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»Ach, das ist nichts«, winkte Ulric ab.

»Bitte! Aus so einer kleinen Wunde kann Übles erwachsen, wenn man sie nicht säubert. Ich will dich doch beschenken und nicht umbringen.«

Unwillig streckte der Junge Jules die Hand entgegen. Es war überflüssig, so viel Aufhebens darum zu machen. Aber sollte der Priester nur seinen Willen haben. Ulric schämte sich auch dafür, so gierig nach dem Spielzeug gegriffen zu haben. Das war sonst gar nicht seine Art.

Jules holte ein weißes Tüchlein aus der Tasche und tupfte damit die Wunde ab. Es war nur ein feiner Schnitt inmitten seiner Handfläche. Ein Kratzer, nichts von Bedeutung. Doch der Priester runzelte die Stirn. Er schob das Tüchlein wieder in seine Tasche zurück. »Du darfst an dieser Wunde nicht herumspielen. Reiß dir nicht die Kruste ab, wenn der Schnitt verheilt. Am besten wäre es, wenn du mir gestattest, dir einen strammen Verband anzulegen. Du solltest die Hand schonen.«

»Wegen der Kleinigkeit?« Ulric lachte und zog die Hand zurück. »Ich weiß ja nicht, wie es mit den Kindern in deiner Heimat ist, aber ich bin nicht so eine Memme. Das ist doch gar nichts!«

»Tu meine Worte nicht einfach ab. Streck die Hand noch einmal vor. Ich muss dir etwas zeigen.« Ulric gehorchte, auch wenn er das Verhalten des Priesters äußerst merkwürdig fand.

»Siehst du die feinen Linien in deiner Hand? Jede von ihnen hat eine Bedeutung. Dies hier ist deine Lebenslinie. Der Kratzer hat sie zerteilt. Wenn eine Narbe zurückbleiben würde, dann wäre das schlimm.« Er fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Linien der Handfläche. »Lass mich bitte auch deine andere Hand sehen. Halt sie nebeneinander. Ja, so ist es gut.«

»Und, was steht dort?«, fragte Ulric neugierig.

Der Priester blickte auf, und feiner Spott funkelte in seinen Augen. »Glaubst du nun, dass du mich dabei erwischt hast, dass ich Unsinn erzähle?«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte der Junge ehrlich überrascht.

»Nun, eben habe ich dir noch erzählt, dass unser Leben nicht vorherbestimmt ist, und nun lese ich in den Linien deiner Hand, was dir die Zukunft wohl bringen mag. Aber das ist nicht so, wie es scheint. Stell dir eine Kiste vor, in der alle möglichen Dinge aufbewahrt werden. Ein Schwert, ein Webrahmen und eine Spindel, vielleicht auch eine Harfe. Die Kiste ist noch verschlossen, doch jemand hat sich die Mühe gemacht, Runen in das Holz zu ritzen. Sie verraten, was alles in der Kiste verwahrt ist. So ist es mit den Handlinien. Sie erzählen mir davon, was dein Leben bringen mag. Und ich kann an deinen Händen auch erkennen, was du schon getan hast.«

Er deutete auf die Schwielen an Ulrics rechter Hand. »Hier erkenne ich, dass du fleißig mit einer Waffe geübt hast. Vermutlich mit einem Holzschwert. Hättest du mit einer Hacke auf dem Feld gearbeitet oder einem Handwerker geholfen, dann hättest du an beiden Händen Schwielen. Aber kommen wir auf die Truhe zurück. Es liegt bei dir, sie zu öffnen. Je nachdem, was du herausholst, wird dein Leben einen anderen Weg nehmen. Und diese Entscheidung liegt allein bei dir.«

»Du solltest nicht so in Luths Schrein reden«, sagte Ulric ernst. Langsam überkam ihn der Verdacht, dass der Priester sich vorgenommen hatte, ihm seinen Glauben zu stehlen. Doch so weit würde er es nicht kommen lassen. Er war schließlich nicht dumm! Ob auch die Holzpuppen zu diesem Plan gehörten? Misstrauisch musterte er sie. Auf dem hellen Holz der Kriegerpuppe prangten zwei helle Blutflecken. Auch das kleine, schimmernde Schwert des Kriegers war blutverschmiert. Hatte Luth ihm ein Omen geschickt? Ulric war sich sicher, dass er ein Krieger werden würde. Er betrachtete seine Hände. Er sang auch ganz gern ... Aber Spindel und Webrahmen? Das war Weiberkram! Er sollte Jules‘ Worte schnell vergessen. Seine Hände waren keine Kiste! Und sein Lebensweg war längst von Luth bestimmt. Der Gedanke daran beruhigte ihn. So gesehen war es ganz egal, was Jules erzählte. Die Worte des Priesters würden seine Zukunft nicht verändern. Sie war schon längst festgelegt.

