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Ein ungeformtes Leben

Elija war überrascht, wie schwer Ganda das Schicksal des Elfen nahm. Man hatte ihr Klagen und Weinen im ganzen Lager gehört, als sie vom Ausflug mit Nikodemus und den anderen zurückgekehrt war. Ihre Tränen schienen nicht mehr versiegen zu wollen. Während er auf ihr Klagen gelauscht hatte, war Elija aufgegangen, welch eine wunderbare Gelegenheit Ollowains Zustand bot. Er hatte Nikodemus geschickt, um Ganda zu holen. Es wäre besser, wenn sie nicht in Hörweite des Elfen miteinander sprachen.

Elija hatte sich ein Stück von der Herde entfernt. Er stand bei einem alten Büffelschädel und blickte nach Norden. Ein dunkelgraues Wolkenband stand am Himmel. Die Narbe an seinem linken Arm zwickte. Der Winter würde in diesem Jahr früh kommen. Und er würde sehr hart werden.

Elija beobachtete, wie Ganda und Nikodemus durch das hohe Gras geschritten kamen. Die Lutin trug enge Hosen und ein helles Hemd, dazu eine knappe Weste. Sie sah gut aus in der Tracht ihres Volkes. In all den Jahren, die sie fort gewesen war, schien sie um keinen Tag gealtert zu sein. Es gab eine Zeit, da war er sehr verliebt in sie gewesen. Er würde nicht zulassen, dass diese Gefühle zurückkehrten. Er brauchte einen klaren Kopf. Die Welt war dabei, sich zu verändern. Bald schon wäre die Tyrannei der Elfen gebrochen. Er durfte sich nicht durch seine Gefühle ablenken lassen!

»Du hast mich zu dir befohlen.« Gandas Stimme klang ungewohnt rau.

»Nikodemus, lass uns bitte allein.« Er wartete, bis sein Bruder außer Hörweite war. Die Lutin hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren ganz rot von ihren Tränen.

»Es tut mir leid, dass der Elf dir solchen Kummer bereitet. Was ist mit ihm geschehen?«

»Seit wann kümmert dich das Schicksal eines Elfen?«

»Ach, Ganda! Er ist Teil meiner Herde. Ich muss wissen, was unter den Meinen geschieht. Vergiss unsere Streitereien für den Augenblick und erzähl mir einfach, was geschehen ist.«

Sie sah ihn misstrauisch an, doch dann war ihr Bedürfnis zu reden größer als ihre Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. »Ich dachte, es ginge ihm besser. Er war aufgewacht. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich wäre niemals mit Nikodemus fortgeritten, wenn ich geahnt hätte ...« Ihr stockte die Stimme. Tränen standen ihr in den Augen. »Ich ... Er war auf dem Weg der Besserung. Ich hätte nicht gehen dürfen.«

Elija legte ihr den Arm um die Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe, Ganda. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Bei einer so schweren Kopfverletzung darf man nicht erwarten, dass ... nichts zurückbleibt.«

»Aber er schien ganz genesen ...«

»Was ist denn nun mit ihm los?«

Ganda atmete schwer aus und trocknete ihre Tränen. »Er erinnert sich an nichts. Anfangs schien es sogar so, als höre er mich nicht einmal. Ich verstehe das nicht. Bevor ich davongeritten bin, habe ich mich noch mit ihm unterhalten.«

Wieder standen ihr Tränen in den Augen. Ihre weinerliche Art ärgerte Elija zunehmend. So war sie früher nicht gewesen!

»Aber jetzt spricht er?«

»Ja, aber nur stockend, als müsse er jedes einzelne Wort aus einem Kerker tief in seinem Gedächtnis befreien.« Elija spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er hatte gedacht, es bleibe nichts als die fleischliche Hülle zurück, wenn man in eines der Bücher Grobhäm Plogs blickte.

»Er weiß nicht mehr, wer er war. Er weiß auch nichts über die Welt. Er ist wie ein Kind. Wie ein Neugeborenes, nur dass er schon sprechen kann.«

Der Kommandeur kratzte sich hinter den Ohren. »Und was sagt er, wenn er redet?«

»Das ist es ja! Er erinnert sich an nichts. Nicht an seinen Namen oder seine Herkunft. Er weiß nicht, dass er mich schon einmal gesehen hat. Und es scheint ihm Angst zu machen, dass er nicht aussieht wie ich.« Elija musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. »Hast du ihm denn viel über seine Vergangenheit erzählt.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich das? Ich weiß kaum etwas über ihn.«

Elija sah sie mitleidig an, doch innerlich jubilierte er. Ein Elf, der alles Wissen über sich und die Ordnung der Welt vergessen hatte. Damit ließ sich einiges anfangen!

