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Die Kentauren zogen sich zu dem abschüssigen Weg zurück, der hinauf in den Winter führte. Melvyn war froh, das Grab verlassen zu können. Er dachte wieder an den Flecken Büffelblut. Woher kam dieses Blut? Der Weihrauch kratzte ihm in der Kehle. Das Grab war zu gründlich ausgeräuchert worden, ganz so, als wolle man mit dem hellblauen Rauch einen anderen Duft überdecken.

»Melvyn, warte auf mich. Bleib hier im Grab!« Der Wolfself drehte sich überrascht um. Katander, der als Letzter in der Reihe der Kentauren ging, hatte die Worte ebenfalls gehört. Er sah zurück, und eine steile Zornesfalte klaffte zwischen seinen dichten Brauen. Dann ging er weiter und war bald hinter der Biegung des Grabtunnels verschwunden.

Nestheus stand neben Senthor. Der alte Kentaur hatte dem jungen Fürsten die Linke gereicht. Die Herzhand. Mit der Rechten hielt er den Speerschaft umfasst. Das Bronzeblatt zielte auf sein Herz. Die beiden sahen einander schweigend an. Die Lippen des Alten bewegten sich, doch er sprach so leise, dass Melvyn ihn nicht verstehen konnte.

Plötzlich ließ sich Senthor nach vorne kippen. Er stieß einen langen Seufzer aus. Einen Laut wie ein erleichtertes Ausatmen, als das Bronzeblatt des Speers in seiner Brust verschwand. Ströme dunklen Bluts spritzten aus der Wunde. Sie besprenkelten den weißen Kentaurenfürsten und rannen auch den Speerschaft hinab. Unter dem Sterbenden bildete sich eine rasch größer werdende Blutlache wie bei den anderen Waffenbrüdern, die ihren Fürsten auf dem Weg in die Dunkelheit gefolgt waren.

Es dauerte lange, bis der Blutstrom versiegte. Bis zuletzt hielt Nestheus die Hand des alten Kriegers. Endlich löste er seine Finger aus der Umklammerung des Toten. »Wir werden uns wieder sehen am Tag der letzten Schlacht. Es wird mir eine Ehre sein, Seite an Seite mit dir und meinem Vater zu fechten.«

Im verlassenen Grab klang der Hufschlag des Fürsten unnatürlich laut, als er auf Melvyn zukam. »Ich danke dir, dass du noch geblieben bist.«

Melvyn nickte knapp. Er war eigentlich nicht zimperlich, aber ihm wäre es lieber gewesen, nicht zum Zeugen dieses sinnlosen Todes zu werden.

Nestheus schien seine Gedanken zu erraten. »Nun hältst du uns für grausame Barbaren, nicht wahr?«

»Er war ein starker Krieger. Er hätte sicher noch viele Jahre zu leben gehabt.«

»Er hätte die Bitte meines Vaters nicht zurückweisen können. Es ist eine große Ehre, von seinem Fürsten eingeladen zu werden, ihm in den Tod zu folgen.«

»Was für eine Belohnung!«, sagte Melvyn wütend. »Zum Lohn für seine Treue mit dem Befehl zum Selbstmord beschenkt zu werden. Wirst du auch so ein Tyrann werden, nun, da du Fürst bist?«

Nestheus lächelte zynisch. »Keine Sorge, ich werde dich nicht hierher einladen, wenn meine Stunde naht. Und was meinen Vater angeht, glaube ich nicht, dass du ihn wirklich gekannt hast. Ihr mögt am Mordstein und anderswo zusammen gekämpft haben, aber seiner Seele bist du dabei nicht nahe gekommen.«

»In der Tat nicht! Dass er dir Mörder auf den Hals hetzt, hätte ich niemals für möglich gehalten. In den letzten Monden habe ich vieles über dein Volk gelernt. Ich begreife jetzt, warum die Elfen die Nase über euch rümpfen.«