Vorsichtig hob Ulric die Puppen auf. Neugierig drehte er sie in den Händen. Ganz gleich, was Jules sagte: Sie waren wunderschön. Daran gab es keinen Zweifel. Im Rücken der Kriegerfigur entdeckte er einen feinen Spalt, so als sei das Holz dort gerissen.

»Hab ich sie kaputtgemacht?«

»Nein«, beruhigte ihn der Priester. »Dort gibt es eine Klappe. Wenn du am linken Arm drehst, öffnet sie sich. Dort ist noch ein Geschenk für dich. Auch in Halgards Puppe verbirgt sich noch ein Geschenk. Öffne die Geheimfächer aber noch nicht jetzt.«

»Warum?«

»Wenn du findest, was ich dort verborgen habe, wirst du mir eine dringende Frage stellen wollen. Es ist aber wichtig, dass du die Antwort ohne mich findest.« Jules erhob sich und zog seinen Umhang vor der Brust zusammen. »Am besten wartest du bis morgen früh, damit du dir meine kleine Überraschung bei Tageslicht genau ansehen kannst. Du und Halgard, ihr solltet gemeinsam die Puppen öffnen.«

Ulric drehte seine Puppe hin und her. Dann klemmte er den Daumennagel in den Spalt im Rücken, doch das Geheimfach öffnete sich nicht. »Vielleicht komme ich dich ja morgen früh fragen?«

»Dann werde ich nicht mehr hier sein.«

»Du kannst doch nicht in der Nacht durch den Schneesturm gehen! Du würdest dich verlaufen. Und die Kälte wird dich umbringen.«

Jules strich ihm durch das Haar. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, auch wenn ich nur ein seltsamer Fremder bin. Ich muss in dieser Nacht noch ein weites Stück Weg zurücklegen. Ich kann es mir nicht erlauben, jetzt zu ruhen.« Er lächelte. »Und sei ehrlich, mein kleiner Freund. Du wirst doch erleichtert sein, wenn du dir meine schlauen Reden nicht länger anhören musst.«

Ulric wollte protestieren, doch Jules legte einen Finger an seine Lippen und gebot ihm zu schweigen. »Sag nichts. Ich weiß, was in dir vorgeht. Du hast einen rebellischen, wachen Verstand, so wie ich. Ich wünsche dir Glück, mein Junge. Und ganz gleich, für welchen Lebensweg du dich entscheiden wirst, du wirst ein bedeutender Mann werden, dessen Namen auch in hundert Jahren noch jedes Kind im Fjordland kennen wird. Davon bin ich überzeugt.«

Eine unsterbliche Seele

Skanga war zu Tode erschöpft. Ängstlich beobachtete sie Branbarts Aura. Der Trollkönig kauerte zu ihren Füßen; er wimmerte leise vor sich hin wie ein geprügelter Welpe. Das kalte Blau der Angst und das helle Rot kaum gezügelter Wut mischten sich zu einem purpurnen Licht, das pulsierend seinen Körper umfloss.

Mit fahriger Geste strich sich die alte Schamanin über die Stirn. Pochender Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr magisches Auge, das wohl verborgen hinter dem Stirnknochen saß, brannte wie weiße Glut und ließ sie den anderen, dumpfen Schmerz ihrer gebrochenen Rippen vergessen.

»Gib auf, altes Weib«, wisperte die Stimme in ihrem Kopf. »Ich verspreche dir ein rasches Ende all deiner Qualen. Deine Zeit ist um, Skanga

»Schweig!«, fauchte sie, ließ ihren Knochenstab fallen und umklammerte mit beiden Händen die Schläfen. Es war eine Geste, die all ihre Hilflosigkeit offenbarte. Einer anderen Stimme mochte man sich verschließen, wenn man die Hände nur fest genug auf die Ohren presste. Doch dieser Flüsterer war in ihrem Kopf. Gegen den Yingiz konnte sie sich nicht wehren.

»Es wird mir eine Freude sein, dein Lebenslicht zu trinken. Meine Brüder gieren nach der Kraft deines Königs. Er hätte noch viele Jahre zu leben gehabt, wenn du ihn nicht hierher gebracht hättest, Weib. Aber ich will dich. Ganz langsam werde ich dir das Leben rauben. Ich werde mich weiden an deinem Entsetzen und es genießen, wie du dich sinnlos gegen das Unvermeidbare aufbäumst. Du wirst bis ganz zum Schluss kämpfen, nicht wahr?« Ein Hauch von Bewunderung schwang in der Stimme des Yingiz mit. Skanga spürte deutlich den Schattenleib, der jenseits des magischen Kokons im Dunkel lauerte. »Du kannst nicht aufgeben, nicht wahr? Wie hast du es ertragen, dass Emerelle dein Volk besiegt und vertrieben hat? Die Wut über deine Niederlage hat dich gewiss fast wahnsinnig gemacht