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Den tanzenden Schneeflocken zuzusehen, machte müde. Das weiße Flimmern ließ die Augenlider schwerer und schwerer werden. Ulric gestattete sich, die Augen für ein paar Herzschläge lang zu schließen. Die Kälte machte ihm jetzt nichts mehr aus. Er fühlte sich ganz behaglich in seinem schneebedeckten Umhang. Er wusste, dass man draußen im Schnee nicht schlafen durfte. Aber Dösen war erlaubt. Nur einen kurzen Augenblick lang. Nur ... Ein seltsamer Geruch stach ihm in die Nase. Es stank wie nach faulen Eiern. Ob jemand in der Nähe seinen Nachttopf geleert hatte? Der Unrat würde bald unter dem Schnee verschwinden, und dann wäre es auch mit dem Gestank vorbei.

»Ist dir nicht kalt?«

Erschrocken fuhr der Junge auf. Nicht weit entfernt ragte ein blauer Schemen im tanzenden Weiß auf. Ulric blinzelte. Nein, kein Schemen. Ein Mann in einem blauen Umhang. Ulric fluchte stumm. Er musste eingenickt sein. Sonst hätte er die knirschenden Schritte im Schnee gehört.

Die Gestalt kam näher. Unmittelbar vor Ulric kniete sie nieder, sodass sie einander in die Augen sehen konnten. Es war ein großer Mann mit sonnengebräuntem Antlitz. Der Schnee hatte ihm Eiskrusten in die schwarzen Locken gewoben. Sein Gesicht war gut rasiert. Nicht die kleinste Bartstoppel zeigte sich auf seinen Wangen oder um den Mund.

Ulric hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Doch das mochte nichts heißen. Obwohl die Kämpfe seit Wochen beendet waren, kamen immer noch täglich neue Flüchtlinge nach Sunnenberg. Allerdings sah der Mann wirklich seltsam aus. Nur wenige Fjordländer hatten schwarzes Haar und eine dunkle Haut. Und Ulric kannte niemanden außer seinem Vater, der sich solche Mühe damit gab, sich zu rasieren.

»Du bist nicht gerade gesprächig?« Der Fremde sagte das mit einem gewinnenden Lächeln. Jetzt erst bemerkte Ulric den seltsamen Klang, der die Worte des Mannes begleitete. Ein melodischer Singsang, der ihn ein wenig an jene traurigen Heldenlieder erinnerte, die von den Skalden angestimmt wurden, wenn die meisten Gäste der Festhalle schon vom Met niedergestreckt in den Binsen lagen.

»Wer bist du?«

Der Mann verneigte sich knapp. »Verzeih, wie unhöflich von mir, mich dir nicht vorzustellen, Ulric Alfadasson. Man nennt mich Bruder Jules oder auch Jules den Wanderer.«

»Du kennst meinen Namen?« Ulric richtete sich auf. Die Schneekruste auf seinem Mantel zersprang. Der Fremde hatte etwas Unheimliches, auch wenn er die ganze Zeit über freundlich lächelte. Er war recht groß. Wie ein Krieger sah er eigentlich nicht aus. Aber unter dem weiten blauen Umhang mochte er sehr wohl Waffen verborgen tragen. Sein Gesicht war kantig, mit einem ausgeprägten Kinn. Der Mann wirkte sehr selbstsicher. Wie jemand, der nichts und niemanden fürchtete.

»Ich habe deinen Dolch gesehen, Ulric«, entgegnete Jules.

»Und natürlich kenne ich die Geschichten, die man überall über den Sohn des Königs erzählt. Wie viele Jungen mag es in Sunnenberg wohl geben, die einen Elfendolch am Gürtel tragen? Es war nicht schwer zu erraten, wen ich vor mir habe.«

Ulric nickte langsam. »Ich bin wohl leicht zu erkennen.« Die Worte des Fremden hatten ihn keineswegs beruhigt. Ulric war klar, dass es Männer gab, die für einen solchen Dolch töten würden. Keine Fjordländer! Aber Fremde ... Ollowains Geschenk war eines Königs würdig.

»Woher kommst du, Jules?«, fragte er vorsichtig.

»Aus Aniscans. Das liegt weit im Süden, noch hinter dem Meer.« Er seufzte. »Dort dauern die Winter nicht so lange und sind auch nicht so eisig. Ich bin für diese Kälte nicht geschaffen. Wie hältst du es nur aus, so lange still auf einem Baumstumpf zu sitzen? Ich wäre sicher schon festgefroren.«

So leicht ließ er sich nicht übertölpeln, dachte Ulric. Ein paar nette Worte, ein Lächeln .... Veleif Silberhand, der Skalde, der Vater auf den Kriegszug nach Albenmark begleitet hatte, hatte Ulric ein paar von seinen Tricks verraten, wie man die Gunst seiner Zuhörer gewann. Man gab sich offenherzig, scherzte und schmeichelte. Man war so wie dieser Jules. Sicher gab es auch Reisende, die immer so waren, ganz ohne Hintergedanken ... Aber vor Fremden musste man auf der Hut sein!

