel im Auge behalten, Nestheus.« Der Lamassu lächelte verschwörerisch. »Aber keine Sorge. Nur weil ich gerne rede, heißt das nicht, dass ich kein Geheimnis für mich behalten könnte.«

»Würde mir mal jemand sagen, worum es geht?«, brummelte Melvyn beleidigt.

»Tja, als Fußgänger hat man ein sehr eingeschränktes Weltbild«, stichelte Artaxas. »Unser vierbeiniger Freund hat sich in eine hübsche Schimmelstute verguckt. Von oben sah es so aus, als sei sie von ihm auch recht angetan.«

Nestheus wurde rot. »Du hast uns doch nicht etwa ...«

»Junge Liebe wärmt einem das Herz, wenn man so ein alter Knochen ist wie ich.« Melvyn wurde langsam ärgerlich. Dieser Abend sollte ganz dem Andenken an Ollowain gewidmet sein, doch seinen beiden Freunden schien es nur um andere Dinge zu gehen.

»Sie heißt Kirta und gehört zum Klan der Frostkinder«, sprudelte es unvermittelt aus Nestheus hervor. »Ich habe sie vor zwei Jahren während eines Viehmarkts hier in Feylanviek kennen gelernt. Du hast sie gesehen, Artaxas. Sie ist wunderbar! Ihre Fesseln sind wie zarte Birkenstämme, ihr Haar wie Raureif an einem kalten Frühlingsmorgen. Und wenn du ihre Stimme hören könntest. Süß und melancholisch wie der Ruf des Eistauchers in der ersten Dämmerung. Sie ist wie ...«

»Schreibst du ihr etwa Gedichte?«, unterbrach ihn Artaxas.

Der Kentaur wirkte verdattert. »Ja«, gestand er schließlich ein.

»Das merkt man. Wann stellst du sie uns vor? Ich hätte nie zu hoffen gewagt, auf meine alten Tage noch einmal dem vollkommensten aller Geschöpfe zu begegnen«, scherzte der Lamassu.

Melvyn brannten die Worte des Kentauren in der Seele. Er musste an Leylin denken, und er wünschte, er wäre allein.

»Sie wird nicht zum Fest kommen ... hoffe ich. Ich habe sie darum gebeten. Es wäre nicht gut.«

»Weil nur Männer sich besaufen?«

Der Pferdemann schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir den Umgang mit ihr verboten.« Artaxas lachte laut auf. »Und darum scherst du dich? Junge, ich hab dich auf dem Schlachtfeld gesehen. Vor dir hatten selbst Trolle Angst, und du scherst dich um den Segen deines Vaters! Schnapp dir dein Mädel und verschwinde. Ich wette, Orimedes wird sich damit abfinden. Du bist doch sein einziger Sohn. Er wird es nicht lange ohne dich aushalten. Mit Vätern muss man manchmal die harte Gangart proben. Du wirst sehen, der kommt schon wieder zur Vernunft.«

»Das glaube ich kaum. Er kann sehr verstockt sein ...«

»Ach, Junge. Du bist ein Geschenk des Schicksals. Ein kostbares Kleinod, das sein Leben bereichert. Aber du bist nicht sein Besitz. Als du ein Fohlen warst, hatte er vielleicht das Recht, dir zu sagen, wo es langgeht. Aber jetzt doch nicht mehr! Du bist ein Mann! Ein Krieger! Du hast auf dem Schlachtfeld das Blut deiner Feinde vergossen. Elodrin und die Hälfte der Anführer unseres Heeres verdanken dir ihr Leben. Ohne deine letzte Attacke wäre die Schlacht am Mordstein zu einem schaurigen Gemetzel für uns geworden. Dir sprießt kaum ein Barthaar auf den Wangen, und du bist berühmt. Nicht einmal dein Vater kann sich jetzt noch gegen dich stellen. Jedenfalls wird er das nicht tun, wenn er ein kluger Mann ist, und den Eindruck hatte ich bislang von ihm.«

Sie erreichten die Festwiese. Orimedes stand auf einem sanften Hügel nahe dem Fluss. Neben ihm war eine große Balkenwaage aufgerichtet. Auch hatte man einen Karren mit Weinamphoren auf den Hügel gebracht. Der Fürst hatte die Totenrede schon begonnen. Hunderte Kentauren standen schweigend und lauschten seinen Worten. Worten der Freundschaft und des Mutes.