»Er ist wie tot«, sagte Ganda. »Als habe man ihm den Kopf abgeschnitten. Es gibt Ollowain nicht mehr. Alles, was von ihm geblieben ist, ist nur eine leere Hülle.«

»So darfst du nicht denken! Ich dachte, du liebst ihn ...«

Ganda sah ihn erschrocken an. Für einen Herzschlag wirkte sie wie ein kleines Mädchen, das man bei einem Streich ertappt hatte. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Ich sagte dir doch schon ...«

»Mach mir nichts vor, Ganda!«, schalt er sie. »Glaubst du, ich bin blind? Du hast so sehr um ihn gekämpft. Und nie habe ich eine Lutin so trauern sehen ... Er hat dir dein Herz gestohlen. Und nun ist seine Erinnerung auf und davon. Aber dein Gefühl ist noch da.« Sie schluckte, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor.

»Ganda, ich bin dein Freund. Siehst du denn nicht, was für ein Geschenk dir das Schicksal gemacht hat? Sag ihm nichts über seine Vergangenheit. Erzähle ihm nichts darüber, wie die Elfen sind. Kein Wort! Soll ich dir etwas über den Ollowain verraten, in den du dich verliebt hast? Er hätte deine Liebe niemals erwidern können, denn du bist nur eine Lutin. Er mag ein großartiger Kerl gewesen sein, aber seinen Hochmut gegenüber Kobolden hat er schon mit der Muttermilch aufgesogen. Er hätte niemals über seinen Schatten springen können. Aber all das gilt jetzt nicht mehr. Er ist frei. Wie ein unbeschriebenes Blatt. Wir können ihn so formen, wie wir uns die Elfen wünschen. Frei von Vorurteilen und Hochmut. Du kannst ihm vermitteln, wie die Welt ist. Dass niemand dazu geboren ist, eines anderen Diener zu sein. Ebenso wie niemand zum Herrscher geboren ist. Ergreife diese wunderbare Gelegenheit. Ich bin mir sicher, du wirst sein Herz wieder erobern ... Nein. Du wirst es zum ersten Mal erobern, denn nun sieht er in dir nur Ganda und nicht die Lutin, der man nicht trauen kann.«

Sie wirkte unschlüssig. »Betrüge ich ihn damit nicht?«

»Wie kannst du von Betrug reden? Du machst ihm ein Geschenk. Lass ihn erfahren, wie es ist, ohne Diener zu leben. Sobald er wieder bei Kräften ist, sollte er mit den Kindern zusammen den Dung der Hornschildechsen sammeln. Er sollte für sein Essen und seinen Schlafplatz arbeiten. Zieh ihn auf wie einen von uns.«

»Aber er ist doch keiner von uns.«

Elija lachte. »Ich glaube, zuerst musst du dich von deinen festgefahrenen Vorstellungen befreien. Du hast es immer noch nicht begriffen, Ganda. Er erinnert sich an nichts mehr. Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Ollowain ist tot. Du entscheidest, wer nun geboren wird.«

»Ist das nicht unrecht?«

»Ist es unrecht zu sein wie wir? Wenn du es nicht um deinetwillen tust, dann tue es für unsere Sache. Ein Elf, der denkt und fühlt wie ein Lutin! Und einer, dessen Wort unter den Seinen Gewicht hat. Auch wenn sein Verstand sich aufgelöst hat, sieht er ja noch immer aus wie Ollowain. Sie werden ihm zuhören, weil er ein Elf ist. Aus seinem Munde werden sie Wahrheiten akzeptieren, die wir niemals aussprechen dürften. Begreifst du, was für ein Geschenk er ist? Durch ihn werden die Schranken zwischen Herren und Dienern aufgebrochen. Ein Elf, der sich der Sache der Rotmützen verschrieben hat!« Er packte sie bei den Armen. »Ganda, sieh doch, was für einen Schatz wir in Händen halten!«

»Vielleicht bin ich zu traurig und zu erschöpft, um das Wunder erkennen zu können, das mir widerfahren ist«, sagte sie ruhig. »Du hast Recht, ich habe ihn geliebt. Gegen jede Vernunft.« Sie lächelte melancholisch. »So ist das wohl mit der Liebe. Eine Zeit lang habe ich ihn auch gehasst ...«