»Und warum bist du den ganzen weiten Weg hierher gekommen, wenn du den Winter nicht magst?«

»Weil ich ein Narr bin!« Jules lachte herzhaft. »Ich kannte die Winter hier im Norden nicht und habe mir in meiner ganzen Überheblichkeit gedacht, schlimmer als bei uns in den Bergen wird es schon nicht sein.« Er haucht sich auf die Hände, die rot vom Frost waren, und rieb sie dann. »Einige Leute, die mich nicht so gut kennen, halten mich für einen weisen Mann. Ich bin Priester in meiner Heimat. Ich verehre den einen Gott, Tjured.«

Er sah sich um und beugte sich dann ein wenig zu Ulric vor.

»Inzwischen habe ich ja gelernt, dass ich das mit dem einen Gott nicht so laut sagen sollte. Ihr Fjordländer seid da ja ein bisschen eigen ...« Ulric sah den Fremden zweifelnd an. Ob er ein Verrückter war? Jedes Kind wusste, dass es mehr als drei Dutzend Götter gab. Die Bastarde, die sie mit Menschen gezeugt hatten, gar nicht mitgezählt.

»Ja, so sehen sie mich alle an, wenn ich von dem einen Gott spreche«, sagte der Priester traurig. »Aber es ist nun mal die Wahrheit, und es ist meine Aufgabe, die Wahrheit in die Welt hinauszutragen und das hohe Lied des Tjured zu singen.«

Ulric runzelte die Stirn. Er hoffte, dass der seltsame Kauz nicht wirklich anfangen würde zu singen. »Wie kannst du dir denn so sicher sein, dass es nur einen Gott gibt?«

Jules lächelte glücklich. »Tjured schenkt mir diese Gewissheit.« Er senkte die Stimme. »Du musst wissen, er spricht zu mir. Nur sehr wenige sind auserwählt und können seine Stimme hören. Deshalb weiß ich, dass es nur einen Gott gibt. Ganz ehrlich, ich habe noch niemanden sonst getroffen, zu dem Gott spricht. Deshalb bin ich mir so sicher. Obwohl mich einige deiner Landsleute schon verprügeln wollten, weil sie die Wahrheit nicht hören mochten.« Kein Wunder, dachte Ulric. Aber irgendwie tat der Fremde ihm auch leid. Schließlich wusste Ulric selbst nur zu gut, was es hieß, nicht dazuzugehören und verprügelt zu werden.

»Spricht einer deiner Götter zu dir?«, fragte Jules.

Der Junge schüttelte bedächtig den Kopf. Er dachte an Gundar, den dicken Luthpriester, der erst vor wenigen Wochen gestorben war. Seinetwegen! Er hätte ihm nicht hinterherlaufen dürfen. Ob Gundar wohl mit Luth gesprochen hatte? »Unsere Götter geben uns Zeichen. Manchmal kommen sie auch, um uns zu helfen oder ihren Schabernack mit uns zu treiben.«

»Du bist also tatsächlich schon einem Gott begegnet?«

»Nein.« Ulric schüttelte unwillig den Kopf. Er mochte es nicht, wenn man ihm die Worte im Mund verdrehte.

»Aber du kennst jemanden, der schon einmal einen Gott getroffen hat. Jemanden, dem du vertraust. Wo du dir ganz sicher bist, dass er keinen Unsinn redet.«

»Ja!« Ulric dachte an Luths Geschenk, das rostige Kettenhemd, das er mit Gundar gefunden hatte. »Der Luthpriester aus unserem Dorf. Zu ihm hat der Schicksalsweber gesprochen. Er hat ihm einen Wahrtraum geschickt. Er ist ihm als Spinne erschienen und hat ihm verraten, dass bei der Spinne unter dem Regenbogen ein Geschenk für ihn liegt.«

Jules schüttelte unwillig den Kopf. »Träume? Nein, das zählt nicht. Und überhaupt, was ist das für eine Geschichte? Sieht dieser Gott ... Luth, ja? Sieht der etwa aus wie eine Spinne?«

»Nein. Aber Spinnen sind seine heiligen Tiere.«

»Warum? Warum sollte ein Gott ausgerechnet so eine grässliche Kreatur wie eine Spinne zu einem heiligen Tier machen? Das ist doch Unsinn.«

»Überhaupt nicht ...«

»Dann sagt mir, was an einer Spinne heilig ist.«

»Also, Luth webt die Schicksalsfäden der Menschen. So wie Spinnen Fäden weben und ... Wenn jemand stirbt, dann hat Luth den Schicksalsfaden durchtrennt. Und dann geht man zu ihm in die goldene Halle ... Manchmal kommt man auch zurück.« Ulric dachte an die Nacht, als Gundar ihm als Geist erschienen war. Er hatte sie alle gerettet. Ihn, seine Freundin Halgard, die verwundete Elfe Yilvina und Blut, den Hund seiner kleinen Schwester Kadlin. »Aber das passiert sehr selten. Außer, man war ein böser Mensch. Wen die Götter nicht in ihren Goldenen Hallen haben wollen, der wird zum Wiedergänger. Deshalb muss man ihn mit dem Gesicht nach unten ins Grab legen, damit er in die falsche Richtung gräbt, wenn er zu uns Lebenden zurückkommen will. Und man treibt ihnen einen Pflock aus Eschenholz durch das Herz. Denn in der Esche liegt die Kraft der Götter. Es ist ihr Lieblingsbaum. Neben den Eichen natürlich ...«