Выбрать главу

»Er wollte uns auf etwas hinweisen. Es gibt unendlich viel mehr Zukünfte, als er in dem Buch beschreiben konnte. Und die Silberschüssel versteht sich darauf, stets nur die schlimmen Seiten zu zeigen.«

»Du meinst, wie der kleine Trollkönig dich nach seinem Sieg an der Shalyn Falah mit dem Kopf nach unten an den Zinnen deiner Burg aufhängt, um dir bei lebendigem Leib das Herz herauszuschneiden und es zu verspeisen.« Emerelle begegnete der Fürstin mit einem eisigen Lächeln. »Das ist die Art, wie sie einem Respekt erweisen. Skanga hofft, dass ihr Königswelpe dadurch einmal genauso tapfer werden wird, wie ich es bin.«

»Bist du wirklich so tapfer? Würdest du jeden Weg gehen?«

»Ich glaube, der Weg zum Sieg muss ein Weg sein, den mir mein Bruder nicht zugetraut hat. Ich muss etwas tun, das er für so unwahrscheinlich gehalten hat, dass er diesen Zweig der Zukunft erst gar nicht erforschte.«

Alathaia schüttelte den Kopf. »Hätte er das nicht einfach in sein Buch schreiben können? Warum so umständlich?«

»Weil er mich immer für etwas dickköpfig gehalten hat. Früher war ich berüchtigt dafür, gut gemeinte Ratschläge nicht anzunehmen und stets meinen eigenen Weg zu gehen. Das war lange bevor ich zum ersten Mal zur Königin gewählt wurde.«

Wehmütig dachte sie an die Nacht vor dem Drachenkampf. Falrach hatte ihr dringend von dem Gefecht abgeraten. Er hatte für ihre Unvernunft mit dem Leben bezahlt.

»Wenn wir den Albenstein wieder zusammenfügen«, fuhr die Königin fort, »dann können wir den zerstörten Albenpfad erneuern. Damit ist das Loch im Netz der Wege geschlossen. Das Netz, das die Yingiz zurückhält. Dann kann ich beginnen, die Schatten zu vertreiben. Und wenn das geglückt ist, werden die Trolle meine Macht zu spüren bekommen.«

»Warum vertreibst du die Yingiz nicht gleich? Du weißt, wie man sie besiegt?«

»Du musst weiter denken, Alathaia. Was geschieht, wenn einer von ihnen heulend ins Nichts zurückgeschleudert wird? Wird er nicht all seinen Gefährten berichten, dass ein Weg nach Albenmark offen steht? Bisher ahnen die Yingiz, die noch im Dunkel zwischen den Welten gefangen sind, nichts von dem Weg. Doch schicke ich nur einen von ihnen zurück, werden sie alle nach dem Fluchtweg aus ihrem Gefängnis suchen.«

»Dann töte sie!«

»Das vermochten nicht einmal die Alben. Keine Kraft Albenmarks kann das erreichen. Du weißt, was Meliander schreibt. Es gibt nur einen Weg der Hoffnung, und den kann kein Elf beschreiten. Kein Geschöpf Albenmarks würde die Wachen der Goldenen Hallen passieren können. Wenn du dort Hilfe suchst, musst du einem Menschen den Schierlingsbecher reichen. Einem ganz besonderen Menschen, der diesen Trunk freiwillig nimmt und der Aussichten hat, in den Goldenen Hallen Hilfe zu finden. Wer sollte das sein? Ein Held reinen Herzens ... Und bist du dir sicher, dass Meliander sich nicht irrt? Woher will er wissen, was nie erprobt wurde? Kein Albenkind hat die Goldenen Hallen je gesehen. Gibt es sie vielleicht nur in der Vorstellung der Menschen? Willst du das Schicksal der Welt auf solch eine vage Vermutung setzen?«

»Wenn du den Menschen nicht traust, welchen Weg würdest du gehen?«

»Den der Macht.« Emerelle fröstelte. Wäre sie einst wie Alathaia, wenn sie den Weg zu Ende ging, auf den das Schicksal sie Stück um Stück gezerrt hatte? Mit jedem Kompromiss hatte sie ein Stück ihrer Linie aufgeben müssen. Schleichend war ihr das eigene Weltbild entglitten.

