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Alles, was einen ehrenhaften Herrscher ausmacht, war von ihm abgefallen. Doch in jener stürmischen Nacht war ich froh, dass er das Tor zur Nachtzinne öffnete und allen Zuflucht vor dem Wüten des Winters gab, denn für das Wüten in seinem Herzen blieb ich blind, bis es zu spät war, das Verhängnis abzuwenden....

Aus: Der Blick des Falken, s. 1304,
Die Lebenserinnerungen von Fenryl, Graf von Rosenberg

Der Weg der Gräber

Er flog mit Leylin hoch am Himmel. Die Sonne schien zum Greifen nahe. Wie ein grünes Meer wogten die Frühlingsweiden des Windlands unter ihnen. Er lachte, Eisfeder und Wolkentaucher schrieen ihre Freude in das weite Blau. Leylin rief seinen Namen. Plötzlich war sie verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen war der Himmel mit Sturmwolken bedeckt. Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er rief seine Liebste. Der böige Wind zupfte an Wolkentauchers Gefieder. Seine Flügel schlugen unregelmäßig. Unstet flatternd glitt er in weiten Kreisen den Bergen unter ihnen entgegen. Etwas spritzte Melvyn ins Gesicht. Blut! Im linken Auge des Adlers steckte ein Pfeil! Er starb! Wer hatte sie angegriffen? Plötzlich füllte ein Gesicht, verdeckt von einer weißen Maske, den ganzen Himmel aus.

Melvyn schrak hoch. Er war schweißgebadet. Seine Augen ... Er war gefangen in Finsternis. Er hatte die Augen doch offen? Da war etwas auf seinem Gesicht! Er wollte die Arme heben. Etwas stimmte nicht mit seinen Händen! Sie waren ... Die Finger. Wo waren seine Finger? Alles war ganz taub. Und da war immer noch das seltsam flatternde Geräusch.

»Ich glaube, er ist wach«, flüsterte eine vertraute Stimme. »Er hat uns reich gemacht, unser Hauptmann. Wir wussten doch, dass ihn nichts umhaut. Der kommt wieder hoch.«

Melvyn versuchte sich zu erinnern, woher er die Stimme kannte. Wo war er hier? Was war ... Die Gestalt mit der weißen Maske! Nie hatte er gegen einen so wendigen und geschickten Krieger gekämpft.

»Bin ich tot?«

»Nein, nein, Hauptmann. Dann hätten wir ja verloren. Es wäre sehr nett, wenn du wieder so richtig auf die Beine kämst, dann verdoppelt sich unser Gewinn nämlich, vorausgesetzt, du schaffst es innerhalb von zehn Tagen, nachdem du zu dir gekommen bist, dein Krankenlager zu verlassen.«

»Misht?« Melvyn hob die Arme an, um nach seinem Gesicht zu tasten. Sengender Schmerz meldete sich in seiner Schulter. Er biss die Zähne zusammen. Er spürte das Gewicht seiner Hände auf seinem Gesicht, aber mit den Fingern konnte er nichts ertasten. Es war, als seien sie gar nicht da!

»Das solltest du nicht tun, Hauptmann!«

»Was ist mit mir passiert?«

»Wir hatten gehofft, dass du uns das erzählen könntest«, antwortete der Kobold. »Du warst auf dem Leichenschmaus für Orimedes irgendwann verschwunden. Als man dich gefunden hat, hast du ausgesehen, als hätte ein ganzer Minotaurenclan eine Nacht lang einen seiner seltsamen Hüpftänze auf dir veranstaltet. Ein Arm war ausgekugelt und obendrein noch gebrochen, du warst fast erfroren, und dein Gesicht .... Reden wir lieber nicht darüber.«

»Was ist damit?«, herrschte ihn Melvyn an.

»Wirklich, Hauptmann ... Manche Dinge muss man nicht wissen.«

»Du wirst mir jetzt den verdammten Verband abnehmen und mir sagen, was mit meinen Fingern ist.«

»Das darf ich nicht. Und deine Finger ... Tja, die wirst du ... Wie soll ich sagen ... Es ist gut, dass du mit den Krallen in deinen Armschienen kämpfst. Du wirst Schwierigkeiten haben, etwas zu halten.«

Melvyn schnappte nach Luft. »Sind sie ... Hat er mir die Hände abgeschnitten?«

»Nein!« Man hörte Mishts Stimme die Verwunderung an.

