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»Natürlich.« Jules seufzte. »Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich alles verstanden habe, was du gerade erzählt hast. Ich will dich nicht beleidigen. Aber die Sache mit diesem Luth ... das scheint mir alles sehr unausgegoren zu sein. Er webt also Fäden wie eine Spinne. Und manchmal durchtrennt er einen der Fäden, und dann stirbt ein Mensch. Aber wenn man die Fäden in einem Spinnennetz durchtrennt, dann kann sich dort keine Fliege mehr verfangen. Werden diese Fäden durchtrennt, dann schenkt man unzähligen Fliegen das Leben. Das passt doch nicht zusammen. Glaubst du, ein Gott hätte sich ein so unpassendes Beispiel ausgesucht? So etwas denken sich Menschen aus. Die Gedanken Tjureds sind immer klar und einfach und leicht zu verstehen. Daran erkennt man den einzigen Gott. Er braucht keine Träume, die man deuten muss. Er spricht zu mir. Ganz unmissverständlich. Was hätte er auch davon, wenn ich seine Worte nicht verstehe? Diese Sache mit den Träumen und den komplizierten Omen ... Also, ich glaube, all diese Dinge haben sich nur die Priester von Göttern ausgedacht, die es gar nicht gibt. Sie brauchen so etwas für den Fall, dass etwas schief läuft. Denn dann war es nicht der Gott, der sich geirrt hat, sondern ein Priester, der die Zeichen des Gottes falsch ausgelegt hat. Warum sollte Gott wollen, dass wir seine Botschaften nicht verstehen, wenn er sich schon die Mühe macht, mit uns zu sprechen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Ulrics Herz schlug jetzt schneller. Darüber hatte er sich auch schon einmal mit Gundar unterhalten, und er war so stolz, eine gute Antwort zu haben, dass seine Zunge über die vielen Worte stolperte, als es aus ihm heraussprudelte und er deshalb vor Aufregung stotterte. »Das ist so. Für die Götter sind wir wie Kinder. Wie ganz kleine Kinder. Sie wissen viel mehr über die Welt und das Leben als wir. Und sie gebrauchen manchmal Worte, die wir nicht in all ihren Bedeutungen begreifen. Meistens sind ihre Zeichen deutlich. Aber mitunter, wenn sie sehr in Gedanken sind, dann vergessen sie, dass sie zu Kindern reden. Dann kommen uns ihre Zeichen und Omen sehr sonderbar vor. Dann verstehen wir sie nicht, weil sie sich so sehr von uns unterscheiden.«

Jules nickte ernsthaft. »Also machen eure Götter Fehler.«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Was sollte das denn jetzt schon wieder? »Jeder macht Fehler.«

»Nein, Ulric. Es gehört zum Wesen der Menschen, Fehler zu machen. Tjured macht niemals einen Fehler, weil er ein Gott ist. Ich zweifle ja nicht einmal daran, dass es hier mächtige Geschöpfe geben mag, die ihr einfach Götter nennt. Aber sie sind es nicht. Sie sind grausam und spielen mit den Menschen, weil sie ihnen weit überlegen sind Tjured ist niemals grausam. Sein Herz ist voller Güte.«

So ein dahergelaufener Schwätzer!, dachte Ulric wütend. Was wusste er schon! »Luth ist auch ein gütiger. Gott.« Kaum waren die Worte heraus, da bereute sie der Junge schon. Es war dumm, den Fremden zu ärgern. Und er hatte ihn offensichtlich verärgert, auch wenn er es zu verbergen suchte. Etwas mit seinen Augen war geschehen. Ganz kurz nur. Sie schienen wie Abgründe, und Ulric fühlte sich wie ein Käfer unter dem Blick eines Riesen.