»Du solltest den zweiten Albenstein für dich gewinnen«, meinte Alathaia. »Wenn die Gefahr durch die Yingiz gebannt ist, dann kannst du dich mit aller Kraft den Trollen widmen. Du darfst dich nicht zwischen diesen beiden Kriegen aufreiben. An keiner Front wirst du einen Sieg erringen, wenn du nur mit halber Kraft kämpfst.«

Emerelle betrachtete nachdenklich das Buch und die Steinfragmente, die wie Schmuck in den prächtigen Einband eingelassen waren. »Ich habe versucht, den Albenstein wieder zusammenzufügen, doch er widersetzt sich mir.«

»Du hast mich doch gerufen, damit ich dir helfe. Dann nimm meine Hilfe an. Ich habe in den letzten Wochen einige Zauber erprobt und bin sehr zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein können.« Sie lehnte sich zurück. Alathaia strahlte eine provozierende Selbstsicherheit aus. Sie war eine schöne Frau. Jede ihrer Gesten war sorgsam einstudiert. Sie wusste um ihre Wirkung, ihre Ausstrahlung. Wappnete sie sich gerade noch in einen Panzer aus Eis, der es unmöglich machte, ihr nahe zu kommen und ihre wahren Gefühle auch nur zu erahnen, so vermochte sie binnen eines Augenblicks eine völlig andere zu werden. Ein einladendes Lächeln, ein verheißungsvoller Blick, ein laszives Räkeln ... Mit ihr könnte man seine dunkelsten Sehnsüchte ausloten. Träume, die einen mitten in der Nacht schweißgebadet auffahren ließen und über deren Abgründe nie ein Wort über die Lippen drang ... Mit Alathaia konnte man sie Wirklichkeit werden lassen.

Emerelle hatte sich nie zu Frauen hingezogen gefühlt, doch selbst bei ihr blieb die sinnliche Ausstrahlung der Fürstin von Langollion nicht ohne Wirkung. »Du weißt also, wie man den Stein zusammenfügen kann.«

Kerzenlicht spiegelte sich auf den dunklen, granatfarbenen Lippen der Fürstin. »Dir wird nicht gefallen, was du zu hören bekommst, Emerelle. Und das liegt daran, dass unser Volk seit Jahrhunderten in seinen selbst gezogenen Grenzen gefangen ist. Wir sind erstarrt, unfähig, uns den neuen Zeiten anzupassen. Und deshalb werden wir untergehen, wenn du nicht den Mut hast, falsche moralische Schranken hinter dir zu lassen. Nur Blutmagie hat die Macht, den Albenstein wieder zusammenzufügen. Ich fordere von dir dreizehn Kinder von edlem Blut. Elfenkinder müssen es sein, geboren in den ältesten unserer Sippen. In ihnen brennt das Licht des Lebens am stärksten. Diese Kraft, richtig gelenkt, wird den Stein wieder in seine ursprüngliche Form zwingen.«

Emerelle spürte einen Stich in ihrem Herzen. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand an die Brust. Sie musste sich beherrschen! Was Alathaia forderte, war ungeheuerlich, aber es war kein Grund, sich derart gehen zu lassen. Obwohl sie diesen Gedanken in aller Klarheit zu fassen vermochte, stiegen ihr dennoch Tränen in die Augen.

Der Fürstin entging nichts. Emerelle fühlte sich nackt unter ihrem unbarmherzigen Blick. »Natürlich wirst du den Dolch führen müssen, der die Kehlen der Kinder durchtrennt, denn du besitzt den Albenstein. Du bist der Brennpunkt der magischen Macht. Es sei denn, du würdest mir den Albenstein anvertrauen.« Sie lächelte. »Aber mein Ruf lässt das vermutlich wenig empfehlenswert erscheinen.«

»Glaubst du wirklich, du könntest mich dazu bringen, Kinder zu töten?«

Alathaia hob eine Braue. »Glaubst du, du könntest dem entgehen? Du wirst Kinder töten, Emerelle. Die einzige Frage, die sich stellt, ist: Wie viele wirst du töten? Hast du den Mut, den Dolch selbst in die Hand zu nehmen? Kannst du es ertragen, ihr warmes Blut über deine Finger fließen zu spüren? Und wirst du ihren ersterbenden Blicken standhalten? Oder fliehst du in dein Gefängnis heuchlerischer Moral? Mit einem zweiten Albenstein können wir die Yingiz verbannen und einen schnellen Sieg gegen die Trolle erringen. Hast du nicht den Mut, diesen Weg zu beschreiten, dann wird es einen langen, blutigen Krieg geben. Und so wie es aussieht, werden die Trolle gewinnen. Natürlich kannst du deinem Gewissen sagen, du hättest deine Hände niemals in Blut getaucht. Die Wahrheit aber sieht anders aus. Deine Entscheidung wird hunderte, vielleicht sogar tausende Kinder das Leben kosten. Du weißt, was ein Krieg mit den Trollen bedeutet. Scharen von Flüchtlingen ... Es sind die Kinder, die als Erste sterben. Und wenn der Krieg vorüber ist? Werden die Trolle dann nicht versuchen, die Fürstenfamilien der Elfen auszulöschen? Von den Kindern, die ich fordere, um den Albenstein zusammenzufügen, wird auch dann keines überleben, wenn du nicht den Mut findest, sie zu töten.«

»Genug!«