»Also wie kommst du denn darauf? Deine Armschienen sind fort. Wer immer dich so zu zugerichtet hat, war ein ziemlicher Metzger. Er hat sich recht ungeschickt dabei angestellt, dir die Armschienen abzunehmen. Er hat sie mit einem Messer abgeschnitten und dabei ein ziemliches Gemetzel an deinen Unterarmen und Händen angerichtet. Es ist alles zerschnitten: Adern, Sehnen, Muskeln, Nerven. Aber Artaxas hat es wieder gerichtet. Er war ziemlich teuer, der Mistkerl. Hat einen Anteil an unseren Wettgewinnen gefordert. Er musste wohl allen möglichen Kram kaufen. Krötenfett und anderes Dreckzeug, das Heiler so brauchen ... Egal! Er sagt, du wirst wieder greifen können. Und er meint, dass du ein ziemliches Glückskind bist. Das fand die Heilerin auch, die er zwischendurch angeschleppt hatte. War ganz hin und weg, die Gute.« Der Kobold lachte. »Selbst wenn du bewusstlos bist, liegen dir die Weiber zu Füßen. So gut müssten wir es auch mal haben. Bei uns ist es genau anders herum. Da müssen die Weiber bewusstlos sein, damit sie uns zu Füßen liegen.« Melvyn versuchte sich aufzurichten, gab es aber sofort wieder auf, als sich erneut der stechende Schmerz in seiner Schulter meldete. Jetzt erklang wieder das flatternde Geräusch. Kurz, abgehackt. Wie das hilflose Flattern eines Vogels mit einem gebrochenen Flügel.

»Ich kann nicht erkennen, welch ein Glück ich gehabt haben sollte.«

»Das hat mit der Kälte zu tun. Du bist zwar fast erfroren, aber deshalb haben deine Wunden an den Armen nicht so stark geblutet. Hab nicht alles behalten, was die sich da erzählt haben. Irgendwas hat sich bei dir zusammengezogen. Die Schnitte, die Adern ... Wäre das nicht gewesen, wärst du wohl ausgelaufen wie ‚ne angeschlagene Weinamphore. Leider hattest du ein paar Erfrierungen, zusammen mit der Prellung sahst du aus, als hätte man dein Gesicht über ‚ne Farbpalette gerieben. Du hast...«

»Danke, es reicht.«

»Du hast es doch wissen wollen«, entrüstete sich Misht. »Ich hätte dir das niemals erzählt. Aus einer Sache werde ich allerdings nicht schlau. Der Kerl, der dich niedergemacht hat, der hat dir sein Schwert mit der Breitseite gegen den Kopf gehauen. Muss ein Schlag gewesen sein, der einen Büffel von den Beinen geholt hätte. Hätte er die Klinge nur ein wenig gedreht und mit der Schneide auf dich eingeschlagen, dann hätten wir dich neben Orimedes in diesen Hügel legen können. Du ...«

Melvyn hörte nicht mehr zu. Der Grabhügel! Damit hatte es angefangen. Das Büffelblut. Und das viele Büffelfleisch, das die Lutin an die Gäste des Begräbnisses verschenkt hatten. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. »Wo steckt Nestheus? Ich muss ihn sofort sprechen. Und mach mir den albernen Verband vom Kopf! Ich will sehen, wo ich bin!«

»Na, kaum bei Bewusstsein und schon wieder große Töne spucken, Hauptmann!«, ertönte ein tiefer Bass. »Das haben wir gerne.«

»Artaxas?«

Gleißendes Licht stach in Melvyns Augen. Verschwommen nahm er das bärtige Gesicht des Lamassu wahr. Der Kerl grinste gehässig. »Na, das tut gut, was?«

»Hol mir Nestheus!« Melvyn hielt die Augen zusammengekniffen.

»So, so, du hast also lieber einen Pferdearsch am Bett stehen als einen Stierarsch. Damit, dass du dich bedanken würdest, hatte ich ja nicht gerechnet. Aber das ist schon ein starkes Stück. Dein Rösslein ist vor der Stadt Kentauren scheuchen.«

»Vor der Stadt?« Er riss die Augen auf. Jetzt erkannte er eine rissige Lehmwand. Und ein Fenster, vor das eine gelbe Plane gespannt war, die nur wenig Licht hindurchließ. An einem Ende hatte sich die Verschnürung gelöst, und der Stoff machte ein flatterndes Geräusch, wenn sich der Wind darunter verfing. Es war nicht sehr hell in der Kammer. Dennoch schmerzten seine Augen, als wäre er aus einer Höhle in grelles Mittagslicht getreten. »Es stand wohl ziemlich schlecht um mich«, sagte er kleinlaut.

»Ziemlich schlecht ist ziemlich untertrieben. Dein geschäftstüchtiger Koboldfreund hat mit dem halben Heer gewettet, dass du überleben würdest. Zuletzt stand die Quote achtzehn zu eins gegen dich. Wenn du dich jetzt freundlicherweise bequemen würdest, in zehn Tagen wieder auf die Beine zu kommen, um damit den Gewinn noch einmal zu verdoppeln, werden sie eine mittelgroße Stadt plündern müssen, um ihre Wettschulden zu bezahlen. Ach ja ... Wir sind in Talsin. Noch, denn alles, was Beine hat, verlässt die Stadt, und auch wir werden morgen weiterziehen.«