»So, du begreifst ...«, sagte Nestheus traurig. »Ich glaube nicht. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen, das dieses Grab nicht verlassen darf. Ein Geheimnis, das ich nicht einmal mit meinem Weib geteilt habe, obwohl ich glaube, dass sie die Wahrheit ahnt. Mein Vater war ein Mistkerl, aber einer, der sein Herz am rechten Fleck trug. Er war besessen von der Idee, dass alle Kentauren unter der Führung eines Kriegsherrn kämpfen sollten. Die endlosen Fehden zwischen unseren Stämmen, die Viehdiebstähle, die Blutrache und die ständigen Scharmützel mit den Uttikern, all das schwächt unser Volk. Seit Phylangan war ihm klar, welche Gefahr die Trolle darstellen. Und er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie nach Süden wanderten. Sie sind zu viele für die Snaiwamark. Und sie brauchen das Fleisch unserer Herden. Bisher haben sie nur die Lutin geschickt und für unser Fleisch gezahlt. Aber wie lange kann das gut gehen? Wir müssen stark sein. Wenn wir nicht zusammenstehen, dann werden sie uns Stamm um Stamm auslöschen. Als Katander ihm anbot, seine Tochter Elena mit mir zu vermählen, wusste er, dass all seine Pläne zunichte gemacht wurden. Er konnte das Angebot nicht einfach ablehnen, ohne Katander zu brüskieren. Dass ich statt Elena ein Weib heiraten würde, hinter dem kein mächtiger Stamm steht, hätte er niemals begriffen. Und mein Vater kannte mich so gut, dass er wusste, wie entschieden ich mich gegen eine Hochzeit wehren würde. Du hältst uns für Barbaren, Melvyn, aber wusstest du, dass mein Vater ein begeisterter Falrach-Spieler war? Zuletzt hat er sogar aus seinem Leben ein Falrach-Spiel und uns zu seinen Spielfiguren gemacht. Erinnerst du dich, wie verwundert du warst, dass Artaxas mit uns zum Fest kam? Mein Vater hatte ihn bestochen. Der Lamassu hat sich seinen Dienst sehr gut belohnen lassen. Nichts war dem Zufall überlassen. Auch nicht der Eid, den mein Vater ablegte. Indem er sich vor hunderten Zeugen zu einem tagelangen Trinkgelage verpflichtete, verschaffte er Kirta und mir einen Vorsprung. Und zumindest die ehrenhaften unter den Kentaurenkriegern konnten das Trinkgelage nicht einfach verlassen. Damit hätten sie den toten Ollowain und auch meinen Vater beleidigt. Mein Vater aber hatte noch etwas getan.« Der weiße Kentaurenfürst lächelte. »Er hatte einen Schutzgeist für Kirta und mich beschworen. Schon von der ersten Stunde unserer Flucht an fühlte ich mich immer wieder beobachtet. Du kennst das Gefühl? Etwas scheint in deinen Nacken zu stechen. Du weißt ganz sicher, irgendwo hinter dir ist ein lauerndes Paar Augen. So ging es über Wochen. Und dann kam der Tag, an dem uns die Verfemten stellten. Es war ein mörderischer Kampf. Sie waren genauso verzweifelt wie wir. Das Gold meines Vaters sicherte den Ausgestoßenen eine Zukunft. Kirta war an meiner Seite. Ich sah den Schwertstoß, der auf ihr Herz zielte. Meine Waffe war gebunden durch einen Fischspeer. Drei von fünf Gegnern hatten wir überwunden, doch der Tod war ihr gewiss. Da durchschlug mit einem widerlichen Knacken ein Pfeil den Kopf des Kriegers, der sie beinahe getötet hätte, und sie trug nur eine leichte Schnittwunde davon. Ich bezwang den letzten Gegner. Und da sahen wir ihn, unseren Retter. Eine Gestalt ganz in Weiß zwischen tief verschneiten Birken. Ein Elf. Einen Wimperschlag nur sahen wir einander an. Dann verschwand er. Doch ich wusste, dass er weiterhin in unserer Nähe war. Er war es, der uns vor zehn Tagen die Nachricht vom Tod meines Vaters brachte. Wir hatten Zuflucht bei Kirtas Sippe gefunden. Mein Vater hatte Fingayn angeheuert, einen Jäger aus dem Volk der Maurawan, der selbst unter den Seinen eine Legende ist. Er erzählte mir, was ich so lange schon geahnt hatte. Vom Tag des Streites auf dem Hügel an war er uns gefolgt. Er hatte uns beschützt. Doch nun ging er einer neuen Schlacht entgegen. Wohin ihn sein Weg führte, wollte er nicht sagen.«

Melvyn schüttelte den Kopf. »Was ist das für ein Irrsinn? Dein Vater setzt einen Preis auf deinen Kopf aus und heuert gleichzeitig einen berühmten Bogenschützen an, um dich zu beschützen? Das ist doch vollkommen verrückt!«

»Das ist die Logik der Macht. Mein Vater kannte sein Volk. Er wusste, wie viele mit dem Herzen auf meiner Seite sein würden. Der einzelne Krieger, der sich mit seiner Geliebten dem Winter in der Steppe stellte, verfolgt von grausamen Jägern. Das klang wie eines unserer Märchen. Selbst den ärmsten Viehhirten bedeutete es mehr, uns einen Abend lang als Gäste an ihrem Feuer zu bewirten, als das Gold meines Vaters zu nehmen. Orimedes wusste, dass mein Fürstentum gestärkt würde durch seine Inszenierung. Du hast selbst gesehen, wie sogar Katander auf meine Seite übergetreten ist. Mit seinem Tod hat sich der Traum meines Vaters erfüllt. Alle Stämme der Kentauren werden von einem einzigen Kriegsherrn geführt.«

Melvyn dachte über die Geschichte nach. Ihm missfiel die Vorstellung, wie ein ganzes Volk getäuscht wurde. Wie ihre Gefühle entflammt wurden und dass man mit ihrer Liebe und Treue Intrigenspiele trieb. »Was du mir gerade erzählt hast, werde ich in diesem Grab zurücklassen. Nur eine Frage habe ich noch. Wie viel wusstest du davon?«