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Elija kletterte die Strickleiter hinauf. Noch einmal spähte er nach Westen. Die Reiterschar war hinter dem Horizont verschwunden. Im Lager rings herum hatten seine Gefolgsleute Schutz unter den Sonnensegeln gesucht. Nur zwei Wachen sahen ihn bei Gandas Zelt. Er hatte sie selbst ausgewählt. Von ihnen würde Ganda nicht erfahren, was an diesem Mittag geschehen war.

Der Lutin schlug die Plane zurück und trat ins Dämmerlicht des kleinen Zeltes. Der Elf regte sich.

»Wie ich hörte, geht es dir besser, Fürst«, sagte der Lutin freundlich und nahm neben dem Lager des Verwundeten Platz.

»Ganda hat dich aufopferungsvoll gepflegt. Sie ist voller Hoffnung, dass du schon bald wieder zu Kräften kommen wirst. Sie hat ein wahres Wunder an dir vollbracht. Ich hätte nicht einen Grashalm aus der Ebene darauf verwettet, dass du wieder zu dir kommen würdest. Ihr Elfen seid wirklich von erstaunlicher Widerstandsfähigkeit.« Elija lächelte. »Doch seid ihr auch langmütig, wenn es darum geht, Langeweile zu ertragen? Ganda hat viele Pflichten, und sie wird dich in den nächsten Tagen oft allein lassen müssen. Und du darfst dich noch nicht von deinem Lager erheben. Dazu bist du zu schwach. Deine Wunden könnten wieder aufbrechen, wenn du dich zu sehr anstrengst.«

Der Elf sah ihn mit durchdringenden blauen Augen an. Der größte Teil seines Gesichts war hinter Verbänden verborgen. Die Lippen schimmerten rot durch das weiße Leinen. Zwei Furchen aus schwarzem Schorf teilten sie. Auch waren sie noch immer geschwollen, wodurch sie wulstig erschienen. Das linke Augenlid des Elfen hing ein wenig herab. Auf dem Lid war eine hässliche braungrüne Verfärbung zu sehen.

»Verstehst du mich?«

»Ja.« Die geschwollenen Lippen blieben bewegungslos, als Ollowain antwortete. Sein Mund stand leicht offen. Goldenes Haar fiel seitlich über die Verbände. Elija wusste, dass Ganda einen guten Teil des Schädels kahl geschoren hatte, um die Wunden des Elfen besser zu versorgen. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie jedes einzelne der goldenen Haare verbrannt hatte, damit niemand sie für einen Schadenszauber gegen den Elfen verwenden konnte.

Elija klopfte auf die kleine Holzkiste. »Ich habe dir etwas mitgebracht, um deine einsamen Stunden zu verkürzen. Wie du weißt, sind wir ein Volk auf steter Wanderschaft. Wir besitzen nur wenig, denn unsere Lebensumstände erlauben uns nicht, mehr Güter anzuhäufen, als wir tragen können. Deshalb besitzt mein Volk auch so gut wie keine Bücher. Dieses hier ist eine der wenigen Ausnahmen.« Er öffnete den Deckel des Rosenholzkästchens. Das Buch darin war nicht einmal so groß wie eine Hand. In verblassten Goldbuchstaben stand der Titel auf dem schwarzen Ledereinband: EIN UNGESCHRIEBENES LEBEN.

Das Leder des Einbands war nicht abgegriffen. Nur die verblasste Schrift verriet das Alter, ansonsten wirkte das Buch ungelesen.

»Glaubst du, du kannst deine Hand heben? Es ist nicht sonderlich schwer. Ich hoffe, es kann dich ein wenig unterhalten.«

Ollowain drehte den Kopf leicht zur Seite. Er stöhnte. Ganz langsam hob er die rechte Hand.

»Kannst du es halten?« Vorsichtig nahm Elija das Buch aus dem Kistchen. Der Arm des Elfen war geschient, doch seine Hand sah, abgesehen von ein paar fast verheilten Schürfwunden, gut aus. Was für lange, schlanke Finger der Kerl hatte. Und seine Fingernägel waren so makellos, als würden sie jeden Tag von einer Dienerin gepflegt.

Der Schwertmeister zog den zweiten Arm auf seine Brust. Er bewegte sich ungelenk. Behutsam drückte ihm Elija das Buch in die Hände.

»Danke«, stieß der Elf mühsam hervor. Ollowain bereitete es ganz offensichtlich Mühe, seine Finger um das schmale Buch zu schließen, doch er beklagte sich nicht.

»Überanstrenge ich dich?«

»Nein ... du bist ... sehr freundlich.« Ein Lächeln lag in den Augen des Elfen.

Ungelenk klappte Ollowain das Buch auf.

»Nur weiße ... Seiten ...«, sagte er überrascht.