»Meine Worte werden dich vielleicht schmerzen, aber du hast es verdient, die Wahrheit zu sehen. Du hast einen wachen Verstand, Ulric. Ich werde ihn mit der Wahrheit erleuchten. Doch sei gewarnt, du wirst die Welt nie wieder so wie die anderen deines Volkes sehen. Dein Gott Luth ist ein schrecklicher Tyrann. Ein Wesen, nicht Mensch und nicht Himmlischer. Es gibt viele von seiner Art, und die Menschen haben viele Namen für sie. Man nennt sie flüsternd Dämonen oder Nachtmahre. Selbst die Elfen kennen diese Kreaturen und haben Angst vor ihnen. Dort heißen sie Yingiz. Sie können nicht in unsere Welt gelangen. Aber manchmal sind sie in unseren Träumen, oder sie schicken uns Botschaften. Dabei sinnen sie immer auf unser Verderben. Du glaubst, deine Götter holen ihre Helden in Goldene Hallen, die in der großen Dunkelheit liegen? Du irrst dich. Dort, wo du nach deinem Tod hingehen wirst, gibt es nur Dunkelheit. Allein Tjured kann uns erretten, denn er ist das Licht. Deine falschen Götter hingegen machen dich schon in deinem Leben zu ihren Sklaven. Sieh dir doch an, was Luth tut. Er webt deinen Schicksalsfaden. Er bestimmt jeden deiner Schritte im Voraus. Nicht einen Herzschlag lang in deinem ganzen Leben bist du frei. Was immer du tust, er hat es bestimmt. Ein Sklave ist frei im Vergleich zu dir. Kein menschlicher Herr kann ihn so gängeln, wie Luth seine Kinder gängelt, wenn er seinen Schicksalsfaden um ihr Sklavenhalsband legt und sie durch ihr jämmerliches Leben zerrt. Tjured hingegen schenkt uns die Freiheit. Er nutzt seine Macht als Gott so maßvoll, dass Zweifler leicht behaupten können, es gebe ihn nicht, denn sein Wirken hinterlässt kaum eine sichtbare Spur außer dem Glücksgefühl, das aus wahrer Freiheit erwächst. Ich entscheide in jedem Augenblick, wohin ich mein Leben lenke, aber ich trage auch die schwere Bürde zu wissen, dass ich ganz allein für meine Taten verantwortlich bin. Und sollte ich ein Schurke sein und klug genug, um meiner Strafe im Leben zu entgehen, so werde ich am Ende meiner Tage vor meinem Richter stehen, jenem stummen Beobachter, der um all meine Taten weiß. Und war mein Leben voller Licht, dann wird er mich im Licht aufgehen lassen. Haben meine Taten aber Dunkelheit in das Leben anderer gebracht, dann wird er mich verstoßen, und ich gelange in die Finsternis, wo die Yingiz, die Dämonen, die falschen Götter herrschen. Was hat mir Luth hingegen zu bieten? Eine Entschuldigung für jede meiner Taten, denn sie waren ja alle von ihm vorherbestimmt. Das ist ein Glaube für Schwächlinge, aber nicht für tapfere Männer. Du wirst das mit den Jahren verstehen. Du wirst die Lügen durchschauen, denn du bist klug. Es gibt nur einen Gott. Und wer klar denken kann, der wird dies schnell erkennen.«

»Also ...« Ulric zuckte verzweifelt mit den Schultern. Was der Fremde sagte, klang ja vernünftig. Jules war gut darin, schöne Worte zu machen. Doch das war das tägliche Brot von Priestern. Was er behauptete, konnte nicht die Wahrheit sein. Es durfte sie nicht sein! Er musste Luth verteidigen. Aber er wusste nicht, wie. Er stand vor Jules‘ Geschwätz wie ein Krieger vor einem mächtigen Schutzwall, in dem er keine Lücke entdecken konnte. Und während ihn von der hohen Mauerkrone die Feinde verspotteten, blieb ihm nichts, als hilflos sein Schwert zu heben. So gut er als Krieger auch sein mochte, in diesem Kampf konnte er unmöglich siegen. »Du hast Unrecht. Etwas ist falsch an den Dingen, die du sagst. Das fühle ich. Aber ich kann das nicht in Worte fassen wie ein Priester. Ich ... Ich wünschte, Gundar wäre hier. Er würde dir die richtigen Antworten geben können.«

»Du hast diesen Gundar sehr gemocht, nicht wahr?« Ulric war überrascht, dass Jules nicht aufbrauste. Stattdessen nickte der Tjuredpriester verständig.

»Alle mochten ihn«, bekräftigte der Junge. »Mein Vater hat immer gesagt, es sei im Dorf viel friedlicher geworden, nachdem Gundar zu uns gekommen sei. Dabei hat er gar nicht so viel getan. Er hat den Leuten zugehört, wenn sie kamen ...«

Ulric lächelte. Ganz deutlich hatte er den dicken alten Mann jetzt wieder vor Augen. Er vermisste ihn. Wenn Gundar noch hier wäre, dann gäbe es den Streit mit Eirik gewiss nicht. »Er hat eigentlich immer etwas gegessen, wenn man bei ihm war. Und auch wenn er zu Besuch kam ... Er sagte immer, wer den Mund voll hat, der kann die, die reden sollten, nicht vor der Zeit unterbrechen.«

Jules lachte leise. Es klang nicht spöttisch, sondern kam von Herzen. »Er ist also ein weiser Mann, dein Freund Gundar. Wenn er davon überzeugt ist, dass es einen Gott wie Luth gibt, dann sollte man das wohl nicht einfach abtun. Er wird wissen, woran er glaubt.«