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Sie betrachtete die Steine der Königin und der Magierin. Sie und Alathaia. Seit Wochen verharrten sie bewegungslos in der Burg. Abseits des Tisches stand die Figur des Feldherrn. Erst als ihr Herz ihr sagte, dass Ollowain gestorben war, hatte sie den weißen Feldherrn aus dem Spiel genommen. Sie musste den Posten neu besetzen. Ihr Heer brauchte einen Kommandanten. Aber wer taugte dazu? Caileen hatte gegen sie rebelliert und musste sich erst bewähren. Melvyn hatte sie noch nie gesehen. Sie wusste, dass er unter den Kentauren und auch bei anderen Verbündeten beliebt war. Aber würden die Elfen ihm in die Schlacht folgen? Würden sie von einem jungen Krieger, der in einer Wolfshöhle aufgewachsen war, Befehle annehmen? Wohl nicht ...

Elodrin wäre eine gute Wahl. Er war kalt wie Eis, aber als Stratege hatte er seine Vorzüge. Hätte nicht auch er gegen sie rebelliert, dann wäre er ihre erste Wahl.

Die Tür zum Falrach-Zimmer öffnete sich. Alvias verneigte sich. »Eleborn, der Fürst unter den Wogen, Herrin.«

Würde Alvias als Heerführer taugen? Er war klug und loyal, das stand außer Frage. Aber konnte er ein Heer befehligen?

»Danke«, antwortete sie geistesabwesend.

Alvias zog sich zurück, und eine hochgewachsene Gestalt trat in das Zimmer. Der salzige Duft einer Seebrise eilte dem Fürsten voraus. Der weißhaarige Wassermann trug einen altertümlichen Wickelrock und einen mit langen Fransen besetzten Umhang. Das breite Kreuz, der harte, ozeangrüne Blick, alles an ihm strahlte Kraft aus.

Der Fürst unter den Wogen kniete vor ihr nieder. »Ich bitte dich um Verzeihung, Herrin.«

Emerelle winkte ärgerlich ab. »Keine Entschuldigungen und keine Förmlichkeiten. Lass uns von gleich zu gleich sprechen.«

Sie deutete auf das Falrach-Brett. »Die Lage ist sehr ernst, Fürst. Ich brauche jedes Schwert, das ich bekommen kann. Talsin ist vor wenigen Stunden an die Trolle gefallen. Sie waren wieder einmal schneller, als wir erwartet hatten.«

»Ich bedauere, so lange auf den alten Verträgen beharrt zu haben und blind für die Wirklichkeit gewesen zu sein. Meine Kinder haben dafür bluten müssen.« Eleborn trat an den Falrach-Tisch. Er musterte das Spiel, dann griff er nach dem schwarzen Schiff. »Ich habe nur wenige Krieger, die an Land kämpfen können. Viele Schwerter können wir dir nicht bringen.« Er blickte über die Dutzenden von Trollfiguren, die sich in einem Keil auf die dünne weiße Linie zubewegten.

»Aber ein Geschenk kann ich dir machen. Die Flotte der Trolle ist vernichtet. Riesenkraken, Leviathane und tausende zorniger Wassermänner haben sie auf den Grund der Walbucht gerissen. Nur fünf Schiffe sind uns entkommen. Sie sind gestern, während sich meine Kinder noch sammelten, mit unbekanntem Kurs davongesegelt und durch einen Albenstern auf hoher See geflüchtet.«

Emerelle nahm das kleine schwarze Schiff aus seinen Händen und stellte es zu den wenigen geschlagenen Steinen der Trolle.

»Ich danke dir für deine Morgengabe«, sagte sie lächelnd. »Ich werde leichter schlafen, nun, da ich weiß, dass es von See her keine Bedrohung mehr gibt. Sei mir willkommen im Bündnis, Eleborn, Fürst unter den Wogen.«

Emerelle küsste ihn flüchtig auf beide Wangen. Dann nahm sie ein kleines weißes Schiff aus den Seitenfächern des Falrach-

Tischs und stellte es auf ihre Seite. »Dank dir haben wir die Herrschaft über das Meer zurückerlangt.«

»Ich könnte Gischtpferde die Flüsse und Bäche hinaufschicken. Sie können nicht viele Trolle töten, doch wann immer unsere Feinde ein fließendes Gewässer überqueren, werden sie ihnen einige Schwierigkeiten machen.«

Emerelle dachte kurz über die Option nach. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte ihren Vormarsch nicht aufhalten. Ich möchte unsere Feinde so schnell wie möglich an der Shalyn Falah haben. Wir werden nichts unternehmen, was sie aufhält.«

»Und wenn sie sich dort nicht zum Kampf stellen? Es gibt auch andere Wege ins Herzland.«

»Glaube mir, sie werden dorthin kommen, Eleborn. Das hat wenig mit Vernunft zu tun. Dieses Schlachtfeld ist sehr ungünstig für sie. Dennoch werden sie dort kämpfen, denn sie werden die Erinnerung an ihre einstige Niederlage durch einen glorreichen Sieg für immer tilgen wollen.« Der Fürst unter den Wogen strich sich über den gischtfarbenen Bart. »Du kennst die Zukunft, Herrin. Du wirst es wissen.« Er verbeugte sich.