Melvyn fühlte einen bittersüßen Schmerz. Und er fühlte sich betrogen! Warum hatte er Ollowain kennen lernen müssen, wenn er ihn gleich darauf wieder verlor?

»Ein Licht, das zu hell brennt, muss früh verlöschen, so heißt es.« Die volltönende Stimme des Kentaurenfürsten trug über das weite Feld. »Ein solches Licht war Ollowain. Ein Vorbild in seiner Ritterlichkeit. Nie habe ich ihn fragen hören, was nutzt es mir, wenn man ihn um seine Hilfe bat. Er war dort, wo Unrecht sein Haupt erhob, und er fand keine Ruhe, bis der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen ward. Sein unverrückbarer Glaube daran, dass die Gerechtigkeit zuletzt immer siegen würde, war vielleicht sein herausragendster Charakterzug. Nie scheute er davor zurück, für eine scheinbar verlorene Sache einzustehen. Und deshalb war er zu uns gekommen, meine Brüder. Erinnert euch, wie verzagt wir waren. Wie wir Woche um Woche im Heerlager warteten, so wie ein zum Tode Verurteilter in seiner Zelle auf seine Hinrichtung wartet. Wir wussten, wie viele Trolle sich auf der Ebene am Mordstein sammelten. In unseren Herzen waren wir schon besiegt, noch bevor wir unsere erste Schlacht geschlagen hatten. Ich weiß nicht, wie es um euch steht, meine Brüder, doch mir hat Ollowain meinen Mut zurückgegeben. Die Schlacht am Mordstein war ein Sieg für uns, denn die Trolle mussten lernen, dass sie sich zu keiner Stunde und an keinem Ort sicher vor uns fühlen können — und dass auch ihre Zahl sie nicht vor unseren Angriffen schützt. Ollowain, der Schwertmeister Emerelles, hat für unsere Sache sein Leben gegeben. Ich weiß, dass manche sich fragen, warum wir den Krieg gegen die Trolle nicht aufgeben. Sie sagen, die Trolle würden nur durch unser Land ziehen und uns nicht weiter behelligen. Sie glauben, dass es allein der Thron Emerelles ist, was sie begehren. Ich sage euch, wer das annimmt, ist blind. Sie werden immer mehr, die Trolle, und ihr Hunger ist berüchtigt. Hunger auf Fleisch! Sie werden uns zwingen, ihnen Tribut zu zahlen. Sie werden die besten Tiere aus unseren Herden fordern. Und ihr Hunger wird unersättlich sein. Bald werden sie sagen, die Herden gehörten ihnen, denn sie seien die Herren des Landes und das Land ernähre die Herden. Dann werden wir nur noch ihre Viehtreiber sein. Ollowain wusste, dass es so kommen würde. Er war ein Freund der freien Steppenvölker. Er wusste, dass wir unsere Freiheit brauchen wie die Luft, die wir atmen. Mit seinem Tod hinterlässt er uns ein Vermächtnis. Er hat sein Fleisch gegeben, um unseres zu schützen. Lasst seinen Tod nicht sinnlos gewesen sein!«

Orimedes breitete die Arme aus und streckte sie dem Himmel entgegen. »Ich weiß nicht, wohin deine Seele gegangen ist, mein Schwertbruder Ollowain. In meinem Volk glauben wir, die Seelen der Toten reisen mit dem Wind, der über die Steppe weht. Vielleicht reitest auch du nun den Wind. Was ich aber ganz gewiss weiß, ist, dass du immer stolz auf uns sein sollst. Dein Opfer war nicht vergebens. Wir werden den Kampf gegen die Trolle nicht aufgeben. Wir werden fechten, bis wir den Sieg errungen haben, der unsere Freiheit bewahrt. Den Sieg, an dem du nie gezweifelt hast.«

Orimedes hob das Schwert und streckte die Klinge dem Mond entgegen. »Hörst du mich, Südwind? Trage meine Worte zu meinem toten Freund. Du warst als Elf geboren, aber gestorben bist du für mein Volk. Und gleich, wie oft die Sonne sich noch über die Steppe erheben mag, bis unsere Welt zerbricht und das Ende aller Zeiten naht, deinen Namen und deine Taten werden wir für immer auf unseren Lippen tragen. So lange es Kentauren gibt, wirst du unvergessen sein, Ollowain!«