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»Nein, Emerelle. So leicht lasse ich mir nicht den Mund verbieten. Ich gehöre nicht zu deinen Speichelleckern. Du wolltest herrschen. Seit Jahrhunderten klammerst du dich an den Thron von Albenmark und bist verliebt in die Macht, denn einen Mann hast du dir nicht mehr ins Bett geholt, wie man hört, seit du deinen Thron besitzt. Nun stehe zu deiner Liebe! Kämpfe um sie! Hast du nicht von dir gesagt, du seiest die erste Dienerin der Albenkinder? Waren es nicht deine Worte, dass aus deiner Herrschaft immer das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl deiner Untertanen entspringen sollte? Herrsche! Opfere dreizehn, um ungezählte Leben zu retten. Bekenne dich endlich zu dem, was du bist. Eine Herrscherin kann nicht nach dem Maß normaler Sterblicher gemessen werden.«

Emerelle richtete sich auf. Mit der Rechten stützte sie sich auf den Tisch auf, der zwischen ihnen stand. Sie hatte das Gefühl, dass jeden Augenblick ihre Beine unter ihr nachgeben könnten.

»Du hast die Erlaubnis, dich zurückzuziehen, Alathaia. Ich werde dir zu gegebener Zeit mitteilen, wie ich mich entschieden habe.«

Die Fürstin erhob sich und holte aus dem weiten Ärmel ihres Kleides eine kleine Pergamentrolle hervor. »Ich habe hier die Namen von dreißig Kindern niedergeschrieben, die in Frage kämen. Und bevor du sie jetzt zurückweist, denke daran, wie lang die Liste der Opfer werden wird, die ihr Leben geben mussten, weil du nicht bereit warst, mit deinen fragwürdigen Moralvorstellungen zu brechen. Ich glaube, der erste Name auf dieser Liste lautet Ollowain. Oder irre ich mich?«

»Wie kannst du es wagen ...«

»Meister Reilif hat mir einiges erzählt, bevor er nach Iskendria zurückkehrte. Er war sehr beeindruckt davon, wie du das Problem mit Ollowain gelöst hast. Nur über das Wie von Ollowains Tod war sich der Hüter des Wissens nicht im Klaren. Dazu sind die Gerüchte zu widersprüchlich. Ich glaube zwar, dass du durchaus auch auf Meuchler zurückgreifst, wenn es darum geht, deinen Willen als Herrscherin durchzusetzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer seiner Gefährten den Schwertmeister inmitten des Schlachtgetümmels am Mordstein hinterrücks erstochen hat. Auch wenn ein Schlachtfeld wohl der bestmögliche Ort ist, um einem Leben, das deiner Herrschaft zur Last wurde, ein schnelles Ende zu bereiten. Ich bin der Meinung, dass du subtiler vorgegangen bist. Leider habe ich Ollowain nie kennen gelernt. Aber alle, die ich von ihm reden hörte, waren sich einig, dass es nie einen Elfen gab, der die Tugenden der Ritterlichkeit so vollkommen verkörperte wie er. Wenn du es gewünscht hättest, dann hätte er gewiss von sich aus dafür Sorge getragen, die Schlacht am Mordstein nicht zu überleben. Du hast längst damit begonnen, die Grenzen des Kerkers deiner Moral auszuweiten. Mach dir nichts vor! Ich fordere dich nicht auf, den ersten Schritt zu tun. Es ist nur ein weiterer Schritt auf einem Weg, der dir schon lange vertraut ist.«

Emerelle hatte nicht länger die Kraft zu stehen. Sie ließ sich auf den Lehnstuhl am Tisch sinken. Auch ihre Tränen konnte sie nicht mehr zurückhalten. Unfähig, ein Wort zu sagen, sah sie Alathaia einfach nur an.

»Ich erwarte deine Entscheidung, Herrscherin.« Mit diesen Worten verließ die Fürstin von Langollion die kleine Bücherkammer.

Emerelle vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Nicht Alathaias Worte hatten ihr den Stich ins Herz versetzt. Es war Ollowain ... Sie spürte ihn nicht mehr. Er war nicht mehr da ... Er war ... verloschen. Der Tod hatte den Schwertmeister gefunden, wo immer er gewesen war. Er musste wohl seinen Verletzungen aus der Schlacht erlegen sein. Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, auch wenn es nicht ihre Hände gewesen waren, die den tödlichen Streich geführt hatten.

Oft schon hatte sie den Tod des wiedergeborenen Falrach erduldet. Doch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.

Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie die Pergamentrolle mit den Namen der Kinder, und sie dachte an Alathaias Worte. Die Fürstin hatte Recht. Emerelle hatte die Flüchtlingszüge in der Silberschale gesehen. All das Blut, das an ihren Händen haften würde.