»Verwehre den Trollen das Meer, Eleborn, und schenke unseren Schiffen günstige Winde. Das wird dein Anteil an unserem Sieg sein.«

Noch einmal verbeugte er sich steif. »Dein Wille wird geschehen, Herrin.« Mit diesen Worten zog er sich zurück.

Wenn er wüsste, wie viele Zukünfte ich sehe, dachte Emerelle niedergeschlagen. Sie betrachtete wieder den Spieltisch. Die Waagschale hatte sich ein wenig zu ihren Gunsten geneigt, doch die Übermacht der Trolle war immer noch erdrückend.

Sie nahm den neuen Spielstein, den sie hatte schnitzen lassen, vom Tisch und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. Er zeigte ein Kind. Alle dreißig Kinder, die auf Alathaias Liste gestanden hatten, waren in der Burg. Emerelle verbrachte jeden Tag einige Stunden mit ihnen. Sie hatten Angst. Sie spürten die Gegenwart der Yingiz in den Schatten, und Nacht für Nacht quälten sie Albträume.

Emerelle dachte an ihre Nächte. Immer wieder stellte sie in Gedanken eine Liste mit den dreizehn Opfern zusammen, die Alathaia gefordert hatte. Und immer wieder verwarf sie die Listen.

Die Königin seufzte. Und dann waren da noch die anderen Listen, die sie Tag für Tag erreichten. Listen von Toten, Verwundeten und Vermissten. Der Blutzoll, den Albenmark für jeden Tag, den der Krieg mit den Trollen fortdauerte, zu zahlen hatte. Wenn die Trolle erst einmal die Shalyn Falah erreicht hätten, würde sogar die Liste der verlorenen Städte mehr als dreizehn Namen tragen. Arkadien war dicht besiedelt. An der Heerstraße nach Süden lagen viele wunderschöne Orte. Wie viele Kinder würden sterben, weil sie unter den dreißig nicht wählen konnte?

Wenn sie Melianders Albenstein wieder zusammenfügten, dann könnten sie und Alathaia den zerstörten Albenpfad wiederherstellen. Wenn das goldene Netz geflickt war, dann konnte sie endlich die Burg verlassen und sich mit aller Kraft den Trollen widmen. Doch solange niemand sagen konnte, ob die Yingiz zu tausenden durch die Lücke brachen, sobald sie den Palast verließ, wagte sie sich nicht von der Stelle. Die Bilder in Melianders Buch waren unmissverständlich. Wenn die Yingiz kamen, würde Albenmark vergehen.

Emerelle schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, das Land zu spüren. Die beseelten Bäume im Park der Burg, deren Wurzeln einander zärtlich berührten. Die Magie, die Noroelle einst in den kleinen See gewoben hatte, der nicht weit entfernt von der Burg lag. Über all dem lag der Schatten der Yingiz, die bereits hierher gefunden hatten. Sie raubten dem Land von seiner Kraft.

Erleichtert schlug Emerelle die Augen auf. Im Augenblick war es nicht da ... Manchmal lauerte dort draußen etwas. Bisher hatte es sich ihr stets entziehen können. Es beobachtete die Burg, wachte darüber, ob sie noch da war. Mitunter war diese fremde Präsenz für Tage verschwunden. Doch jedes Mal, wenn sie zu hoffen begann, der fremde Beobachter sei fort, kehrte er zurück.

Emerelle setzte den Spielstein, der ein Kind zeigte, auf den Falrach-Tisch zurück. Wenn sie sich zu dem Opfer entschließen könnte, dann würde der Beobachter für immer gehen.

Die Last der Toten

Orgrim betrachtete das Antlitz des toten Königs. Im Fackellicht sahen seine Züge sehr hart aus. Die Falten wirkten tiefer. In den toten Augen spiegelten sich Flammen, obwohl ihr Feuer längst verloschen war. Es war still auf dem Schlachtfeld. Noch immer schneite es, doch der einzige Laut war das Zischen des heißen Pechs, das von den Fackeln in den Schnee troff.

Der Herzog der Trolle versuchte zu begreifen, warum der Herrscher der Menschen ihm das angetan hatte. So lange hatten sie nebeneinander in Frieden gelebt. Nur ihre jungen Krieger hatten gelegentlich miteinander die Kräfte gemessen, doch es waren keine Heere marschiert. Der Himmel war nicht schwarz vom Rauch brennender Städte gewesen — und nun das! Der Mann, dem er sein Weib und sein Kind geschenkt hatte, als er diese dem Tode nahe im Schneesturm gefunden hatte, war gekommen, um ihm Weiber und Kinder zu nehmen! Warum? Orgrim konnte das nicht begreifen! Warum war Alfadas so leicht zum Krieg zu verführen gewesen? Was hatten die Elfen ihm für Gift in die Ohren geträufelt, um seinen Verstand zu blenden?