Elija wandte ängstlich den Blick ab. »Du musst zum Anfang des Buches blättern. Dann wird sich dir alles erschließen. Schlag die erste Seite auf.« Der Lutin drehte sich etwas zur Seite, sodass Ollowain ihm nicht ins Gesicht blicken konnte, und schloss die Augen. Er hörte das leise Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden. Dann erklang ein Seufzer. Darauf folgte Stille. Erst ein Poltern ermutigte ihn, die Augen wieder zu öffnen. Das Buch war dem Elfen aus den Händen gefallen.

Der Lutin hob es von den Holzdielen auf. Es war so dick, dass es nicht mehr in das Rosenholzkästchen passte. Er klappte es kurz auf. Die Seiten waren mit einer kleinen, sehr ordentlichen Handschrift dicht beschrieben. Er überflog flüchtig einige Zeilen. Es ging um eine Elfendame, die bei einem Festmahl zu Tode kam, weil sie sich den abgebrochenen Stiel eines Kristallglases ins Auge rammte. »Was für ein blutiges Leben du hattest«, murmelte Elija und schloss das Buch. Der Lutin betrachtete den Elfen. Die blauen Augen starrten ausdruckslos zur Zeltdecke. Ein dünner Speichelfaden troff Ollowain aus dem Mundwinkel.

Elija drückte ihm die Augenlider zu. »Hättest du nicht gedacht, auf diese Weise von uns zu gehen. Nicht gerade ein Heldentod.«

Dreizehn Kinder von edlem Blut

Alathaia legte das schwere Buch vor Emerelle auf den Tisch. Ihre selbstsichere Art war wie weggefegt. Sie blickte in die Schattenwinkel der kleinen Bücherkammer, in der sie sich getroffen hatten. »Einer von ihnen ist hier. Ich spüre ihn.« Die Königin nickte. Auch sie spürte die Gegenwart des Yingiz. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass die Schattenwesen sie ständig belauerten. Es waren mehr geworden in den letzten Monden. »Was hältst du von dem Buch?«

Alathaia strich über den schweren Buchdeckel. »Meliander war dein Bruder, nicht wahr? Darf ich trotzdem offen sprechen?«

»Die Lage ist zu ernst, um Zeit damit zu verschwenden, sich gegenseitig etwas vorzumachen.«

Die Fürstin nickte. »Ich halte ihn für wahnsinnig, obwohl er zweifellos seine klaren Momente hatte. Das Buch ist verwirrend. Ich habe es dreimal gelesen. Er widerspricht sich manchmal in dem, was er schreibt. Ich habe auch versucht, einiges zu überprüfen ... soweit das in meiner Macht stand.«

»Meister Alvias hat mir davon berichtet. Er ist alles andere als angetan von dir. Im ganzen Palast findet sich kein Diener mehr, der es wagt, deine Gemächer zu betreten. Er musste sie selbst säubern.« Emerelle dachte an die Dinge, die ihr Alvias erzählt hatte. Es war nicht leicht, den Hofmeister aus der Fassung zu bringen.

»Hat er sich wegen der Blutspritzer aufgeregt?« Alathaia lächelte kühl. »Ich hatte ihm geraten, den Boden und die Wände rot tünchen zu lassen. Gleich am ersten Abend, nachdem ich eingetroffen war. Damals hat er mich nicht ernst genommen. Aber dass ihm der Tod von ein paar schwarzen Widdern so nahe geht ...« Sie breitete die Hände aus. »Ich dachte, er hätte schon in Schlachten gekämpft. Da müsste er den Anblick von etwas Blut doch gewöhnt sein.«

»Ich glaube, ihm machte nicht die Tatsache zu schaffen, dass die Widder in deinen Gemächern zu Tode kamen, sondern viel eher die Art, wie sie starben.«

Alathaia lachte verächtlich. »Er sollte sich nicht so anstellen. Es war wesentlich unangenehmer, während ihres Todes anwesend zu sein, als die Fleischfetzen von den Wänden zu kratzen.«

Emerelle schluckte. Ihr lag eine Frage auf der Zunge, doch dann entschied sie, lieber nicht wissen zu wollen, was Alathaia getan hatte. »Du glaubst Meliander also nicht.«

»Wenn ich das täte, müsste ich verzagen. Er malt die Zukunft in den dunkelsten Farben aus. Dabei liegt der Sieg zum Greifen nahe.« Der Königin missfiel der Blick, mit dem Alathaia das Buch betrachtete. »Du weißt, was für ein Stein das ist?«

Die Fürstin von Langollion überging die Frage. »Wem hat dein Bruder den Albenstein abgenommen? Und warum hat er ihn zerstört? Ich weiß, der Stein beschützt das Buch, doch das ist zu viel Schutz. Es ist, als wolle eine Ameisenkönigin ihr Volk durch einen Löwen verteidigen lassen. Und dass er ihn zerstört hat ....« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss wahrlich wahnsinnig gewesen sein.«