Sehnsucht

Das Tier hatte ihn an den See gebracht, von dem aus die wunderbare Burg zu sehen war. Immer schneller konnte sich die Bestie bewegen. Sebastien vermochte nicht nachzuvollziehen, wie dies dem Tier gelang. War es die Kraft seiner Gedanken, die Landschaften verwischen ließ wie in einem Traum? Genügte es, an einen Ort nur zu denken, um ihn zu erreichen? Und warum kannte die Kreatur diese Welt so gut? So wie der Abt es verstanden hatte, hielt ein mächtiger Bannzauber die Schattengestalten aus der Welt der Elfen fern. Wie konnte das Tier dann so viel über diesen Ort wissen?

Er lauschte in sich hinein, doch der dunkle Teil ihrer verschmolzenen Seelen mochte ihm nicht antworten. Geschwätzig war das Tier nur, wenn es darum ging, andere zu quälen.

Die Burg mit ihren weißen Mauern und schlanken Türmen erhob sich hell gegen den grauen Herbsthimmel. Regenschauer zerwühlten den Spiegel des Sees. Ganz in der Nähe des Ufers hatte jemand bunte Steine ins Wasser gelegt. Sebastien hockte unter dem ausladenden Blätterdach zweier Linden. Obwohl er Regen nicht zu scheuen brauchte, hatte er aus alter Gewohnheit Zuflucht gesucht. Der Ort lud zum Verweilen ein. Und er erweckte eine fremde Sehnsucht. Etwas war bei der Burg. Das Tier fühlte sich zu ihr hingezogen und fürchtete sie zugleich. Seit sie miteinander verschmolzen waren, hatte Sebastien allein Hass und Hunger als die beherrschenden Gefühle der Schattengestalt kennen gelernt. Nun glaubte er Sehnsucht zu spüren.

»Du weißt nichts von meinen Gefühlen«, erklang die Stimme in seinen Gedanken, die so lange geschwiegen hatte. »Für einen Ordensbruder findest du erstaunlich viel Gefallen an jungen flachbrüstigen Weibsbildern. Du solltest einmal die Apsaras kennen lernen. Wassernymphen, so schön, dass dir die Seele brennt, wenn du sie siehst. Ich werde es genießen, sie mit dir gemeinsam zu töten und mich an deinen Qualen zu weiden.«

»Warum tust du all das?«, fragte Sebastien.

»Weil ich es kann.«

Das Bild der Burg verwischte. Die Landschaft zerschmolz. Doch Sebastien hatte das Gefühl, dass das Tier hierher zurückkehren würde. Etwas in der Burg lockte es.

Der Blick der Blinden

Erschöpft vergrub Ulric sein Gesicht in Halgards rotem Haar. Das Liebesspiel hatte ihm den Atem genommen. Jedes Mal, wenn sie beieinander lagen, liebten sie sich mit fast schmerzhafter Hingabe. Denn jedes Mal lag der Schatten des verfluchten Geschenks über ihnen. Und sie fürchteten, es könne das letzte Mal gewesen sein.

»Blut frisst nicht«, sagte Halgard leise.

Ulric dachte an den großen, alten Hund, mit dem ihrer beider Leben verbunden war. Er war stark. Er weigerte sich zu sterben. Mindestens siebzehn Jahre lebte er nun schon. Das war viel länger, als sie zu hoffen gewagt hatten. Aber nun wurde er von Tag zu Tag hinfälliger. Den Winter würde Blut wohl nicht überstehen, ganz gleich, wie trotzig er dem Tod auch entgegenbellte.

Ulric drückte Halgard enger an sich. Geistesabwesend spielte er mit ihrem Haar. »Woran denkst du?«

»Was glaubst du, warum die Götter uns die Fähigkeit gegeben haben, nicht jeden Gedanken auf unseren Lippen zu tragen?«

»Daran denkst du?« Halgard knuffte ihn mit dem Ellenbogen.

»Schelm!«

Ulric drehte sich, sodass er auf ihr lag, und sah ihr ins Gesicht. Blasse Sommersprossen umgaben ihre Nase. Ihre Lippen waren noch immer dunkel von den Blaubeeren, die er ihr mitgebracht hatte. Blau ... Er dachte an den Mann im blauen Mantel. Bruder Jules. Warum hatte er ihnen das angetan? Ein Hundeleben zu leben. Warum lud man Kindern einen so schrecklichen Fluch auf? »Ich dachte daran, wie blind jene sind, die schon immer sehen konnten«, sagte Halgard unvermittelt.

»Gefällt es meiner Hauspriesterin, in Rätseln zu sprechen?«

»Ich lasse halt nichts unversucht, um dir die Augen zu öffnen.« Sie sagte das in ernstem, fast barschem Tonfall.

»Habe ich dich beleidigt?«